Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

Einklappen
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge
  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #76
    Ich bin kein Judenfreund, aber was man den Juden antat konnte nur die Billigung eines Sadisten finden, und dabei wußte ich damals noch nicht, und wenn es mir jemand erzählt hätte so würde ich ihn für einen Lügner gehalten haben, daß man Hundertausende vergaste, ihnen dann die Goldzähne ausschlug, den Frauen die Haare abschnitt bevor man sie verbrannte und ihre Asche noch als Kunstdünger verkaufte.

    So verstanden selbst die blutigsten der Bolschewisten nicht ihre Verbrechen nutzbringend zu organisieren, nein – ich wollte mit dieser Partei nichts mehr zu tun haben. Aus ihr austreten konnte ich nicht ohne ein KZ zu riskieren, aber ihr dienen und für sie arbeiten wollte ich nicht mehr.

    Ich stand aber mit solchen Gedanken und mit meiner Überzeugung vom verlorenen Krieg allein da, ich durfte sie nicht äußern und wurde selbst im eigenen Hause als Defätist angesehen. Und das war das Bitterste.

    Ich war damals magenleidend und befand mich in ärztlicher Behandlung. Ich bat meinen Arzt um ein Attest das besagt, daß ich außer meiner beruflichen Tätigkeit keine Nebenbeschäftigung ausüben darf. Er gab es mir und er gab es gern. Mit diesem Attest gelang es mir, von meinem Amt entbunden zu werden und mit dem ich jedes Amt ablehnen konnte. Nie wieder habe ich für diese Partei gearbeitet.

    Ich hatte zwei Söhne. Mein Wunsch war, daß der Ältere Offizier werden sollte. Er wurde es. Nach seiner Ausbildungszeit auf einem Schulschiff und einem Patrouillenschiff, das in der stürmischen Biscaya eingesetzt war, wurde er der U-Boot-Waffe zugeteilt. Als Wachoffizier auf der U 620 durchquerte er die Weiten des Ozeans und versenkte die feindlichen Schiffe. Dreimal fuhr er hinaus, aber nur zweimal kam er zurück. Das seuchenartige Sterben der U-Boote hatte eingesetzt, dem auch sein Boot zum Opfer fiel.
    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

    Kommentar

    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #77
      U 620 blieb verschollen, liegt mit seiner 45 köpfigen Besatzung irgendwo auf dem Grund des Meeres.

      Die Nachricht erhielt ich nicht durch die Post, sondern ein brauner Amtswalter brachte mir das Schreiben der Marine-Dienstleitstelle. Mit albernem Gefasel suchte er mich zu trösten, ich merkte, daß es ein eingelerntes Sprüchlein war, denn es war seine Aufgabe, diese Mitteilungen den Angehörigen Gefallener zu überbringen und sobald er in einem Elternhause auftauchte, wußte man schon, daß der Krieg wieder ein Opfer gefordert hatte.

      Die Seekiste meines Sohnes mit seiner Hinterlassenschaft, bestehend aus Uniformstücken, Büchern und seinen Auszeichnungen wurde mir zugeschickt – und dann von aus dem KZ entlassenen Juden gestohlen.

      Mein zweiter Sohn ist gehbehindert und nie glaubte ich, dass er eingezogen werden könnte. Aber er wurde eingezogen. In einer Oberschlesischen Garnisonstadt erhielt er seine Ausbildung. Und dann kamen seine Briefe, die ein einziger Hilferuf waren. Ich wollte mich selbst über seine Lage unterrichten und fuhr zu ihm. Ich kam gerade zurecht, um zu sehen, wie er auf dem Kasernenhof herumgejagt wurde. Unter den Letzten einer Abteilung sah ich ihn, wie er versuchte, hinkend Schritt zu halten, wie er von seinen Hintermännern gestoßen und getreten wurde, wie er mit verzweifeltem Gesicht vergeblich versuchte, es den andern gleich zu tun. Er wußte, daß ihm auch heute eine Stunde Nachexerzieren drohte.

      Ich hatte genug gesehen. Mit Grimmim Herzen fuhr ich zurück und schrieb - an den Führer. Ich schilderte ihm den Tatbestand so wie ich ihn gesehen hatte. Ich forderte nicht, ihn zu entlassen sondern ihn an einer Stelle einzusetzen, der seiner körperlichen Mängel entsprechend auch gewachsen sei. Einen Erfolg versprach ich mir nicht, aber ich war auf unangenehme Folgen für mich gefaßt. Ich hatte mir meinen Grimm vom Herzen geschrieben und das befriedigte mich.

      Doch sieh da, nach kurzer Zeit erhielt ich die Nachricht, daß mein Sohn einer Ärzte-Kommission vorgestellt werden würde. Nach einer weiteren Woche erhielt ich den Bescheid, daß mein Sohn einem Reservelazarett meines Wohnortes zugeteilt worden sei.

      So viel Entgegenkommen hatte ich nicht erwartet. Der Einsicht des Führers hatte ich dies kaum zu verdanken, er wird mein Schreiben nicht gelesen haben, wohl aber den militärischen Diensstellen.

      Dann kam der schon lange von mir erwartete Zusammenbruch. Ich verlor meine Existenz und wand mich ein Jahr lang zwischen den Schikanen russischer und polnischer Dienststellen hindurch und als es unerträglich wurde, packte ich mein bescheidenes Bündes und ging nach Westen.

      Nun bin ich ein alter Mann geworden und warte auf den Tod, der schon so oft seine Knochenhand nach mir ausstreckte, der aber immer danebengriff. Das erste Mal streckte er sie mir aus einer Maschine heraus faßte mich und wollte mich hinein ziehen. Aber ich entriß sie ihm, wenn auch mit zerschlagener Hand: Noch ein zweites Mal wollte er mich in eine Maschine zerren, aber nur eine Narbe erinnert erinnert an diesen Versuch. Auch tief unter der Erde lauerte er mir auf. Als in dem Salzschacht Justus II bei Straßfurt eine Strecke zu Bruch ging und 42 Kumpel begrub, hatte ich eine Stunde zuvor dort gearbeitet. In Winterfeld schickte er einen Wilddieb, aber der schoß ungenau. In Römershof wartete er vergebens auf mich. Ich hatte mit zwei Bekannten eine Segelpartie auf der Düna vereinbart. Um 2 Uhr sollte ich dort sein, wurde aber aufgehalten. Als ich mit halbstündiger Verspätung am Treffpunkt eintraf, suchte man bereits ihre Leichen. Sie hatten nicht auf mich gewartet. Im Smolna-Institut hatte er mich übersehen und als er mir vier Rotgardisten auf den Hals schickte, wurden diese von einer beherzten Schwester verjagt.

      So bin ich ihm immer wieder entwischt und bin zu der Überzeugung gekommen, daß mir in meinem Schicksalsbuch ein Sterben im Bett vorgegeben ist. Da dies das übliche und normale Ende ist, warum sollte ich davon abweichen? Wenn auch mein Leben manchmal die normalen Wege verließ und Seitensprünge machte, nun zu solchen Sprüngen bin ich nun schon zu alt geworden, nur die Erinnerung an sie ist geblieben und das Bewußtsein, daß sie wohl manchmal gewagt, aber nie unehrenhaft waren.

      Im Kreise der Familie meiner Tochter lebe ich nun ruhig und umsorgt dahin bis die Uhr abläuft und ich den Spaten aus der Hand lege.
      Er starb am 09.10.1962
      Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

      Kommentar

      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #78
        Und nun stöbere ich weiter in diesem guten informativen Forum, es gibt noch so viel zu lesen!
        Weiterhin gute genealogische Funde!

        Helen

        Kommentar

        • AlAvo
          • 14.03.2008
          • 6277

          #79
          AW: Aus dem Tagebuch eines alten Mannes

          Hallo liebe Helen,

          herzlichen Dank für das Einstellen der Auszüge aus dem Tagebuch Deines Großvaters!!!

          Mit großer Spannung laß ich, Zeile für Zeile, über das Schicksal eines menschlichen Lebens. Diese Zeilen haben mich dennoch sehr berührt, da diese eindringlich vor Augen führen, was unsere Großeltern-Generation erleben und erdulden musste!

          In diesem Sinne...
          ...noch einmal vielen Dank für Deine Bemühungen!!


          Viele Grüße
          AlAvo

          War Mitglied der Lettischen Kriegsgräberfürsorge (Bralu Kapi Komiteja)

          Zirkus- und Schaustellerfamilie Renz sowie Lettland

          Reisenden zu folgen ist nicht einfach, um so mehr, wenn deren Wege mehr als zweihundert Jahre zurück liegen!


          Kommentar

          • Fiehn
            Erfahrener Benutzer
            • 16.09.2008
            • 800

            #80
            Danke für die ganze Mühe des Einstellens. Es war ein umfassender und fesselnder Bericht. Unsere Vorfahren mussten wegen der Kriege einiges erdulden und erleben. Da bin ich ganz froh, dass wir (zumindest für unsere Verhältnisse) in einer friedlichen Zeit leben.
            Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
            Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

            FN meiner Forschung

            Meine Orte

            Kommentar

            • gudrun
              Erfahrener Benutzer
              • 30.01.2006
              • 3266

              #81
              Hallo Helen,

              ich möchte mich auch nochmal bedanken für das Einstellen dieses Lebensberichtes.
              Ich bin froh, in einer (für uns) friedvollen Welt zu leben, was leider nicht überall auf der Welt so ist.

              An Hand Deines Berichtes kann man sich vorstellen wie es unseren Eltern und Großeltern ergangen ist.

              Viele Grüße
              Gudrun

              Kommentar

              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #82
                Hallo, ich habe in den letzten Monaten eine Ergänzung zum Leben in Russland, hier speziell in St. Petersburg aus gleicher Zeit gefunden. Ich fand es interessant zu lesen, wie sich das Leben in Petersburg parallel zu dem meines Großvaters wie geschildert, abgespielt hat. Es sind zwei Welten die beschrieben werden und die sich ergänzen.

                Es ist die Erzählung von Frau Lilli Hoppe, die ich mit fast 100 Jahren kennen lernte und die mir aus ihrem Leben erzählte. Leider ist sie inzwischen verstorben, mit Genehmigung ihrer Tochter darf ich ihr Leben in St. Petersburg nach ihren Aufzeichnungen hier veröffentlichen. Vielleicht mag es der ein oder andere wieder lesen. Ich beginne ein neues Thema „Leben in St. Petersburg zur Zarenzeit nach persönlichen Erinnerungen“.
                Helen

                Kommentar

                • Fiehn
                  Erfahrener Benutzer
                  • 16.09.2008
                  • 800

                  #83
                  Hallo Helen,

                  das ist bestimmt wieder ein interessantes Thema. Freue mich schon auf diesen Zeitzeugen-Beitrag.

                  Gruß Melanie
                  Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                  Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                  FN meiner Forschung

                  Meine Orte

                  Kommentar

                  • HGHerrmann
                    Erfahrener Benutzer
                    • 28.10.2012
                    • 178

                    #84
                    Tagebuch

                    Eine fesselnde Lebensgeschichte, gut geschrieben.
                    Diese Geschichte wäre es wert, als kleines Buch heraus gegeben zu werden.
                    Denn ich finde es schade, das es nur von wenigen entdeckt und gelesen wird.

                    Danke für deine Veröffentlichung.
                    Suche Familien Herrmann bislang in Baden und USA und Schweinefleisch in Thüringen und Sachsen.

                    Kommentar

                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #85
                      Weitere Aufzeichnungen

                      Hallo liebe interessierte Leser, nachdem ich mit dem Tagebuch im Baltikum angefangen und dann hier fortgesetzt hatte, fand ich noch einige Aufzeichnungen meines Großvaters "27 Jahre später". Er erzählt aus der Zeit ab ca. 1933, den Kriegsgeschehnissen und von seiner Flucht aus seiner Heimat Schlesien.

                      Ich setze das Tagebuch im Forum „Schlesien“ fort.

                      Kommentar

                      Lädt...
                      X