Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #16
    Hexa, dann will ich schnell noch den Rest dieses Ereignisses schreiben. Mir kommt die Szenerie vor wie ein Märchen aus dem Mittelalter. Ich denke, man musste bei den einfältigen Geistern nicht besonders klug sein, aber dass sogar ein Lehrer solche abergläubische Phantasien hatte ...trotzdem läuft nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt.
    ---
    Die nächste Vollmondnacht war gekommen, der Wind heulte in den Wipfeln der Bäume des nahen Waldes und jagte Wolkenfetzen über die runde Mondscheibe und die dumpfen Rufe des Uhus klangen schauerlich über die Felder. In einem Graben unweit der drei Bäume hockend, wartete ich der Dinge, die sich bald abspielen sollten. Bald sah ich die drei Männer kommen, von denen zwei auf ihren Schultern Handwerkzeuge trugen. Unter den 3 Bäumen warteten sie und ich bemerkte, dass Streich eifrig auf sie einredete, ihnen die letzten Verhaltensmaßregeln gab. Da – vom Wind gejagt und zerrissen, hallten vom Gutshof 12 Schläge herüber. Mitternacht – Beginn der Geisterstunde. Die Männer griffen zu Hacke und Schaufel und bemühten sich, den großen Stein zu beseitigen, unter dem der Schatz liegen musste. Aber er steckte tief in der Erde. Sie arbeiteten wie die Besessenen, denn sie hatten ja nur 1 Std. Zeit, mit Ablauf der Geisterstunde musste das Werk getan sein.

    Da – vom Himmel herab zuckte plötzlich ein Blitz, der krachend auf dem Stein einschlug. Entsetzt hielten die Männer in ihrer Arbeit inne und als dann noch feurige Schlangen sich knatternd um ihre Beine wickelten und feurige Kugeln um sie herum sprangen, warfen sie ihre Werkzeuge weg und suchten in panischem Schrecken das Weite. Der Mutigste von ihnen war Streich. Nach kurzer Flucht blieb er stehen, ja er versuchte sogar, sich dem Stein wieder zu nähern. Als aber ein neuer Blitz unmittelbar an ihm vorbei sauste, gab auch er auf und in langen Sätzen floh er über das Feld.

    Als ich mich nun dem Stein näherte, rutschte ein Mann von einem der Bäume herab, einer meiner Assistenten, den ich mit Fröschen und Raketen vorher auf den Baum geschickt hatte. „Die sind kuriert, die suchen keine Schätze mehr.“ Das war auch meine Meinung, aber ich hatte nicht mit dem Mut Streichs und seinem Glauben an sein kluges Buch gerechnet.

    4 Wochen später. Da kommt morgens einer der Buschwächter, die wöchentlich einmal vorsprechen und Bericht erstatten mussten, zu mir und sagte: „Eben habe ich dort, wo die drei Bäume stehen, den Viehhirte Streich in einem Loch liegend gefunden. er ist tot, man hat ihm den Schädel eingeschlagen.“ Mein erster Gedanke galt dem Schmied. An der Stätte de Tragödie angekommen, sah ich ihn liegen, mit aufgerissenen Augen, neben ihm sein 6. u. 7. Buch Mosis. Der arme Teufel war an seiner Kunst zugrunde gegangen und ein anderer war daran zum Mörder geworden. Aber wo war er? Ich musste ihn suchen. In seiner Wohnung war er nicht, seine Frau meinte, er sei schon am frühen Morgen aus dem Haus gegangen, er war in der Schmiede, er hing an einem Haken an der Wand. Und wo war der dritte Mann, der doch sicherlich wieder dabei gewesen war? Ich fand ihn in seiner Wohnung auf einem Stuhl hockend, neben ihm seine weinende Frau.

    Er erzählte, trotz eindringlichen Zuredens Streichs hätten sie sich geweigert, diese gefährliche Sache noch einmal mitzumachen. Er hätte sie dann aber doch zu überzeugen gewusst, dass der beste Beweis für das Vorhandensein des Schatzes dessen Verteidigung durch den Teufel sei, durch dessen höllische Künste sie sich hätten vertreiben lassen. er hatte ihnen versichert, dass er Feuer und Schwefel besprechen und Gott ihm den Sieg über den Teufel schenken würde. Sie hätten nun in der letzten Nacht, in der Vollmondnacht, mit festem Willen, sich weder durch Feuer noch Donner aufhalten zu lassen, wieder nach dem Schatz gegraben. Wider alles Erwarten habe sie der Teufel in Ruhe gelassen und nach größter Anstrengung sei es ihnen gelungen, den Stein aus der Grube zu wälzen. Und sie hätten weiter gegraben, aber nichts gefunden als Steine und Erde. Das habe den Schmied rasend gemacht und er hätte Streich in blinder Wut mit einer Brechstange erschlagen.

    Mein so klug erdachtes Feuerwerk hatte also genau das Gegenteil bewirkt, ich hatte Streich verkannt. Ich konnte mir nicht helfen, ich fühlte Respekt und Bewunderung für diesen Menschen, diesen verkommenen Säufer mit dem Kämpferherzen. Wären ohne das Feuerwerk die beiden noch am Leben oder wären sie vielleicht schon 4 Wochen früher umgekommen? Um mein Gewissen zu beruhigen, habe ich mir letzteres eingeredet. Lange Zeit haben mich zweifelnde Gedanken verfolgt.

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    • Fiehn
      Erfahrener Benutzer
      • 16.09.2008
      • 800

      #17
      Schrecklich! Wie´s wohl weitergeht?


      Beim Beitrag von heute 16:56 habe ich mir gedacht, dass da noch etwas vorher fehlt. Oder ist das die Pause ("drei Narren") vom Tauschhof?
      Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
      Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #18
        Ja Fiehn, diese Äußerung (es gab aber auch solche, die nichts erschüttern konnte, die durch närrisches Benehmen und unverständliches Tun...) erinnerte ihn an manchen Narren, dem er begegnet war und von dem er nun kurz erzählen wollte und deshalb den Tauschhof kurz verlässt.

        Trotz der gruseligen Geschichte
        Gute Nacht!
        Helen

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        • Fiehn
          Erfahrener Benutzer
          • 16.09.2008
          • 800

          #19
          Wünsche ebenfalls eine gute Nacht. Bin schon auf die nächsten Geschichten gespannt...
          Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
          Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #20
            Von einem anderen Unikum, das mir begegnete, möchte ich erzählen:

            Beim Einmarsch der Russen 1945 wurden der Pächter eines der Kirche gehörenden Gutes und seine Frau erschossen bzw. erschlagen. Auf Veranlassung des Prälaten Dr. Monse in Glatz wurde ich vom zuständigen Kreislandwirt, es war mein Bruder, mit der Verwaltung des herrenlosen Gutes betraut. In diesen turbulenten Tagen erschienen oft Russen auf dem Gute und die Begegnung mit ihnen verlief unterschiedlich, mal harmlos, mal gefährlich, meist war ich nach ihrem Besuch wieder etwas ärmer geworden. Eines Tages erschien ein russ. Major. Er durchstreifte alle Zimmer des großen Herrenhauses und als er ein Klavier entdeckte, das die Plünderung leidlich überstanden hatte, setzte er sich sogleich davor und spielte. Nun, ein Liszt oder Rubinstein war er nicht, er benutzte nur einen Finger, der recht oft auf Abwege geriet. Sein stümperhaftes Klimpern wurde aber durch große Ausdauer ersetzt. Als er mich in einer Pause etwas fragte und ich ihm in seiner Sprache antwortete, wollte er wissen, wieso und wo ich das gelernt habe, überschüttete mich mit Fragen, wie ich über sein Volk und Stalin dächte. Ich drückte mich um diese unbequemen Fragen herum, so gut ich konnte aber er bemerkte wohl bald, dass ich seinen politischen Glauben nicht teilte und er beschloss deshalb, mich politisch umzuerziehen. Bevor er mit der ersten Stunde begann, forderte er mich auf, ihn in das Dorf zu begleiten, da er mich als Dolmetscher brauche. Ich sah ein, dass ich eine Dummheit begangen hatte, als ich ihm meine russ. Sprachkenntnisse verriet. Ich nahm an, dass er im Dorfe eine der üblichen Repressalien vorhabe, bei denen ich ihm assistieren sollte, aber ich irrte mich. Im ersten Bauernhaus trafen wir auf die Bauersfrau, die ängstlich seine Befehle erwartete. „Bitte ein Glas warme Milch“, ließ er mich übersetzen. Schnell erhielt er sie, die er mit höflichem Dank entgegen nahm. Er trank sie mit Behagen und führte mich dann zum nächsten Hof und wieder forderte er „Bitte ein Glas warme Milch.“ Ohne weitere Forderungen gingen wir zum nächsten Hof, wo er wieder um ein Glas warme Milch bat. So ging es bis zum 6. Hof, wo er das letzte Glas Milch trank. dann verabschiedete er sich von mir und versprach, am nächsten Tage wiederzukommen. Der Mann interessierte mich, hatte ich doch in diesem Krieg noch keinen milchtrinkenden Russen kennen gelernt. Die erste Frage seiner Landsleute war doch immer die nach Wodka und eingemachten Früchten.

            Am anderen Tage erschien der Major wieder. Er leitete den Besuch mit einer Musikstunde ein, anschließend begann mein Unterricht. Er fing bei Marx und Engels an, sprach über Sozialismus, Leninismus, Stalinismus und andere –ismusse und gab sich die größte Mühe mir den Bolschewismus zu erklären. Seine Ausdruckweise war derart gewählt, dass ich das wenigste seines Vortrages verstand. Ich hielt ihn für einen Gelehrten, einen Professor o. ä., der nur vorübergehend oder aus Versehen die Uniform eines Kriegers angezogen hatte, mir schien das Habit eines Dekans einer Hochschule oder die Kutte eines Ordensbruders, eines Missionars, der die Heilslehre Moskaus verbreitete, passender zu sein als die eines Offiziers der russ. Soldateska.

            Während seiner begeisterten Schilderung Lenins und seiner Persönlichkeit fragte ich ihn einmal, ob er auch wisse, dass Lenin während seiner Reden immer die Linke in seine Hosentasche steckte und nur heraus nahm, wenn er einen Satz besonders unterstreichen wollte und ob er wisse, dass Trotzki immer seine liebe Not mit seinem Klemmer hatte. Auf seine erstaunte Frage, woher ich das wisse, sagte ich ihm, dass ich das selbst gesehen habe, damals, als er sich noch mit seinem Vorgänger Kerenski herumschlagen musste und ich zugegen war, als er die Besatzung des Kreuzers ‚Semtschuk’ einsetzte, um Kerenzki samt seinem Weiberbataillon aus dem Winterpalast zu vertreiben. Ganz aufgeregt folgte er meinen Schilderungen der Ereignisse jener Tage, die die Herrschaft des Bolschewismus begründeten, der tägl. Straßenkämpfe mit wechselnden Erfolgen, der Kundgebungen, Versammlungen und Reden, meines Eindringens in das Monainstitut, dem Sitz Lenins, das ich für so harmlos hielt und sich als so gefährlich herausstellen sollte und noch viele andere Erlebnisse jener Tage. Er gab offen zu, mich ob meiner Erlebnisse zu beneiden, hätte er doch Lenin nur als Mumie in seinem Glassarg im Mausoleum in Moskau gesehen, und er schätze mich glücklich, dass ich Zeuge der Geburtswehen des heutigen mächtigen russischen Staates sein durfte. Er machte sich auch eifrig Notizen, die er wohl später bei seinen Vorträgen verwenden wollte.

            Dann begann wieder die Milchtour durch das Dorf. So ging es auch die nächsten zwei Wochen weiter. Seine Besuche wurden mir lästig, hielt er mich doch in meiner Arbeit auf, und ich versuchte ihm zu entgehen, indem ich mich zur Besuchsstunde aufs Feld begab. Aber er schickte einen Boten nach mir oder suchte mich selbst auf dem Felde. Obwohl er seine Milchtour allein gehen konnte, da sein Glas Milch schon immer bereit stand, ging er nie ohne mich.

            Im Leutehaus des Gutes wohnten drei Frauen mit ihren Kindern, deren Männer irgendwo tot oder gefangen waren und eine Witwe mit einer 13jähr. Tochter. Das Mädchen war siech, es hatte mit ihrer Mutter Furchtbares erlebt. Sie waren einer Horde Russen in die Hände gefallen, die sie einer tierischen Prozedur unterworfen hatten. Eines Tages befanden sich die Frauen im Keller und waren mit dem Sortieren von Kartoffeln beschäftigt, wobei ich Zeuge ihrer angeregten Unterhaltung wurde. Wer Hoffrauen kennt, der weiß, dass sie kein Blatt vor den Mund nehmen, dass sie nicht prüde sind und die Dinge beim Namen nennen.

            (In Langenbielau hatte ich einmal einen Eleven, der auf dem Felde die Frauen beaufsichtigen musste. Der kam eines Tages mit Tränen in den Augen zu mir und sagte: „Herr Inspektor, ich muss diesen Beruf aufgeben, ich kann die schamlosen Reden der Weiber nicht mehr länger mit anhören“, sprach’s, packte seine Sachen und fuhr nach Hause.)

            Im Keller also hörte ich folgenden Dialog:

            „Na Minna, heute bist du dran. Vorige Nacht war er bei mir.“ „Ja, ich weiß. Hoffentlich bringt er mir was Schönes mit. Das vorige Mal hatte er nur ein Säckel Mehl und das habe ich doch selber.“ „Mir hat er ein großes Stücke Flesch gebracht, es war aber kein Pferdefleisch, es war von em Ochsa“, sagte die Dritte. “Ich hab’ gestern en langa Zerpel Worscht gekriegt, das is a gor feiner Mann.“ „Ohja, und a höflicher Mann, er bedankt sich jedesmol, wenn er wieder geht.“ „Bei mir is er doch amol aus’m Bette rausgekrocha und hat die Wiege geschaukelt, bis meine kleine Seffla wieder schlief.“
            „Mich woderts blos, warum er immer über die Leiter durchs Fenster kommt, er könnte doch über die Treppe rauf durch die Stubatüre kommen, do brauchte er doch nich immer die Leiter wider fortschleppa.“
            „Denkt euch blos, letzte wullte er zwee Tage hintereinander zu mir komma. Wie er ans Fenster kloppte und ich ufmachte, da sagte ich ihm, das doch die Schmidt’n dran sei. Do machte er schnell wieder die Leiter nonder und setzte sie on dein Fenster. Er hatte sich blos verirrt.“ „Ich möchte blos wissen, wo er das alles hernimmt, man müsste doch denken, dass er amol schlapp machen müsste, aber er ist doch immer recht fleißig.“
            „Och, der macht nicht schlapp, der trinkt doch alle Tage viel Milch, und Milch macht stark.“

            Bei der Wendung dieses Gespräches wurde ich hellhörig und fragte: „Von wem sprecht ihr eigentlich?“ Da lachten sie schallend und die Schmidt’n sagte: „Nu, den kennen Sie doch gut, Sie gehen doch alle Tage mit ihm Milch trinken.“

            Ich war starr. Das hatte ich nicht erwartet. Dieser Offizier, den ich für einen hochgebildeten Mann hielt, besuchte also jede Nacht in ganz bestimmter Reihenfolge eine der drei Frauen, eine der Wissenschaftler bezeichnenden, eine pedantisch genaue Regelung seiner sexuellen Bedürfnisse. Eines Tages blieb er aus und kam auch nicht wieder.

            Noch von einem dritten närrischen Kauz will ich berichten. Als junger Mann befand ich mich wegen einer zerschlagenen Hand im Krankenhaus, dem eine Irrenanstalt angeschlossen war. Die beiden Anstaltsgebäude trennte ein großer Garten, in welchem eine schnurgerade Reihe Stachelbeersträucher stand. Nur ein Strauch machte eine Ausnahme, durch einseitiges Wachstum störte er die gerade Linie.

            Jeden Morgen, Punkt 9 Uhr, trat aus dem gegenüberliegenden Haus, ein hochgewachsener Mann mit energischen Gesichtszügen, blieb vor den Stachelbeersträuchern stehen, zog sich die Handschuhe an, nahm stramme Haltung an und aus seinem Munde scholl das laute Kommando: „Stillgestanden! Richt’ Euch!“ Darauf trat er zum Flügelmann der Sträucher, der die Richtung verdarb. Wütend eilte er zu diesem und eine Schimpfkanonade donnerte auf ihn herab, die gewöhnlich mit der Androhung einer exemplarischen Bestrafung wegen fortgesetzter Schlamperei schloss. Dann begab er sich wieder vor die Front und nun mussten die armen Sträucher Griffe kloppen bis ihm die Schweißtropfen von der Stirne rannen. Sie mussten sich hinlegen, aufspringen, wieder hinlegen, aufspringen, stillstehen. dann kam das Kommando: „Ganze Abteilung marsch – marsch!“ wonach er schnell zur Seite sprang, um von den vorwärts stürmenden Sträuchern nicht überrannt zu werden. Nachdem er sie zurückbeordert hatte, ließ er es für heute genug sein. Er zog die Handschuhe aus und wandte sich an irgend einen der Zuschauer, ein Gespräch über alltägliche Dinge beginnend und niemand hätte auf den Gedanken kommen können, dass er ein armer Geistesgestörter sei, mit dem man sich über jedes Thema anregend unterhalten konnte.

            Doch nun zurück zum Tauschhof.

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            • Fiehn
              Erfahrener Benutzer
              • 16.09.2008
              • 800

              #21
              Sehr interessant, was der Krieg aus den Leuten machte (Person in der Irrenanstalt) oder war der Krankenhausbesuch vor dem Krieg?

              Vielleicht wurde der Major an die Front geschickt und konnte deswegen nicht mehr zum Stell-dich-ein kommen?

              Lese gerne die weiteren Berichte.
              Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
              Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

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              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #22
                Fiehn, als er den dritten seltsamen Kauz erlebte, war er jung, da lebte er in Schlesien. Den Hintergrund für so ein ausgeprägtes krankhaftes Militärgehabe kennen wir nicht.
                VG Helen
                ---

                Es war am 14. August, als wir merkten, dass irgend etwas in der Luft liegt. Offiziere kamen, beratschlagten, gingen wieder. Plötzlich war das Gerücht da, dass sich Amerika für uns verwendet und unsere Freiheit verlangt habe. Wo es hergekommen war, wusste niemand, auch nicht, wer das Extrablatt hereingeschmuggelt hatte, das von Hand zu Hand ging. Dieses meldete, dass Königsberg gefallen sei, die deutsche Armee völlig zerschlagen und der Weg nach Berlin frei sei.

                Damals wussten wir noch nicht, wie künstlich ‚Stimmung’ gemacht wird und waren durch diese Nachricht völlig niedergeschmettert. Nur der Glaube an unseren Sieg und zwar an einen schnellen Sieg hatte uns hochgehalten und alle Beschwerden gern ertragen lassen. Und nun brach alles zusammen. Ich kann wohl sagen, dass es der schwärzeste Tag meiner ganzen Gefangenschaft war.

                Am nächsten Tage, am 15. Aug., ertönte bereits früh um 5 Uhr das Signal, das uns zum Appell rief. Schleunigst krochen wir aus den Fellen und eilten auf den Sammelplatz, neugierig, was man schon so früh von uns wolle. Es wurde uns eröffnet, dass wir freigelassen würden, uns aber sofort auf eigene Kosten nach Orsk, einem Ort 300 Werst weiter östlich begeben müssten. Ob wir auch dort frei sein würden, wussten die Offiziere nicht. Wir weigerten uns, auf eigene Kosten zu fahren und – blieben. Das kam der Lagerverwaltung recht unerwartet. Es wurde hin und her telefoniert, und schließlich kommandierte man 300 Mann zur Abreise nach Orsk, darunter Haage und Höhne. Da wir uns aber das Wort gegeben hatten zusammen zu bleiben, so meldeten wir uns, also Poley und ich, freiwillig. Wie die Zukunft zeigte, hatten wir gut daran getan.

                Wir marschierten nun, von Soldaten eskortiert, wieder über Steppe nach Orenburg zurück in den Hof des Polizeigebäudes. Dort war von Orsk keine Rede, sondern es wurde uns zu unserer Freude mitgeteilt, dass wir uns in der Stadt eine Wohnung suchen könnten, diese morgen anmelden sollten, sonst aber frei leben könnten. Das war für uns eine unerwartete Freude, mit der wir keineswegs gerechnet hatten.

                Die Wohnungssuche gestaltete sich recht schwierig. Überall, wo ein Zettel am Fenster verkündete, dass ein Zimmer zu vermieten sei, fragten wir an, aber meistens wurde uns die Tür vor der Nase zugeschlagen, wenn man merkte, wer wir waren. „Wir vermieten nur an Russen", wurde uns mehrmals gesagt. „Verfluchte Deutsche!“ klang es uns an einer Tür entgegen und schwupp, knallte sie zu. Auf unserer Suche gerieten wir auch in einige Bordelle, welche ihre Kundschaft durch ein unschuldiges Schild ‚Hier ist ein Zimmer zu vermieten’ anlockten. Die netten Damen waren tolerant genug, uns nicht auch gleich auf die Straße zu setzen, sondern versprachen, uns den Aufenthalt bei ihnen so angenehm wie möglich zu machen. Da wir aber andere Sorgen hatten, versprachen wir, ein anderes Mal wieder zu kommen. wir erhielten noch jeder eine Karte, eine Art Empfehlungsschreiben, damit wir uns, falls einmal nötig, an sie erinnern sollten. Ich kann wohl sagen, mancher hat sich dieser Empfehlung recht oft erinnert und auch Poley zeichnete sich auf diesem Gebiet besonders aus. Als er später auf seinen amurösen Streifzügen ein Haus entdeckte, welches nur mit Mohammedanerinnen besetzt war und dabei feststellte, dass diese einer religiösen Vorschrift entsprechend am ganzen Körper, mit Ausnahme des Kopfes, rasiert waren, konnte er von dieser Nuance gar nicht genug erzählen.

                Am Abend gelang es uns, noch ein Zimmer für uns Vier zu finden. Das einzige Bett wurde wieder verlost, aber ich gewann es nicht und so schlief ich eben wieder auf dem Fußboden. Meine Gefährten kauften sich später Matratzen, während ich die Bettstelle beschlagnahmte und in ihr, aber auf einem Brett, neun Monte lang schlief.
                Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #23
                  Am nächsten Morgen stellten wir uns bei der Polizei ein, um unseren Aufenthaltsschein in Empfang zu nehmen, auf Grund dessen es uns erlaubt wurde, in der Stadt frei zu leben. Wir hatten uns nun tägl. einmal bei der Polizei zu melden, mussten nach 6 Uhr abends im Haus bleiben, durften nicht mehr als drei Mann zusammen gehen und auf der Straße nicht Deutsch sprechen.

                  Am gleichen Tag schrieb ich an meine Frau und an Baron v. Wolff. Drei Tage später erhielt ich telegrafische Antwort. Der Baron teilte mir mit, dass sich der Zustand meiner Frau verschlimmere, das Kind aber gesund sei.

                  Während der nächsten Tage kamen 1300 Männer, Frauen und Kinder aus Ostpreußen an, darunter Greise von 80 Jahren und Kinder, deren Eltern unterwegs umgekommen waren. Sie wurden im Tauschhof untergebracht. Die Stadt war mit Gefangenen überfüllt und wir befürchteten, dass unser Bleiben hier nicht lange sein würde. In dem Pastorat hatten 200 Mann Unterkunft gefunden. Sie schliefen in der ev. Kirche und in den Schulräumen. Es fanden sich auch deutsche Kolonisten ein, welche versprachen, gegen geringe Kosten den Unterhalt zu gewähren und so sah man auf allen Straßen Gespanne derselben, welche die Gefangenen mit Erlaubnis der Polizei zu sich hinaus in die Steppe entführten. Wir ärgerten uns, dass nicht auch wir bei einem solchen Landsmanne untergekommen waren, aber zu Unrecht, denn kurze Zeit später wurde der Aufenthalt bei ihnen verboten und alle, die einige angenehme Tage verlebt hatten, mussten nun wieder in die Stadt zurück.

                  Da aber die Überfüllung in der Stadt immer schlimmer wurde, schickte man einige Trupps nach Troitzk, Orsk und andere östl. Orte. Von der Verschickung in Kosakendörfer sah man noch ab, da man der Gutmütigkeit der Kosaken selbst nicht allzu viel Vertrauen schenkte.

                  Die eingeborene Bevölkerung trat uns meist gehässig gegenüber. Sobald wir uns anfangs auf der Straße zeigten, wurden wir verhöhnt. Kleine Kinder liefen uns nach und riefen: “Die Eurigen kriegen Hiebe“ oder „Wilhelm ist nach Amerika“. Die uns betreffenden Bestimmungen wurden nach und nach verschärft. Das Betreten öffentlicher Lokale wie Cafés, Theater, Kino sowie der öffentlichen Anlagen und das Sitzen auf den Bänken derselben wurde verboten und mit schweren Strafen bedroht. Aber gerade durch dieses Verbot übten sie eine besondere Anziehungskraft auf uns aus.

                  Die erste Zeit unserer Anwesenheit in Orenburg bot uns die Stadt viel Interessantes und Neues. Orenburg liegt hart an der asiatischen Grenze und hatte 150 000 Einwohner. Fast täglich unternahmen wir einen Spaziergang nach – Asien und kehrten abends wieder in unser heimatliches Europa zurück. Die Mehrzahl der Einwohner bestand aus Asiaten. Die Kaufleute und Händler waren Tataren, die Arbeiter Kirgisen und Russen. Auch vereinzelte deutsche Kolonisten wohnten in der Stadt, sie waren Handwerker oder Kaufleute. Mit Militär war die Stadt sehr stark besetzt und zwar lagen in ihr hauptsächlich Kosaken. Der größte Teil der Orenburger Kosaken aber lebte auf den Dörfern, wo sie Ackerbau betrieben. Sie lebten dort wie etwa unsere Feuerwehr, immer zum Einsatz bereit und wurden mehrmals im Jahre zur Übung eingezogen. Die Stadt besitzt zwei Hauptstraßen von gewaltiger Breite, die auf beiden Seiten asphaltiert sind. Andere haben ein gefährliches Feldsteinpflaster, einige sind bei anhaltendem Regenwetter fast unpassierbar. Die Häuser sind niedrig und tragen fast ausnahmslos grüne Blechdächer. In den Vorstädten sind dieselben aus Holz gebaut. Das schönste Bauwerk ist die Kathedrale. Stark ist der Islam vertreten, was die vielen Moscheen bezeugen. Das Leben auf der Straße trägt einen völlig orientalischen Charakter. Als Zugvieh werden Pferde und Ochsen, meist aber Kamele benutzt. Die Wagen sind ohne die geringsten Eisenteile, kein Nagel, kein Radreifen ist zu sehen. Lange Karawanen durchziehen beständig die Stadt. Ein Kamel ist immer mit dem vorangehenden verbunden, so dass ein Mann bis zu 20 Tiere führen kann. Possierlich sieht es aus, wenn eine solche Kolonne in Trab fällt. Man muss das überwältigend komische Gehopse dieser Passgänger lachen. Glaubt ein Kamel, dass man ihm eine zu große Last aufgebürdet hat, so lässt es sich dies durchaus nicht ruhig gefallen, sondern protestiert dagegen mit beständigem, zornigen Schreien. Wehe dem Fremden, der in die Nähe eines solch gekränkten Tieres kommt. Er wird bestimmt mit einer Ladung stinkender Brühe bespuckt. Ebenso sind sie höchst ungehalten, wenn sie bei großer Kälte arbeiten müssen.

                  Vier Tage nach unserer Freilassung besuchten Poley und ich unser altes Asyl, den Tauschhof. Der vor dem Tor stehende Posten verlangte einen von der Militärverwaltung ausgestellten Erlaubnisschein, der zum Besuch berechtigte. Den hatten wir natürlich nicht. Dafür aber hatte ich einen alten Waffenschein und im Vertrauen auf die Intelligenz des Russen zeigte ich diesen vor. Mit wichtiger Miene musterte er ihn und da er den Adler, wenn auch nur einen einköpfigen sah, ließ er uns passieren.

                  Im Hof befanden sich jetzt 54 deutsche und 4 österreichische Soldaten. Im Speicher und den wenigen noch stehenden Zelten waren die aus Ostpreußen Verschleppten untergebracht. Eine große Anzahl ungarischer Zigeuner war ebenfalls zu sehen. Die Innenwände des Speichers waren von irgend einem Künstler mit den entsprechend ähnlichen Bilden des Kaisers, des Kronprinzen und Kaiser Franz-Josef ausgeschmückt worden. Eine Karikatur des Zaren entfernten wir, da diese die Existenz der anderen Bilder gefährdete. Der Aufenthalt wurde uns aber durch die unverschämte Bettelei der Zigeuner verleidet, so dass wir uns bald wieder nach Europa aufmachten.

                  Am selben Tage wurde mir bei der Polizei, wo ich nach Briefen fragte aufgegeben, mich nach einer Wohnung an einem anderen Orte des Gouvernements umzusehen, da ich Orenburg in den nächsten Tagen verlassen müsse. Da ich aber auf jeden Fall erst Nachricht von zu Hause abwarten wollte, unternahm ich nichts. In den nächsten Tagen wurden tatsächlich viele weitergeschickt. Andere verließen die Stadt freiwillig und zogen auf die Dörfer zu Bauern. Wir Vier blieben und warteten ab. In diesen Tagen kam auch die Nachricht von der Vernichtung der österreichischen Armee, 200 000 Mann sollten gefangen genommen worden sein. Kaiser Wilhelm sollte aus Schrecken darüber wahnsinnig geworden und der alte Franz-Josef wieder einmal gestoben sein. Das Volk und die Zeitungen jubelten. Das Blatt ‚Russkoje slowo’ machte den Vorschlag, Kaiser Wilhelm nach dem Kriege nach der Teufelsinsel zu verbannen, prophezeite, dass den Deutschen Brüssel zu Moskau und die Maas zur Bresina werden würde, der Weg nach Wien liege offen und die Kosaken seien auf dem Wege nach Berlin, und alles weiche vor diesen Helden zurück oder werde unbarmherzig niedergeschlagen. Welch glücklicher, aber kurzer Wahn!

                  Nun kamen auch die ersten Verwundeten an. Sie wurden mit Musik und Blumen empfangen und Tausende umstanden den Bahnhof. Während die Zeitungen immer meldeten, dass die viel gerühmten deutschen Soldaten mit ihren Leistungen weit unter denen der eigenen ständen, erzählten die Verwundeten, dass der deutsche Soldat furchtbar sei und von dem Feuer ganze Regimenter hinweggemäht würden. Als schrecklich schilderten sie die Wirkung der ‚feuerspeienden Elefanten’, die es besonders auf die Kosaken abgesehen hätten.
                  Der allgemeine Siegestaumel erhielt durch die schrecklichen Erzählungen der Verwundeten einen harten Rückschlag, der manchen denkenden Russen mit Sorge erfüllte, uns aber mit neuer Hoffnung.

                  Bis zum 30. August war ich immer noch ohne Nachricht von meiner Frau. Das war mir völlig unerklärlich, hatte doch jeder meiner drei Gefährten bereits mehrere Briefe erhalten. Ich schickte nochmals an meine Frau ein Telegramm mit der Frage, warum sie nicht antworte.

                  Endlich, am 6. Sept. erhielt ich einen von meiner Frau der Pflegerin diktierten Brief. Aus ihm ersah ich, dass sie furchtbar leiden müsse, da nun auch die Kehle erkrankt war. in meiner Ratlosigkeit bat ich Gott, er möge die arme Dulderin erlösen. Und er muss mich wohl erhört haben, denn am anderen Tage teilte mir Baron v. Wolff telegrafisch mit, dass meine Frau gestorben sei. So endete meine einjährige traurige Ehe.

                  Kommentar

                  • Fiehn
                    Erfahrener Benutzer
                    • 16.09.2008
                    • 800

                    #24
                    Das ist ja wirklich schade. Nur ein Jahr Ehe bis zum Tod der Frau. Ich kann richtig das Leid deines Opas herauslesen.

                    Freue mich schon auf die nächsten Berichte.
                    Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                    Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                    FN meiner Forschung

                    Meine Orte

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                    • maria1883
                      Erfahrener Benutzer
                      • 20.08.2009
                      • 896

                      #25
                      Hallo Helen,
                      heute habe ich alles gelesen, woran Du uns teilhaben läßt. Ich habe große Freude an der Ausdrucksweise. Bin gespannt, wie es weiter geht.
                      Liebe Grüße,
                      Waltraud
                      Orte und Namen meiner Ahnen:
                      Neu Wuhrow: Pophal, Golz, Is(s)berner, Gehrke, Draheim, Zuther, Mittelste(ä)dt, Hensel, Bleck
                      Gönne (später Westgönne): Hensel, Bleck, Maronde
                      Steinklippe (Belgard/Schievelbein): wie Westgönne
                      Neudorf: Märtens, Boeck, Schulz, Mallon, Harmel, Manz
                      Pöhlen: Milbradt, Boeck, Dittberner, Kannenberg, Märtens
                      bis auf Steinklippe alles Kreis Neustettin

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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #26
                        Hallo Waltraud, ja er schrieb schnörkellos über das, was das Leben ihm bescherte, vielleicht lässt es sich deshalb leicht lesen. Um den geschichtlichen Hintergrund ein wenig zu verstehen, mussste ich mich erstmal informieren und habe die Zusammenhänge von Verbündeten und Gegnern im 1. Weltkrieg noch immer nicht ganz verstanden. Ich habe mich auch gewundert, warum es tschechische und russische Gefangene gab, wobei die Tschechen noch bevorzugt wurden. Da habe ich noch Aufklärungsbedarf.
                        Schön, dass dich der inhalt auch interessiert.
                        Herzliche Grüße und einen schönen 1. Maifeiertag!
                        Helen
                        ---

                        In der folgenden Zeit verrannen die Tage ohne Abwechslung, eintönig, einer wie der andere. In Folgendem will ich versuchen, unser Tagewerk zu schildern.

                        Vor 8 Uhr morgens verließen wir fast nie unser Lager. Unsere nächste Arbeit, das Waschen war nicht ganz einfach, da uns dazu nur etwa ein Stof Wasser zur Verfügung stand und die Letzten dabei immer schlecht wegkamen. Hierauf bemühten wir uns von der Wirtin den Samowar, die Teemaschine zu bekommen. Auch dies war nicht so einfach. Obwohl wir beim Mieten des Zimmers den Samowar mit ausbedungen hatten, war die Wirtin jeden Morgen aufs neue überrascht, dass wir solch hohe Ansprüche stellten. Bald bedeckten unsern Tisch allerhand Brotsorten und Tüten. In der ersten Woche war das nicht der Fall. Da hatten wir ein gemeinsames Brot, gemeinsamen Zucker usw. Dies Verfahren erwies sich aber als unpraktisch, da Poley für seinen Tee soviel Zucker brauchte als wir anderen zusammen. Haage verdarb sich an dem Brot den Magen, musste also eine besondere Sorte haben und so kamen wir dahin, dass sich jeder das kaufte, was seinem Magen diente und wozu er Geld hatte. Nach dem Frühstück wurde um die zu kaufende Zeitung Skat gespielt. Bis zum Mittag wurde Tagebuch geführt, Briefe geschrieben oder gelesen, hieran schloss sich der tägl. Spaziergang. Zunächst ging es die Hauptstraße entlang bis zur ‚Orenburger Zeitung’, wo die neuen Extrablätter gelesen wurden. Weiter ging es zur Polizeiverwaltung. Haage war dort immer recht vorsichtig. Er betrat das Gebäude erst, wenn er sich überzeugt hatte, dass man dasselbe auch wieder ungehindert verlassen konnte.

                        Auf dem Hofe des Polizeigebäudes wurden zunächst die Verzeichnisse der angekommenen Briefe durchgesehen. Nachdem wir unserer täglichen Meldung genügt hatten, gingen wir zum Bezirkskommando, wo ebenfalls Briefe ankamen. Diese lagen auf dem Tisch im Hof und waren mit Steinen und Knochen beschwert. Bisweilen fand man auch Briefe und Karten in den Winkeln und Ecken des Hofes, wohin der Wind sie geweht hatte. Die Briefe waren alle geöffnet und mit dem Stempel der Zensur versehen. Da viele der Gefangenen schon nach anderen Orten weitergeschickt worden waren, und kein Mensch sich für ihre Briefe interessierte, waren sie zu großen Stößen angewachsen und es war eine langweilige Arbeit, sich durch diese hindurch zu arbeiten. Ein findiger Soldat erleichterte uns aber die Suche, indem er den ganzen Krempel in den Ofen steckte.

                        So verschwand manche mit Sehnsucht erwartete Nachricht und ein ähnliches Ende mögen auch meine Briefe genommen haben, deren viele geschrieben wurden, die ich aber nie erhielt. Unser nächster Gang war zum Zeitungsstand, wo die ausgespielte Zeitung erstanden wurde. Darauf folgte unser täglicher Bummel zum andern Erdteil. Zwar war es verboten, die Stadt zu verlassen, aber die Kontrolle an den Grenzen der Stadt waren so mangelhaft, dass wir nie angehalten wurden. Gegen 4 Uhr waren wir gewöhnlich wieder zu Hause und nun nahmen wir das meist aus Brot und Milch bestehende Mittagessen ein.
                        Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #27
                          Nur sonntags riskierten wir in einem billigen Lokal zu essen. Einmal wurden wir von einem anwesenden Offizier hinausgewiesen. Erkannt wurden wir zwar öfter, aber meist ließ man uns unbehelligt. Es war immer ein besonderer Anreiz etwas Verbotenes zu tun und dabei nicht erwischst zu werden.

                          In Russland ist der Ringersport sehr beliebt. Orenburg besaß einen Zirkus, in welchem unsere Ringer Beschäftigung gefunden hatten. Unter ihnen war einer, mit dem ich bekannt geworden war, der mit einer schwarzen Maske auftrat. Um ihn wurde eine große Reklame aufgezogen. In den Ankündigungen hieß es, sein Name könne nicht genannt werden, da er zu hohen Kreisen angehöre, weshalb er auch sein Gesicht nicht zeigen könne. Die ‚schwarze Maske’ war die Sensationsnummer im Zirkus und lockte viele Besucher an. Sie durfte natürlich nie besiegt werden, woran sich seine Gegner auch hielten. Um den Zirkus besuchen zu können, hatte ich mir eine ‚Ausgehuniform’ beschafft. Sie bestand aus einem Soldaten Mantel und einem Kosaken-Tschapka und so kostümiert wurde ich ein oftmaliger Zirkusbesucher, ohne dass ich angehalten wurde.

                          Nach dem Mittagessen las Poley die Zeitung vor, während es mein Amt war, auf der an der Wand hängenden großen Karte die Fronten nach den jeweiligen Nachrichten abzustecken.

                          Gegen 9 Uhr wurde zu Abend gegessen, Butterbrot und Tee und zwar recht viel Tee und gegen 11 Uhr suchten wir unser Lager auf. Diese Tagesordnung wurde innegehalten bis der kalte Winter eine Änderung erzwang. Im Spätherbst zog Speß mit einer Gruppe von 12 Mann, darunter sein Bruder, zu einer Gutsbesitzerin in ein Kosakendorf. Die Erlaubnis dazu hatte diese vom Hetman der Orenburger Kosaken, einem allmächtigen Mann, selbst erwirkt. Es hatte sie viel Mühe gekostet und wir wunderten uns, warum sie durchaus Deutsche bei sich haben wollte. Es wurde uns aber später klar, als wir die Höhe des Pensionspreises erfuhren. Die ganze Sache war eine unglückliche Idee, wie Speß und seine Genossen bald erfahren sollten. Speß hatte den Gerüchten, dass wir die Stadt bald würden verlassen müssen, Glauben geschenkt und glaubte so verhindern zu können, in ein gottverlassenes Nest geschickt zu werden.

                          Er hatte versucht, uns auch zu bewegen, mit in das Kosakendorf zu ziehen, da wir aber nicht daran dachten, verließ er uns mit freundlichem Wunsche, wir möchten doch in Orsk, wo die Füchse sich ‚Gute Nacht’ sagen, uns seines Vorschlags erinnern. Der Offizier des Kosakendorfes trat den Neuankömmlingen von Anfang an feindlich entgegen. Eine Beschwerde der Besitzerin beim Hetman hatte den Erfolg, dass der Offizier die offene Feindschaft einstellte, dafür aber die 12 Mann umso glühender hasste und seinen Hass auch seinen Untergebenen einimpfte. Die immer häufiger entreffenden Nachrichten von den Verlusten ihrer Kameraden an der Front machte sie immer erbitterter und die Tage der Zwölf immer ungemütlicher. Sie beantragten beim Gouverneur die Rückführung in die Stadt. Der Antrag wurde abgelehnt. Erst eine eindringliche Schilderung ihrer gefährlichen Lage vermochte den Gouverneur zu bewegen, ihrer Bitte soweit nachzukommen, dass er erlaubte, dass sie in die Vororte der Stadt ziehen durften, nicht aber in die Stadt selbst. Inzwischen hatten schon einige von ihnen von den aufgeheizten Kosaken eine Tracht Prügel bezogen.

                          Am 2. November meldeten die Extrablätter, dass die Russen die Orientierung zwischen den masurischen Seen verloren hätten und deshalb etwas zurück gegangen seien. Wir hatten bereits gelernt, derartige Nachrichten richtig zu deuten und ahnten einen deutschen großen Erfolg, wussten aber nicht, welche vernichtende Niederlage die Russen erlitten hatten.

                          Aus Freude über diesen Erfolg beschlossen Poley und ich uns in einem Restaurant eine Flasche Bier zu leisten. Dort freuten wir uns über drei Kirgisenjünglinge, welche sich Kartoffeln und Hering bestellten, diesen kunstgerecht mit Messer und Gabel zerlegten, dann aber das Handwerkszeug weg legten und mit den Fingern futterten. Einige kräftige Rülpser beendeten das Mahl. An einem andern Tisch saßen zwei Offiziere, die sich schon in einer recht animierten Stimmung befanden. Sie hatten uns wahrscheinlich erkannt, denn der eine von ihnen kam mit seinem vollen Glas an unseren Tisch und forderte uns auf, mit ihm auf die siegreiche russischer Armee anzustoßen. Da waren wir verdammt in die Klemme geraten. Poley, der mit einer ganz gehörigen Dosis Frechheit ausgerüstet war, meinte aber, dass er in der letzten Zeit von russischen Siegen nichts gehört habe. Das schien der Offizier krumm zu nehmen, wütend rief er nach dem Wirt. Wir warteten aber nicht bis dieser kam, sondern machten es wie die Russen bei Tannenberg, wir zogen uns einfach zurück.

                          Bei recht vielen Gefangenen meldete sich allmählich die Not an. Diejenigen, denen das Geld abgenommen worden war, hatten es zum größten Teil schon ausgegeben. Wer Verwandte im Lande hatte, wurde von diesen versorgt, aber die Mehrzahl stand ohne Hilfe da. Eine Dame, deren Vater aus Riga ausgewiesen worden war und diesen begleitet hatte, erzählte mir, dass vier ihr bekannte junge Leute, die in einem asiatischen Dorf lebten, brieflich um Brot gebeten hätten, dass sie das Dorf nicht verlassen dürfen, kein Geld hätten und verhungern müssten, wenn ihnen niemand helfe.

                          In dem Kellerraum des Pastorats hatte ein Petersburger Herr Unterkunft gefunden. Während des Transportes war er in fünf verschiedenen Gefängnissen gewesen. Geld, Uhr und Gepäck hatte man ihm abgenommen, mittellos wurde er in Orenburg freigelassen. Seit 5 Wochen trug er dasselbe Hemd und dieselben Strümpfe und er hatte bisher nur von Brot gelebt. Dieser Mann wurde einer der zwei Begleiter, mit denen ich im Herbst 1917 meine zweite Flucht unternahm.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #28
                            Eines Tages fand man am Ufer des Urals die Leiche eines Deutschen, er hatte sich die Pulsadern durchschnitten und war verblutet. ‚Geheimnisvoller Tod’ schrieben die Zeitungen. Uns war der Tod gar nicht geheimnisvoll. Er war einer jener Unglücklichen, die aller Mittel entblößt, ohne Kenntnis der Sprache und abgeschnitten von jeder Verbindung mit der Heimat, man öfters an den Ufern sitzen sehen konnte, verzweifelt in die Fluten starrend.

                            Bei meinen täglichen Gängen zur Polizei bemerkte ich in einem Vorzimmer zwei junge Männer, die ich schon drei Wochen lang dort sitzen sah. Nie veränderte sich ihre Stellung, es sah aus, als ob sie die Bank noch nie verlassen hätten. Immer stierer wurde ihr Blick und immer mehr traten die Backenknochen hervor. Sie verhungerten dort langsam auf ihrer Bank im Polizeigebäude. Ihre Bitten um Aufnahme in das Gefängnis wurden unbeachtet gelassen. Eines Tages waren sie fort, wahrscheinlich tot oder auf die Straße geworfen, um sie anderswo verrecken zu lassen.

                            Und die Zeitung schrieb, der amerikanische Konsul habe sich sehr befriedigt über die Behandlung der Gefangenen ausgesprochen. Oh ja – niemand tat uns etwas zuleide und dass unsere Schwächlinge krepierten – dafür konnten sie nicht.

                            Die Stimmung der im russischen Heer kämpfenden deutschen Kolonisten illustriert folgender Vorfall: Eines Tages gewahrte ich vor einem zu einem Lazarett umgewandelten Restaurant einen Menschenauflauf. Näher herangekommen gewahrte ich einen Menschen, der nur mit dem Hemd bekleidet war, dessen eine Hälfte mit Blut durchtränkt war und das aus einer Schulterwunde floss. Mit rollenden Augen raufte er sich das Haar und klagte sich mit schreiender Stimme an, deutsche Brüder erschossen zu haben. Es war ein verwundeter Soldat, der im Fieberwahn seinen Wärtern entlaufen war.

                            All die vielen Kolonisten mit denen ich sprach, standen mit ihren Herzen auf Seiten ihres alten Vaterlandes und wünschten diesem den Sieg, obgleich sie mit Recht fürchteten, dass die Niederlage Russlands an ihnen nicht ungerächt bleiben würde. Trotz ihrer Sympathie für Deutschland waren sie ihrem Zaren treu und erfüllten ihre Pflicht nicht schlechter als es ein vaterlandsliebender Russe hätte tun können. Das bewiesen auch die Georgskreuze auf ihrer Brust.

                            Ebenso wie die russischen Untertanen deutscher Herkunft sympathisierten auch die Tataren und Kirgisen mit Deutschland und besonders mit seinem Herrscher. Wohl riefen sie in ihren Kirchen den Beistand Allahs für Russland herab, aber das taten sie nur infolge der sie mit Argwohn beobachtenden Behörden. Ich bin überzeugt, dass sie in ihren Herzen Allah um etwas anderes baten. Lieben doch auch sie noch ihr altes Vaterland die Türkei, und höher steht ihnen die Lehre Mohammeds als die Liebe zu Russland.

                            Die Erklärung des heiligen Krieges war auch in die Zelte der Kirgisen und Baschkiren in der Steppe gedrungen und wenn der Aufruf des Kalifen, ihres obersten geistlichen Führers dort auch ihre Bedeutung verlor, so beeinflusst er doch ihre Gesinnung, denn der Koran wird vom Mohammedaner meist mehr geachtet und befolgt, als die Bibel den Christen.

                            In Orenburg lebte ein Gymnasiallehrer, ein Tartar, den man als einen Propheten ansah. Ein Jahr vor Ausbruch des Krieges hatte er vorausgesagt, dass binnen Jahresfrist der Weltkrieg ausbrechen würde und die Gruppierung der Mächte so genannt, wie sie auch dann erfolgte. Als Sieger hatte er Deutschland angegeben. Wenn nun diese letzte Vorhersage sich auch nicht erfüllt hat, so ersieht man doch daraus die Stimmung der mohammedanischen Bevölkerung, auch der gebildeten Schichten.

                            Fast jeden Tag kamen Züge mit Verwundeten an und aus de Tatsache, dass man selbst Schwerverwundete bis dorthin und noch weiter nach Asien transportierte, konnte man sich ein Bild von der Menge der Opfer machen. Die Krankenhäuser waren längst überfüllt, Schulen und Restaurants in solche umgewandelt und Privatpersonen wurden aufgefordert, Verwundete bei sich aufzunehmen.

                            Alle Behörden erließen Aufrufe und forderten zur Hilfeleistung auf. Der Aufruf des Gouverneurs fing folgendermaßen an: „Russen, Christen und Mohammedaner! Mit Unglück überzogen hat die Welt der Wahn Wilhelms. Wir sind von einem furchtbaren Feinde überfallen worden, dessen Waffen verderbenbringend sind. Unzählige Söhne unserer heiligen Erde werden dahingeschlachtet usw.“

                            Von Tag zu Tag merkte man, dass die Kriegsbegeisterung immer mehr abflaute. Durch die Verwundeten erfuhr das Volk, dass es von den Zeitungen betrogen wurde, die das Kriegsgeschehen immer noch nach Ostpreußen verlegte. Was weiß dort der Russe oder Kirgise wo Grodno, Lodz oder Kowno liegt? Und wenn die Berichte über die dort geschlagenen Schlachten immer die Überschriften „Aus Ostpreußen“ trugen, so denkt er natürlich, dass sich das alles jenseits der Landesgrenze abspielt. In den Berichten hieß es, die feindliche Armee wird überall besiegt und die Soldaten schießen schlecht. Mit panischem Schrecken erfüllte sie ein Bajonettangriff und noch mehr eine Attacke der furchtbaren Kosaken. Aber diese künstlich gehaltene Glauben an die Unbesiegbarkeit des russischen Heeres brach zusammen bei den Erzählungen derjenigen, die den Deutschen gegenüber gestanden hatten. Von der österreichischen Armee wurde mit Geringschätzung gesprochen. Auf den Straßen spielten die Kinder „Russen und Österreicher“, wobei die letzteren, ihren Holzsäbel fortwerfend ausrissen aber von den andern gefangen und verprügelt wurden.

                            In jener Gegend sind die Herbsttage von wundervoller Schönheit. Es war am 28. Sept., als Poley und ich durch das milde herrliche Wetter angeregt beschlossen, einen etwa 6 Werst entfernten Wald aufzusuchen. Dort warfen wir uns im Schatten riesiger Espen ins Gras und freuten uns, der Stadt einmal entronnen zu sein. Wir träumten von unseren weiten livländischen Wäldern, als ein Geräusch von Pferdehufen uns aufhorchen ließ. ‚Das sind vielleicht Elche’, meinte Poley, es waren drei Pferde, auf denen drei Landwächter saßen. ‚Jetzt wird’s mulmig“, flüsterte Poley, und mir schien es auch so. An ein Auskneifen war nicht mehr zu denken, da die drei Reiter uns schon bemerkt hatten. Kurz vor uns hielten sie und dank der Eitelkeit meines Gefährten, der sich immer herausputze als ob er noch Förster auf einem livländischen Gute sei, hatten sie uns als Deutsche erkannt. Sie grinsten vor Vergnügen über den unerwarteten Fang und wir mussten zwischen ihnen zur Stadt marschieren. Die kleinen Pferde hatten es so eilig, dass uns unangenehm warm wurde. Nach der Bekanntmachung des Gouverneurs erwarteten uns drei Monate Gefängnis und der Gedanke daran machte mich noch wärmer. Aber das Schicksal schien ein Einsehen zu haben. Wir waren etwa 3 Werst getrabt und schon sah man die Kuppel der Kathedrale, als unser Führer uns den klugen Vorschlag machte, uns mit je 3 Rubel loszukaufen. Trotz meines mageren Kassenbestandes war ich natürlich sofort dazu bereit. Poley meinte aber das sei zu viel und lehnte ab. Die Folge war, dass wir unseren Marsch beschleunigen mussten und meine Wut auf meinen Gefährten war groß, aber wie ich bald erfahren sollte, tat ich ihm unrecht. Er war eben mit den Sitten und Gebräuchen dieses Landes besser vertraut als ich.

                            Wir waren bereits bis dicht an die Stadt gelangt und meine Puste war am Ende, als einer der drei Landjäger die Verhandlungen wieder aufnahm. nach langem Feilschen zahlten wir jeder 1 Rubel, worauf sie uns laufen ließen. Als nobler Mann bot ich ihnen noch eine Papyros an und nach gegenseitigen herzlichen Wünschen für die Zukunft trennten wir uns.

                            Um den Weg abzukürzen, gingen wir am Bahnhof über die Gleise, was in Russland durchaus üblich ist. Eben war ein Militärzug angekommen. In ihm befand sich turkmenische Kavallerie, für uns etwas ganz Neues und Interessantes. Die Soldaten sind ähnlich wie die Kosaken, aber viel malerischer gekleidet. Als Mohammedaner tragen Offiziere wie Gemeine das vom Koran vorgeschriebene Käppi unter der mächtigen Bärenfellmütze, die ihnen ein wildes, verwegenes Aussehen verleiht. Die Hose ist weit und an dem breiten Ledergurt, der mit allerlei silbernem Schmuck verziert ist, hängt der krumme Säbel. Außer dem Gurt tragen viele noch ein vielmals um die Hüfte gewundenes buntes Tuch, in welchem Dolche und Pistolen stecken. Ihre Pferde waren größer als die der Kosaken und ich sah unter ihnen edle, hervorragend schöne Tiere.

                            In unseren Betrachtungen wurden wir plötzlich durch einen Polizisten gestört der uns fragte, wie wir eigentlich auf den Bahnhof gekommen seien, der doch während des Aufenthaltes von Militärzügen gesperrt sei und ob wir das nicht wüßten. Der Wahrheit gemäß sagten wir, daß uns dies unbekannt sei, worauf er meinte, daß dies für uns schlimme Folgen haben werde und in Anbetracht dessen, dass wir Deutsche seien, müsse er uns verhaften. Prost Mahlzeit!

                            Das war ja ein ganz besonderer Pechtag. Wir mußten vor ihm hergehe, durch die Straßen der Stadt, zum zweiten Male heute als Arretierte. Die mit den Landjägern gemachte Erfahrung aber ließ uns noch einige Hoffnung. Wir berieten leise, warauf Poley dem Polizisten für unsere Freilassung 50 Kop. bot. Da kam er aber schlecht an, worauf er sein Angebot auf 75 Kopeken erhöhte. Darauf erfolgte ein tolles Geschimpfe wegen unserer Frechheit, ihn bestechen zu wollen. Da er aber nur schimpfte, wenn es außer uns niemand hörte und er sogleich schwieg, wenn uns jemand begegnete,, waren wir schon im Bilde und boten 1 Rubel.

                            Das hatte zur Folge, daß er uns erklärte, er wolle uns laufen lassen, weil wir ihm leid täten, nicht aber des Rubels wegen.

                            Wie und wo ihm aber das Geld geben? Doch da wußte er Rat. Er bezeichnete uns am Ende der Straße ein Haus, in dessen Flur wir ihn erwarten sollten. Darauf verlangsamte er unauffällig seine Schritte und als wir uns ein Stück von ihm entfernt hatten, bog er von der Straße ab und schlenderte auf den Bürgersteig. Poley meinte, nun sei es Zeit zu verschwinden, ich wollte jedoch den armen Kerl für seine Gutmütigkeit nicht betrügen obwohl ich meine wenigen Kopeken hätte besser verwenden können. Wir warteten also in dem Hausflur, wo er seinen Rubel in Empfang nahm und schieden von ihm mit freundlichem Händedruck. So war auch unser zweites Malheur noch gut abgelaufen.

                            Zu Hause wartete eine große Freude auf uns: Antwerpen war gefallen, und das so plötzlich, ganz unerwartet. Noch gestern hatten wir gelesen, ehe Antwerpen falle, die Deutschen aus Frankreich vertrieben seien. Antwerpen sei uneinnehmbar, sei die stärkste Festung der Welt.

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                            • Helen
                              Erfahrener Benutzer
                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #29
                              Auch für mich kam der Tag, an dem ich meinen letzten Kopeken ausgab. Alle Bemühungen um eine Beschäftigung waren vergeblich geblieben. Höhne und Haage war es geglückt, bei einem Neubau als Installateure Arbeit finden. Als sie aber 3 Tage gearbeitet hatten, wurde ihnen die Weiterarbeit von der Polizei verboten. Durch die Vermittlung eines in der Stadt wohnenden Kolonisten hatte ich die Stelle eines Lehrers in einem Kolonistendorf in Asien erhalten. Als ich um die Erlaubnis zur Übersiedelung nach dorthin bat, wurde mir diese verweigert. Von Haage hatte ich mir schon 10 Rubel geborgt, meine beiden anderen Genossen waren bald in derselben Lage wie ich. Aber auch diese 10 Rubel nehmen mal ein Ende. Zwei Tage lang fütterten mich meine Gefährten mit durch. Da sie aber selbst fast nichts mehr hatten, beschloss ich am dritten Tage mich einsperren zu lassen. Eingedenk der beiden Unglücklichen, die im Vorzimmer der Polizei verhungert waren, wollte ich es klüger anstellen als jene.

                              So nahm ich von meinen Genossen Abschied, wie ich glaubte, auf drei Monate, ging an den Ural und setzte mich in der Anlage auf eine der uns verbotenen Bänke. Poley, der mich begleitet hatte, umkreiste mich in weitem Bogen, um die Entwicklung der Dinge zu beobachten. So saß ich wohl eine ganze Stunde. Da endlich näherte sich ein höherer Polizeibeamter und setzte sich sogar neben mich. Eine Weile prüfte er mich von der Seite, dann fragte er ob ich Deutscher sei. Als ich das bejahte, machte er mich in freundlichster Weise darauf aufmerksam, dass das Sitzen auf der Bank für mich verboten sei. Er selbst habe nichts dagegen, aber seine Unterbeamten hätten strenge Anweisung, auf die Erfüllung der vom Gouverneur herausgegebenen Bestimmungen zu achten. Er riet mir, den Platz zu verlassen, bevor ich gesehen würde.

                              Gegen diese Liebenswürdigkeit war nun nichts zu machen. Ich bedankte mich höflich und ging mit Poley wieder nach Hause. Am nächsten Tag wiederholte ich das ganze Manöver, jedoch in einem andern Stadtteil, da ich mich geschämt hätte, wenn ich dem freundlichen Warner wieder begegnet wäre.

                              Ich hatte Glück, ich brauchte nicht lange warten. Ein Schutzmann umkreiste mich, hinter meinem Rücken schlich er heran und plötzlich stand er vor mir und forderte mich auf, ihm zu folgen. Auf dem Polizeibüro wurden meine Personalien festgestellt, worauf ich in eine Zelle gesperrt wurde. Am Abend wurde ich ins Gefängnis überführt. Meine neue Zelle hatte bereits drei Bewohner. Zwei von ihnen waren Kirgisen. Sie waren eben eifrig dabei, ihre umgedrehten Hemden nach Wild zu durchforsten. Wie ich später erfuhr, hatten sie gemeinsam ein Pferd geklaut, wofür sie 1 Jahr absitzen mussten. der dritte Häftling entpuppte sich zu meiner Freude als Deutscher. Er war beim Besuch des Zirkus erwischt worden und saß nun, ohne zu wissen, wie lange noch. Seine erste Frage war nach Tag und Datum, denn seine Kalenderrechnung war durcheinander geraten.

                              Es begannen nun Tage, an denen ich zweierlei lernte, das ich bis dahin noch nicht konnte. Das war erstens Schach spielen und zweitens - Läuse knacken. Mein deutscher Genosse war leidenschaftlicher Schachspieler. Aus Brot kneteten wir uns Figuren, das Brett malten wir mit Bleistift auf die Pritsche und der Unterricht begann. Nach und nach verbesserten wir unsere Figuren, so dass wir zuletzt auf unsere künstlerischen Fähigkeiten stolz waren. Weniger Freude machte mir die zweite Beschäftigung, ja sie verleidete mir das Häftlingsdasein derart, dass ich das baldige Ende desselben herbei wünschte. eine Verhandlung gegen mich hatte nicht stattgefunden und so hatte ich, ebenso wie mein deutscher Zellengenosse keine Ahnung, wie lange die Haft dauern würde. Ich rechnete mit ungefähr 3 Monaten.

                              Da ich als Nahrung weder Kuchen noch Braten erwartet hatte, fand ich das Essen den Umständen entsprechend angemessen. Früh und abends trockenes Schwarzbrot mit einer Flüssigkeit namens Tee und mittags Kohlsuppe oder Hirse, manchmal auch Graupe. Wenn das auch nicht üppig war, aber im Bewusstsein, dass es eben Gefängniskost war, hätte ich mich schon einige Wochen damit abgefunden, wenn nur nicht die verdammte Läuseplage gewesen wäre und – wenn die beiden Pferdediebe etwas weniger gestänkert hätten. In ihren Eingeweiden schien nicht Schwefelwasserstoff, sondern ein uns unbekanntes Gas erzeugt zu werden, welches uns oft halb ohnmächtig nach frischer Luft schnappen ließ. Eines Tages balgten sich die beiden Kirgisen und zerschlugen dabei die Lampe. Zur Strafe erhielten wir alle vier zwei Tage lang kein Essen. Wir beschlossen daher unsere Schachfiguren zu verspeisen, den beiden Übeltätern aber nichts abzugeben. Aber in Anbetracht dessen, dass wir die Färbung der schwarzen Figuren mit Ruß vorgenommen hatten, änderten wir unseren Vorsatz und überließen ihnen diese. Sie machten kurzen Prozess damit, weichten König, Dame und die Bäuerlein im Tee auf und verschlangen sie.

                              Vier Wochen hatte ich gesessen, als mein Genosse frei gelassen wurde. Mit Bedauern sah ich ihn scheiden und mit Grauen dachte ich an die Gasüberfälle, denen ich nun allein ausgesetzt war. Bald kam wieder deutscher Zuwachs. Mein neuer Genosse hatte auf der Straße deutsch gesprochen. Ich freute mich über ihn und er über mich. Er machte sich gleich mit den Kirgisen bekannt, er wollte ihre Sprache lernen, wobei auch für mich etwas abfiel.

                              Wie alles einmal ein Ende hat, so kam auch für mich der Tag, an dem ich wieder entlassen wurde. 6 Wochen hatte ich gesessen, was mochte wohl in der Zwischenzeit alles passiert sein? Von was würde ich jetzt wohl leben?

                              Mit großem Hallo wurde ich von meinen Genossen empfangen, die mir die freudige Mitteilung machten, dass bei der Polizei Geld für mich angekommen sei. Und endlich – endlich waren auch Briefe angekommen. Aus ihnen erfuhr ich die näheren Umstände des Begräbnisses meiner Frau, dass das Kind nach Libau gebracht worden sei und dass meine Wohnung in ein Lazarett umgewandelt worden sei. Das war nicht besonders angenehm zu lesen, war aber eben nicht zu ändern. Möge es den Verwundeten nur recht gut darin gefallen haben. Dass ich nie wieder etwas, auch nicht das geringste von meinem Hab und Gut wiedersehen würde, dass wusste ich damals noch nicht. Wenn mir damals gesagt worden wäre, dass die Russen mein Eigentum respektierten, aber die nachrückenden Deutschen mein Haus vollständig plündern würden, so hätte ich es bestimmt nicht geglaubt.

                              Meine Kollegen waren von den Läusen, die ich ihnen aus dem Gefängnis mitgebracht hatte, wenig erbaut. Ich beschloss deshalb, diesen Parasiten mit einer Radikalkur zu Leibe zu gehen. Ich hing meine Sachen bei -20 Grad Kälte in den Hof. Das war selbst diesen Biestern zu arg, sie erfroren jämmerlich. Aber nach 3 Tagen waren sie wieder da. Es war die 2. Generation, die inzwischen ausgekrochen war. Nachdem ich das Experiment noch 2mal wiederholt hatte, war ich sie endgültig los.

                              Einen Monat nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis folgte Poley meinem Beispiel. Er ließ sich trotz drohender Läuseplage und Kirgisengesellschaft einsperren. Er meinte aber später, er würde es nicht wieder tun. Es hatte ihm gar nicht gefallen. Um eingesperrt zu werden hatte er auf der Straße einen Polizisten beleidigt, hatte ihm gesagt, er solle doch lieber in den Krieg gehen als hier auf der Straße herumzulungern. Das hatte der ihm übelgenommen. Ich hatte sogar den Verdacht, dass er eine Tracht Prügel dafür bekommen hatte. Zwar hat er dies nicht verraten, aber er war über die ihm zuteil gewordene Behandlung furchtbar erbittert.

                              So hoffnungslos unser Briefverkehr anfangs war, so prompt wickelte er sich später ab. Der Briefträger erhielt von uns für jeden Brief 20 Kopeken und kein Brief ging uns mehr verloren. Der Postbote ging sogar soweit, die Briefe der Zensur zu unterschlagen.

                              Es kam der Dezember und aus dm langen schönen Herbst war harter Winter mit klirrendem Frost und Schnee geworden. Eisig pfiffen die Winde aus der freien Steppe durch die Stadt. Auf den Straßen liefen die Menschen schnell und unwillig schrieen die Kamele, denen die Eiszapfen am geifernden Maule hingen. Die Höcker, welche aus den Decken hervorsahen, dampften wie Schornsteine. Wer nicht mit Winterkleidung versehen war, und die wenigsten waren es, der blieb zuhause oder wickelte die nötigen Gänge im Eiltempo ab. Trotz der Kälte hatte sich Höhne eine ‚Flamme’ zugelegt und in Eis und Schnee wartete er geduldig, bis diese Zeit für ihn hatte. Oft musste er sehr lange warten, denn sie war ein sehr begehrtes Persönchen. Als er eines Abends mit seiner Schönen von einem Kadetten überrascht wurde, dieser ihm den Säbel zwischen die Beine warf und seine Freundin dazu noch lachte, gab er seine Tatjana endgültig auf. Er fand schnell Ersatz in einer niedlichen Schicksalsgenossin, in die er sich über beide Ohren verliebte und die er später heiraten wollte.

                              Aus der Umgegend der Stadt wurden die ersten Wölfe gemeldet und auf dem Ural entwickelte sich ein lebhaftes Treiben. Schlittschuhläufer, darunter viele Deutsche, tummelten sich auf ihm, und ich wunderte mich sehr, dass man das erlaubte.

                              Obwohl Poley als Forstmann gegen Witterungseinflüsse hätte am widerstandsfähigsten sein müssen, erkrankte er an Rheuma, weshalb er einen Dr. Laßmann zu Rate zog. Der Name ließ vermuten, dass er Deutscher war. Er entpuppte sich aber als Lette, der an den deutschen Baronen in Livland kein gutes Haar ließ. Da Poley von einem dieser Barone sein Geld erhielt, ließ er sich von dem Arzt heilen, aber er bezahlte ihn nicht.
                              Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

                              Kommentar

                              • Helen
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                                • 04.02.2010
                                • 164

                                #30
                                Eines Tages wurden alle gleichzeitig zur Polizei bestellt. Wir glaubten, dass es nun wieder weitergehen sollte, es hatte aber einen andern Grund. In Warschau hatte man 2 Mann, die von hier entflohen waren festgenommen und man hielt nur eine genaue Kontrolle ab. Bei dieser Musterung hatten wir auch Gelegenheit zu erfahren, dass der Polizeimeister recht witzig sein konnte. Um sich zu vergewissern, dass sie auch in der Stadt bleiben dürfen, fragten diesen zwei Deutsche, ob sie noch lange in Orenburg bleiben werden. „Wie lange sind Sie schon hier?“ fragte er. „Fünf Monate“, war die Antwort. “Nun, dann sind Sie allerdings schon lange genug hier“, sprach’s und gab ihnen einen Ausweisschein nach einem kleinen Nest in Asien. Die beiden haben ihre vermeintliche Schlauheit nicht schlecht verwünscht.

                                Auf der Post hatte ich einmal Gelegenheit, Zeuge einer sonderbaren Szene zu sein. Eine Soldatenfrau hatte die Aufforderung erhalten, ein an sie adressiertes Paket abzuholen. Das Porto war zu bezahlen, aber die Frau hatte kein Geld. Sie bat deshalb den Beamten, das Paket zu öffnen, da ihr Mann sicher etwas Geld mitgeschickt haben würde. Der Beamte willfahrte ihrem Wunsch und fand wirklich etwas Geld darin, nämlich 20.000 Rubel, die der Mann sicher in Polen irgendwo ‚gefunden’ hatte. Das Geld erhielt sie natürlich nicht, worüber sie ein großes Geschrei erhob. Die Prügel, die ihr der Mann später verabfolgt haben wird, wird nicht von Pappe gewesen sein.

                                Als ich erfuhr, dass die zum Kriegsdienst untauglichen Gefangenen entlassen werden sollten, erinnerte ich mich, dass ich im glücklichen Besitz eines steifen Fingers bin und beschloss meine Freilassung zu beantragen. dazu war das Attest eines Arztes erforderlich, das man mit einer Bittschrift an den Gouverneur einsenden musste. Später wurde man von einer Militärkommission untersucht. Ich ging also zu einem Arzt und dieser bescheinigte mir, dass ich zu körperlicher Arbeit, besonders zum Kriegsdienst untauglich sei. Das Attest kostete 3 Rubel. Fast schämte ich mich, ein solcher Krüppel zu sein.

                                Nach einigen Wochen erhielt ich die Aufforderung, mich der Kommission vorzustellen. Ich musste mich entkleiden und wurde genau untersucht. Um meinen Finger kümmerten sie sich gar nicht. Als ich sie auf dieses Gebrechen aufmerksam machte, lachten sie mich aus und fragten, was ich denn überhaupt wolle. Ich verwies auf das eingereichte Attest des Arztes, worauf ich nur das Wort ‚Idiot’ hörte. Ich weiß nicht, wen sie damit meinten, hoffte aber, dass der Arzt gemeint sei. Sie meinten, ich solle nur ruhig hier bleiben, denn Deutschland könne froh sein, wenn alle Soldaten so gesund wären wie ich. Innerlich musste ich ihnen Recht geben, aber enttäuscht war ich doch.

                                Über 1 Jahr später, nachdem ich schon halb Asien als Flüchtling durchquert hatte und wieder in dem Dorfe wohnte, erhielt ich den schriftlichen Bescheid, dass mein Antrag abgelehnt worden sei. Man kann wohl sagen, dass die Behörden in manchen Sachen peinlich genau arbeiteten, nur das Tempo war etwas zu langsam.

                                Kurz nach Neujahr 1915 musste ich mich eines Nierenleidens zu einem Arzt begeben. Der Arzt sprach Deutsch, hatte in Deutschland studiert und von ihm erfuhr ich manches, was in den Zeitungen nicht zu lesen war. Einen Monat hindurch besuchte ich den Arzt und auch als ich bereits wieder gesund war, besuchte ich ihn weiter. Der Grund war folgender: Er wollte 200 ha Steppe pachten, ich sollte die zur Bearbeitung derselben nötigen Leute, Pferde und Maschinen des Betriebes übernehmen. Ich war von der Sache begeistert, hatte Arbeiter und Maschinen greifbar besorgt, es scheiterte aber daran, dass nun bestimmte Gerüchte von unserer baldigen Ausweisung auftauchten, denen man Glauben schenken musste. Wir bedauerten es alle sehr, besonders ich, da mir der Arzt 10 % vom Gewinn versprochen hatte.

                                Ich hatte eben mit meinen Unternehmungen kein Glück, hier nicht, wie auch nicht mit meiner Anstellung als Lehrer. In den Kinos der Stadt wurden täglich Kriegsbilder gezeigt. Als das Bild ‚Das Ende des Räubers Wilhelm’ angezeigt wurde, riskierten Poley und ich es, uns dies Ende anzusehen. Wir sahen aber nichts, was mit dem vielversprechenden Titel hätte in Beziehung gebracht werden können. Nur das Bombardement Antwerpens, der Abtransport deutscher Gefangener, Bilder des Zaren, des englischen und belgischen Königs und des Präsidenten von Frankreich waren zu sehen.

                                Wir verließen unbehelligt das Kino, aber auf den Straßen sahen wir etwas Überraschendes. Eine riesige demonstrierende Volksmenge durchzog dieselbe mit Fackeln, Fahnen und Heiligenbildern, beständig wurde „Urrah“ gerufen und voran ritt eine Kapelle der Kosaken. Bei diesem tollen Jubel fühlten wir uns nicht wohl und vermuteten ein Unglück an der Front, glaubten auch an den Fall der Dardanellen. Wir fassten uns endlich ein Herz und fragten nach der Ursache dieser Begeisterung. „Königsberg ist gefallen“, schrie uns jemand zu. Im ersten Augenblick waren wir tief erschrocken. Königsberg? Das konnte doch nicht stimmen. Wo lag Königsberg und wo lag doch jetzt die Front? Wir fragten also nochmals und nun hörten wir, dass Premischl gefallen war. Was war schon Premischl? Eine schon eineinhalb Jahre belagerte Stadt, mit deren Fall wir schon lange gerechnet hatten, das war kein Grund für uns zu trauern. Was war das im Vergleich zu der späteren Überrennung der russischen Festungen durch die deutschen Truppen. Als diese dabei zeigten, wie man Festungen nimmt, da war allerorts unheimliches, ängstliches Schweigen und wir waren es, die jubelten und schrien.

                                Am Tage nach dieser Demonstration wurden auf Befehl des Gouverneurs die Straßen mit Fahnen geschmückt und die Umzüge wiederholt. So ging es eine ganze Woche lang, denn der Umstand musste ausgenützt und Stimmung gemacht werden. Während dieser turbulenten Tage passierte folgende heitere Geschichte:

                                Ein Schuhmachermeister, ein als wüster Schläger und Raufbold bekannter Mensch, hatte die Nachricht erhalten, dass sein Sohn gefallen sei. Um ihn zu rächen, beschloss er auf die Straße zu gehen und den ersten Deutschen, der ihm begegnen würde, krumm und lahm zu schlagen. Dazu schien ihm die Stimmung der Umgebung gerade passend zu sein. Wutentbrannt machte er sich auf den Weg und fragte einen ihm begegnenden deutsch aussehenden Mann, ob er Deutscher sei. Vorsichtshalber verneinte dieser, da ihn der Frager wütend anfunkelte. Er ging also weiter und traf bald auf eine andern Verdächtigen. Als dieser seine Frage bejahte, hatte er auch schon zwei fürchterliche Ohrfeigen sitzen. Der so Misshandelte war einen Augenblick starr, doch ‚dann wallt dem Deutschen auch sein Blut’ und der arme Schuster erhielt eine Tracht Prügel, wie selbst er noch nie ausgeteilt hatte. Ein böser Zufall hatte es gefügt, dass er ausgerechnet an einen Ringkämpfe geraten war. Laut schrie der verunglückte Rächer um Hilfe, als aber ein Polizist herbei eilte, um den Deutschen mitzunehmen, raffte sich der Schuster auf und erklärte dem Polizisten, dass alles sei ja nur ein Irrtum, der Mann sei ein Freund, denn wenn der erste Deutsche auf den er treffe derartige Kräfte besitze, gegen die selbst er nicht aufkomme, dann verzeihe er auch denen, die seinen Sohn umgebracht haben. Das sei Schicksal gegen das an nicht ankämpfen könne. Dann nahm er seinen neuen Freund beim Arm und führte ihn in die nächste Kneipe. So ist nun einmal der Russe. Nicht immer verliefen Prügeleien zwischen Russen und Deutschen so spaßig ab. Es kam oft vor, dass Deutsche angegriffen wurden, was aber meist damit endete, dass der Deutsche von der Polizei eingesperrt wurde.
                                ---
                                Welch seltsame Typen, ich muss über die Szenen lachen...
                                Helen

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