Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #61
    Unser Verband begann sich zu lichten. Eines Tages war Krüger verschwunden. Nach zwei Monaten kam von ihm die Nachricht, daß er wohlbehalten in Sermenewa eingetroffen sei und er dort unbeachtet mit seinem Bruder zusammen lebe.

    Auch Reinhardt und Fluher, die beiden Artisten hatten gehört, daß sich in Orenburg ein Zirkus aufhalte und waren getürmt, um sich diesem anzuschließen.

    Bocks hatte im Frühjahr einen Schlaganfall erlitten. Nach Aussage des mit vielen MItteln herangezogenen Arztes konnte nur der Aufenthalt in einem Kurort helfen. Ein Antrag auf Übersiedlung wurde abgelehnt. Es gelang aber Vorländer, durch Vermittlung eines Bekannten, des jetzigen Ministers Konowalow die Übersiedlung nach Moskau zu erreichen.

    Vorländer selbst erhielt die Erlaubnis nach Ufa zu reisen, dort war seine Familie bei Bekannten untergekommen. Seinen Nachlaß, der in Schweinen, Hühnern, Gänsen, Mehl und vielen andern Lebensmitteln bestand, vermachte er Rosenbach und mir zu gleichen Teilen, nur machte er sich die Lieferung eines halben Schweines aus. Er legte uns aber die Verpflichtung auf, die Mittellosen unter uns nicht zu vergessen. Wir haben auch in seinem Sinne gehandelt.

    Sperling hatte sich um eine Anstellung in einer Apotheke in Werchne-Uralsk beworben. Durch Vermittlung Dr. Kniewalds erhielt er sie auch.

    Johannsen war während seiner Krankheit von der Schwägerin Sperlings aufopfernd gepflegt worden. Er hat sie darauf geheiratet. Obwohl diesem Bund noch die Sanktion durch Kirche und Standesamt fehlte, war es eine durch die zeitbedingten Verhältnisse durchaus verständliche Maßnahme, doch fehlte es nicht an Tugendbolden, die daran ihre Kritik übten. Mit Sperling zogen auch Johannsen und seine junge Frau nach Werchne-Uralsk.

    Noch eines mir bisher lieb gewonnenen Gefährten will ich hier gedenken ohne seinen Namen zu nennen, da er eine wenig glückliche Rolle dabei spielt. Er hatte sich in ein Russenmädchen verliebt, das nicht einmal hübsch, wohl aber über alle Maßen kokett und launisch war. Ihr zuliebe wollte er sogar russischer Untertan werden, nur um sie recht schnell heiraten zu können. Das Mädchen verstand, alle seine Sinne aufzustacheln, ohne daß er von ihr einige karge Liebkosungen erhielt,. Er war so in ihrem Bann, daß er sich lächerlich machte, was ihm unsere Achtung entzog. Er fühlte sich unter uns nicht mehr wohl und überredete das Mädchen, sich irgendwo in einer Stadt eine Stellung zu besorgen, bei nächster Gelegenheit wollte er nachkommen. Er borgte sich Geld zusammen und gab es dem Mädchen zur Bestreitung der Reisekosten. Nach einer Woche war er fort, war ihr nachgefahren.

    Nach sechs Wochen war er wieder bei uns. Mit einem Koffer und einer Kiste war er weggefahren, mit einem Bündel unter dem Arm kam er wieder. Er war nach Samara, dem Aufenthaltsort des Mädchens gefahren und kam dort gerade zurecht, um den neuen Bräutigam des Mädchens kennen zu lernen. Von Sermenewa aus hatte er seine frühere Brotherrin gebeten, 50 Rbl. an die Adresse seiner Tatjana zu senden. Das Geld war auch angekommen, aber Tatjana brauchte es für sich und ihren Verehrer.

    Er war nun weiter nach Orenburg gefahren um sich eine Beschäftigung zu suchen, erhielt aber keine, da man ihm eine Aufenthaltsgenehmigung verweigerte. Als sein Geld zu Ende ging, verkaufte er Stück für Stück seine Sachen. Doch auch sie nahmen ein Ende. Nun ging er auf den Trödelmarkt und handelte mit alten Sachen. Als er das Reisegeld zusammen hatte, fuhr er nach Sermenewa zurück. Da war er nun wieder. Aber er fühlte sich unter uns nicht mehr wohl. Da betrieb er seine Umsiedlung nach Orenburg und die wurde ihm schließlich gestattet.

    So verkleinerte sich unsere Kolonie immer mehr. Einige zogen nur veränderungshalber in andere Orte, kamen aber meist zurück, da sie keine Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Die in eine größere Stadt gezogen waren, kamen zurück, weil sie die dortigen Kosten der Lebenshaltung nicht aufbringen konnten.

    Als es zu einem Zusammenstoß zwischen einigen von uns und Baschkiren gekommen war, bei dem es blutige Köpfe gegeben hatte, beschloß auch Rosenbach den ihm zu unsicher gewordenen Ort zu verlassen. Er schrieb an Vorländer und bat ihn, er möge ihm doch eine Genehmigung zum Aufenthalt in Ufa zu verschaffen.

    Als diese nach einiger Zeit eintraf, schlachteten wir ein Schwein, ließen es räuchern und schickten die Hälfte an die Adresse Vorländers. Eine geschlachtete Gans und einige Hühner nahm er selbst mit, mit dem nicht unbeträchtlichen Rest, darunter ein lebendes Schwein, blieb ich zurück.

    Da ich in der großen Wohnung nicht allein bleiben konnte und auch nicht wollte, hielt ich Umschau nach bedürftigen Genossen, mit denen ich den mir verbliebenen Segen teilen konnte. Der Bewerber waren viele. Was Lebensmittel anbetraf, war ich der Reichste im Dorf, ich hatte plötzlich nur Freunde, abgesehen von Huth, der sich abseits hielt. Zwei konnte ich nur gebrauchen und meine Wahl fiel auf die beiden größten Habenichtse Harlov und Wagat. Die beiden glaubten, ins Schlaraffenland gekommen zu sein. Daß ich im Besitz von Vorräten war, wußten sie wohl, aber sie staunten doch über die Menge. Zur Feier ihres Einzuges schlachteten wir vier Hühner, zwei davon aßen wir auf, eins schickte ich zu Huth und das zweite zu Frischmann. Wagat war auf sein neues Amt als Wohltäter äußerst stolz.

    Da ich mich schon lange mit Fluchtgedanken trug, schlachteten wir auch das zweite Schwein, da ich dieses nicht zurück lassen wollte. Jeden Sonntag gab es Hühnerbraten, wozu wir uns immer einen andern Hungerleider einluden. Auch von den Erträgen des Gemüsegartens gaben wir reichlich ab.

    Meine neuen Hausgenossen wollten alle Arbeit allein machen, selbst meine Schuhe mußte ich vor ihren putzsüchtigen Händen verstecken. Es war für mich ein schönes Gefühl, als Wohltäter auftreten zu können, obwohl dies nicht mein Verdienst war. Ich hatte zeitweise selbst nur von trockenem Brot und Zwiebeln gelebt nicht wissend, ob mir morgen noch diese Genüsse zur Verfügung stehen. Ich hatte erlebt, daß andere dieses Hungerleben kurz entschlossen selbst beendet hatten, daß wieder andere aus Hunger zu Dieben wurden. All diese Erinnerungen trugen dazu bei, mir das Teilen mit den anderen zur Pflicht zu machen.

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #62
      Alle hatten wir auf einen schnellen Friedensschluß gehofft. Der Advokat Alexander Kerenski war im März Leiter des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats geworden, hatte sich zum Justiz- und Kriegsminister aufgeschwungen und war im September Oberbefehlshaber der Armee geworden. Als solcher hatte er die sich in der Auflösung befindliche Armee nochmals zusammen gefaßt, die nun unter dem Befahl des Generals Brussilow nochmals vorstürmte und auch Erfolge errang. Unter diesen Umständen glaubte ich an einen schnellen Frieden nicht mehr, beschäftigte mich dagegen immer mehr mit Fluchtgedanken.

      Ich wollte Sermenewa aber nicht verlassen, um mich in einen andern Ort zu begeben, nein, wenn ich nochmals floh, dann um aus Russland heraus zu kommen, um Deutschland zu erreichen.

      Kerenski war ein von England ausgehaltener Mensch, der auch in den Händen der russischen Hochfinanz war, die hoffte, durch ihn das am politischen Himmel bereits auftauchende Gespenst des Bolschewismus bannen zu können. Er residierte in Petersburg im Winterpalast und hatte sich aus einem mit Frauen bestehenden Leibregiment umgeben. Er unternahm zahlreiche Reisen an die Front, um die Truppen aufzumuntern, von ihm war kein Friedensschluß zu erwarten.

      Was in jenen Tagen in den Städten und Dörfern passierte, läßt sich kaum schildern. Die Menschen schienen sich in Raubtiere verwandelt zu haben. Am schlimmsten trieben es die von der Front kommenden Soldaten. Sie raubten die Magazinen aus, plünderten die Eisenbahnzüge, zerstörten die Stationsgebäude, brannten die Gutshöfe nieder und ermordeten die Besitzer. Man stürmte die Gefängnisse und befreite die Verbrecher und zerschlug die Maschinen der Druckereien. In Samara bemächtigten sich die Soldaten einer Irrenanstalt für Frauen und hausten darin wie Tiere. Wo man Truppen gegen die Marodeure einsetzte, schlossen sich diese den Plünderern an und das Morden wurde in verstärktem Maße fortgesetzt.

      An vielen Frontabschnitten herrschten unhaltbare Zustände . Die massenhaft bei uns ankommenden Deserteure sagten: „Wozu sollen wir in den Schützengräben verhungern, dies können wir auch zu Hause mit unserer Familie.“

      An einem Teil der Front war es vorgekommen, daß die Soldaten die zum Ausbau der Schützengräben gezwungenen deutschen Gefangenen nach Hause schickten. „Geht nach Hause, ihr eßt uns hier nur das Brot weg“, sagten sie und ließen sie durch die Front.

      In der Zeit, in der wir infolge des Nichterscheinens der Zeitungen ohne Nachrichten waren, kam plötzlich eine Zeitung von Vorländer an mich an. Es war der eben erst in Ufa herausgegebene „Vorwärts“. Auf rotem Papier brachte er blutig rote Ideen und die Kunde vom ausgebrochenen Bürgerkriege.

      „Kerenski, der Verräter des Volkes ist geflohen“, lasen wir. Lenin war aus dem Dunkel aufgetaucht, hatte die Regierung an sich gerissen und wie bisher er, hielt sich nun Kerenski verborgen. Beide hatten über Nacht ihre Rollen getauscht. Lenin versprach dem Volk baldigen Friedensschluß, die Gegenpartei wollte davon nichts wissen. Diese bewohnte hauptsächlich die Gouvernements, in denen wir untergebracht waren, also die von den verschiedenen Kosakenstämmen beherrschten Gebieten.

      Wir fürchteten, daß man unsere Abreise im Falle eines Friedensschlußes verhindern würde. Verschiedene Maßnahmen des Hetmans der Orenburger Kosaken wiesen darauf hin. In einem an die Gouvernementsbehörden herausgegebenen Befehl ordnete er an, streng darauf zu achten, daß wir unsere gegenwärtigen Wohnorte beibehielten.

      Die sog. Weißen Armeen entstanden. Im Süden Russlands sammelte General Denikin ein Heer gegen die Bolschewiken. Aus dem Osten rückte Admiral Koltschak mit einer großen Armee gegen Westen vor. Alle deutschen und österreichischen Gefangenen , die er auf seinem Vormarsch antraf, reihte er in seine Truppen ein oder schickte sie hinter sich weit nach Osten. Anfangs blieb er siegreich und warf die roten Verbände. Er machte sich aber durch die rücksichtslosen Requirierungen , die er ausführen mußte, um sein Heer zu verpflegen, bei der Bevölkerung verhaßt.

      Als er zum Rückzug gezwungen wurde, begann für die seinen Verbänden eingereihten Deutschen eine furchtbare Zeit. Das Buch „Zwischen Weiß und Rot“ von Erwin Dwinger schildert das schreckliche Elend, dem abertausende Deutsche zum Opfer fielen. Während die in die Hände der Bolschewisten gefallenen Anhänger Koltschaks auf das grausamste abgeschlachtet wurden, erhielten die von ihnen angetroffenen Kriegs- und Zivilgefangenen die Freiheit. Die ausgeplünderte Bevölkerung versorgten sie mit Lebensmitteln, womit sie sich das Vertrauen und einen großen Anhang sicherten. Es war nicht Menschenfreundlichkeit, die sie zu diesen Maßnahmen trieb, wohl aber kluge Berechnung, die auch die erwarteten Früchte trug. Das von Koltschak ausgesogene Volk empfing sie als Retter und wollte von Koltschak nichts mehr wissen.

      All dies beobachtete ich sehr aufmerksam und als die Truppen Koltschaks sich schon bedenklich unserer Gegend näherte und sich ihm die Kosaken anschlossen, glaubte ich nun, mit der Flucht nicht länger warten zu dürfen.

      Ich hatte vor, mit der Eisenbahn quer durch Russland bis Petersburg zu fahren und hoffte, von dort ohne große Gefahr die Grenze zu erreichen, die ja jetzt an der deutschen Front, nicht weit hinter Petersburg lag. Da der Bürgerkrieg im ganzen Reiche tobte, wußte ich wohl, daß ich nicht ohne Gefahren das Ziel erreichen würde, daß ich auf die verschiedensten Parteien wie Bolschewisten, Menschewisten, Kadetten und andere stoßen würde.

      Nach den zur Zeit gegebenen Umständen mußte ich die Bolschewisten als Freunde betrachten, denn sie waren es, die unserer Heimkehr nichts in den Weg legten, ja uns sogar aufforderten, während die Vertreter der andern Parteien uns streng überwachen ließen, um Fluchtversuche zu verhindern.

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #63
        Zwar waren dies Verfechter der Staatlichen Ordnung, in unserer Lage aber konnten wir keine staatliche Ordnung gebrauchen. Und hielten es deshalb mit den Vertretern der Anarchie.

        Nun teilte ich meinen beiden Hausgenossen meine Absicht zu fliehen mit und forderte sie auf, sich mir anzuschließen. Zu dem Plan, den ich mir ausgedacht hatte, brauchte ich sie.

        Mein Plan war folgender:

        Harloff und ich sollten die Rolle erkrankter Zivilgefangener spielen, die von einem Beauftragten des örtlichen Volkskommissar nach einer Krankenanstalt in Petersburg transportiert wurden. Für mich war ein ärztliches Attest nötig das besagte, daß ich einer Blinddarmoperation bedürfe und für Harloff ein solches, das auf Nierensteine lautete. Dazu brauchten wir zwei Briefbögen mit dem Kopf des Krankenhauses. Diese sollte Harloff besorgen, der mit der Schwester im Krankenhaus gut bekannt war.

        Die Atteste schrieben wir auf diesen Bögen selbst aus. Dies mußte Wegat tun, der in Petersburg geboren war und das Russische in Wort und Schrift beherrschte. Hierauf schrieben wir eine Bescheinigung des Volkskommissars, welche wie folgt lautete:

        „Der Inhaber Dieses, der Bürger Peter Wasiljewitsch Pantschenko, wohnhaft in Sermenewa, Kateisker Gemeinde, wird von dem unterzeichneten Volkskommissar derselben Gemeinde beauftragt, die deutschen Zivilgefangenen Walter Pawlewitsch Garloff und German Ottonowitsch Vogt auf eigene Kosten nach der Stadt Tscheljabinsdk zwecks Heilung ihrer Leiden zu begleiten. Er hat dafür zu sorgen, daß sie sich auf dem Wege nach dort zurückhaltend bewegen und dieselben beim Eintreffen am Bestimmungsort dem dortigen Volkskommissar zu übergeben."

        Ausgestellt am 1. Dezember 1917.
        Der Volkskommissar

        Hierunter folgten Stempel und Unterschrift.

        Einen Schein direkt bis Petersburg auszustellen, war uns zu gewagt, da es kaum glaubhaft gewesen wäre, daß man uns nach einem so weit entfernten Ort schickte.

        Wir schrieben deshalb drei Scheine. Der erste lautete auf Tscheljabinsk, das war etwa ein Drittel der Strecke bis Petersburg. Der zweite lautete auf Kaluga mit der Abgangsstation Tscheljabinsk und der Dritte ab Kaluga bis Petersburg. Den ersten Schein wollten wir in Scheljabinsk vernichten und den zweiten benutzen, während der dritte erst hinter Kaluga vorgezeigt werden sollte.

        Eine große Schwierigkeit bestand in der Beschaffung eines Stempels. Unsere Absicht, einen solchen im Gemeindeamt zu stehlen, gaben wir wegen der damit verbundenen Gefahr wieder auf. Wir mussten also versuchen, selbst einen herzustellen. Harloff unterzog sich dieser schwierigen Aufgabe. Mit unendlicher Mühe schnitzte er mit Messer und einer Nadel, bis das Kunststück gelungen war. Leider war ihm ein Versehen unterlaufen, der Adler hielt das Zepter in der falschen Klaue. Wir hatten aber keine Zeit und auch keine Lust um einen andern anzufertigen und hofften, daß man diesen Fehler nicht bemerken würde.

        Unsere Abreise legten wir auf den 2. Dezember fest. Zur Beschaffung der Reisekosten verkauften wir den größten Teil der Vorräte, den Rest sollten die Gebrüder Elfert an die Gefährten verteilen. Das Geld diente auch dazu, Wegat eine russische Bekleidung zu verschaffen.

        Für den 2.12. hatten wir einen zuverlässigen Baschkiren bestellt, der uns nach der nächsten, 40 Werst entfernten Station fahren sollte. Er war auch rechtzeitig zur Stelle und noch bei Dunkelheit verließen wir Sermenewa ohne Abschied.

        Dem Baschkiren sagten wir, daß wir nach Werchne-Uralsk umziehen wollen.. Schweigend nickte er nur und mit Rücksicht auf die heulenden Wölfe ging es nun in sausender Fahrt in dauerndem Galopp durch die verschneite Steppe bis an unser Ziel. Das war meine letzte Troikafahrt in Russland.

        Als ich den Baschkiren bezahlen wollte, winkte er ab und sagte: „Eures Geldes wegen habe ich meine Pferde nicht abgejagt. Ich weiß, daß ihr in die Heimat wollt. Allah behüte euch.“ Er wußte also, daß wir flohen. Noch einmal, wohl zum letzten Mal in meinem Leben wechselte ich mit ihm den mohammedanischen Gruß mit der dabei üblichen Geste, dann wandte er sich ab und ging zu seinen Pferden.

        Dies war mein Abschied von diesem weltentlegenden Erdenwinkel, von einem Volke, unter dem ich 2 ½ Jahre gelebt hatte, unter denen ich gute und schlechte Tage gesehen hatte, angenehme und widerwärtige Menschen kennen gelernt hatte, um nun neuen unbekannten Gefahren entgegen zu gehen.

        Wir lösten unsere Fahrkarten bis Tscheljabinsk und stiegen in den Zug, der nach zweistündigem Warten eintraf. Unserer Rolle entsprechend setzten wir uns in einen Winkel des Wagens, während sich Wegat mit den Mitreisenden unterhielt. Mit Spannung sahen wir der ersten Kontrolle entgegen, die hinter Orsk stattfand. Der Schaffner kontrollierte aber nur die Fahrkarten ohne nach Ausweisen zu fragen.

        Bereits hinter Troitzk fand die zweite Kontrolle statt. Dieses Mal führte diese kein Schaffner aus sondern ein den Zug begleitender Polizeibeamter. Er ließ sich von Wegat den Ausweis zeigen und prüfte ihn für unser Empfinden mit allzu großer Genauigkeit. Kritisch musterte er uns, aber mit wehleidiger Miene hielten wir seinem Blick stand. Schließlich ging auch diese Nervenprobe vorüber , unsere Papier taten ihre Schuldigkeit , das falsch platzierte Zepter wurde nicht bemerkt. Uns fiel ein Fels vom Herzen als er sich den nächsten Reisenden zuwandte.

        In Tscheljabinsk mußten wir umsteigen. Wegat löste neue Fahrkarten und vernichtete die bis hierher lautenden Bescheinigungen. Einige Stationen hinter Tscheljabinsk erfolgte wieder eine Kontrolle, die unsere Hoffnung auf unbehelligte Weiterreise fast vernichtete. Nach endloser Fragerei nahm der Kontrolleur unsere Bescheinigungen an sich und befahl uns, den eingenommenen Platz nicht zu verlassen. Wir nahmen an, daß er sich auf der nächsten größeren Station, in Jekaterinenburg uns betreffende Weisungen einholen oder aber telegrafisch Rückfrage halten wolle.

        In Jekaterinenburg, dem heutigen Swerdlow (Sverdslovsk)stiegen 8 Matrosen zu uns. Die Matrosen waren damals die Garde Lenins , seine Bluthunde, die er in verschiedene Teilen des Reiches aussandte, die eine Lehre mit Dynamit und blutigem Terror verbreiteten, rohe, wüste Gesellen, die ihre Offiziere ermordet und sich der Schiffe im Hafen von Kronstadt bemächtigt hatten.

        Acht dieser Banditen hatten unseren Wagen bestiegen. Unter den Passagieren befand sich auch ein Offizier. Der Rädelsführer der Matrosen pflanzte sich vor diesem auf , unter wüsten Beschimpfungen riss er ihm die Schulterstücke ab und forderte von ihm die Überlassung seines Platzes. Als der Offizier sich weigerte, riß er ihn hoch und schleuderte ihn in einen Winkel. Sein Blick glitt auch über uns, doch schien er an unserem proletarischen Aussehen nichts auszusetzen haben.

        Ihre wüsten Reden von Freiheit, Gleichheit und Frieden brachte mich auf einen verwegenen Gedanken. Da wir anscheinend entdeckt waren, überredete ich meine Gefährten alles auf eine Karte zu setzen. Zuerst waren sie über meinen Vorschlag entsetzt. Ich schlug ihnen nämlich vor, uns den Matrosen zu erkennen zu geben und sie um ihren Schutz zu bitten. Mehr als uns bereits drohte, konnte uns doch nicht geschehen. Harloff wollte aber mit diesen Bestien nichts zu tun haben. Ich erklärte ihm aber, daß ich mich in meiner Lage, wo nichts mehr zu verlieren sondern nur zu gewinnen war, selbst mit dem Teufel verbinden würde, wenn ich wüßte, daß er mir helfen kann. Schließlich wiligte er ein.

        Nun hieß es aber geschickt Theater spielen.

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #64
          Wir standen auf, gingen zum größten Maulhelden und sagten ihm wer wir seien, dass wir aus Sibirien kommen und von dort wegen der anrückenden Weißen Armee geflohen seien, daß wir nach Petersburg wollen, um uns dort der Sache Lenins zur Verfügung zu stellen. Wir erzählten weiter, daß wir hier im Zuge anscheinend bereits entdeckt seinen und man uns verhaften wolle.

          Der Matrose sprang auf, hieb uns seine Tatze auf die Schulter und schrie: „Tawarischtsche, solche Kerle wie ihr kommen uns wie gerufen. Wir wollen einmal sehen, wer euch auf dem Wege zu uns aufhalten will. Wenn ihr uns helfen wollt, die verfluchten Burschuis auszurotten, so seid ihr uns willkommen.“

          Wir mußten uns zwischen sie setzen, sie gaben uns Brot und bei der kreisenden Wodkaflasche wurde Verbrüderung gefeiert. Obwohl uns innerlich grauste, hörten wir den Erzählungen ihrer blutigen Heldentaten zu. Wir waren unter die Wölfe geraten und mußten mit ihnen heulen. Wegat tat dies so begeistert, daß in mir der Verdacht aufstieg, daß er auch mit dem Herzen dabei sei.

          Der Zug hatte bereits einige Stationen passiert, da erschien der Beamte wieder, der uns die Papiere abgenommen hatte. Er forderte uns auf, sich bereit zu halten, um auf der nächsten Station auszusteigen, da wir als entflohene Gefangene erkannt worden seien. Da trat der eine Matrose auf ihn zu und forderte ihn auf, das Abteil auf dem schnellsten Wege zu verlassen, falls er nicht wünsche, aus dem Fenster geworfen zu werden. Der Beamte wendete ein, daß wir Kriegsgefangene seien und mit falschen Papieren reisen würden.

          Aber höhnisch antwortete der Matrose, daß es keine Kriegsgefangenen mehr gäbe und als nun auch seine Kameraden drohend auf ihn zutraten, zog er es vor, den Wagen zu verlassen. Meine Gefühle der Dankbarkeit gegenüber unseren Beschützern wurde aber auf einer der nächsten Stationen in Gefühle des Entsetzens und des Grauens verwandelt. Der Stationsvorsteher ließ den Zug aus irgendeinem Grunde nicht ausfahren. Als es den Reisenden zu lange dauerte, wurden sie ungeduldig und forderten die Weiterfahrt. Da sie verweigert wurde, nahmen sich die Matrosen der Sache an. Als sich der Fahrleiter immer noch widersetzte, ergriffen sie ihn und banden ihn an die Räder der Maschine. Einer von ihnen sprang auf die Maschine und zwang den Heizer mit vorgehaltener Pistole zur Weiterfahrt.

          Das war der erste Anschauungsunterricht, der mir vom Wesen des Bolschewismus vor Augen geführt wurde, der mir die Vertiertheit der Banditen Lenins an diesem schrecklichen Beispiel zeigte, dem die Menge zustimmend zujohlte, mich aber vor meinen Beschützern in Grauen erstarren ließ.

          Ich brachte es nicht über mich, mich noch länger mit ihnen zu unterhalten, ich lehnte mich in eine Ecke und stellte mich schlafend.

          Wladimir Iljitsch Ulljanow, der sich nun Lenin nannte, der frühere Advokat, Sohn eines adligen Schulinspektors, der bisher in der Schweiz in sicherem Asyl gelebt hatte und im plombierten Wagen durch Deutschland fahrend wieder in Petersburg aufgetaucht war, der seine Stunde erkennend die Mächte der Unterwelt mobilisierte, baute auf ihnen seine macht au, die alle Ordnung zunächst in Russland und in der Folge in aller Welt erschüttern sollte.

          Als ich ihn später sah und sprechen hörte, war ich von ihm enttäuscht. Ein unansehnlicher Mensch mit asiatischen Gesichtszügen, in dem man den Gründer einer neuen Weltanschauung nicht vermutet hätte.

          Als Redner war ihm sein Spießgeselle, der Jude Laib Bronstein, den wir unter dem Namen Lew Dawidowitsch Trotzki kennen, weit überlegen. Durch seine fanatischen Reden putschte er die wilden Instinkte der unter der zaristischen Regierung niedergehaltenen proletarischen Bevölkerung zu blutiger Anarchie auf, die sich in der Vernichtung jeglicher Ordnung austobten und alles, was sich ihnen nicht unterwarf, erbarmungslos vernichtete.

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #65
            Am 4. Tage unserer Reise kamen wir in Petersburg an. Auf dem Bahnhof verabschiedeten wir uns von Wegat, den ich nie wiedergesehen habe. Da Petersburg seine Vaterstadt war, nehme ich an, daß es ihm gelungen ist, dort unterzutauchen als es dort für uns zu gefährlich wurde.

            Mir war die Stadt nicht fremd, war ich doch vor dem Kriege mehrmals dort gewesen. Ich machte mich mit Harloff auf, um meine Schwägerin aufzusuchen. Als ich an der Wohnungstür schellte, machte uns ein etwas vierjähriges Mädchen auf, das bei unserem wenig vertrauenerweckenden Anblick erschreckt fortlief.

            Meine erste Frage an meine nicht minder erschreckte Schwägerin war die nach meiner Tochter, die ich hatte verlassen müssen, als sie sieben Wochen alt war und über die ich bisher ohne jede Nachricht war. „Sie hat dir eben die Tür geöffnet.“ sagte meine Schwägerin. Das war das Wiedersehen mit meinem Kinde. Daß es mir nicht um den Hals fiel, war verständlich, den stoppelbärtigen, schwarzverbrannten Mann wollte sie lange nicht als ihren Vater anerkennen.

            Meine Schwägerin teilte ihre Wohnung mit ihrem Schwager und dessen Familie, der in Libau Steuerinspektor gewesen war und vor der Besetzung der Stadt durch die Deutschen evakuiert worden war. Die Bolschewisten hatten ihn schon mehrmals aufgefordert, bei ihnen wieder Dienst zu tun, da sie ohne Hilfe sachkundiger Beamter doch nicht ganz auskommen konnten. Bisher hatte er sich geweigert. Als ihm aber die Lebensmittelscheine entzogen wurden und er mit seiner Familie vor dem Hungertod stand, blieb ihm keine andere Wahl als sich der Regierung zur Verfügung zu stellen. Er erhielt einen Posten im Osten des Reiches, wo ihm ein Bezirk in der Größe eines Gouvernements unterstand.

            Als ich mit Harloff in Petersburg auftauchte, war er von unserer Anwesenheit nicht sehr erbaut. Er fürchtete, und das wohl mit Recht, daß ihn unsere unerlaubte Anwesenheit in neue Konflikte stürzen könne.

            Unsere Absicht, unsere Flucht in Richtung deutsche Front fortzusetzen, mußten wir aufgeben, da uns von einigen der in großer Zahl in Petersburg sich aufhaltenden Flüchtlingen gesagt wurde, daß sie bereits vor den deutschen Stellungen gewesen seien, ihnen aber dort der Weg versperrt worden sei. Kein deutscher Flüchtling wurde durchgelassen. Man wollte wohl verhindern, daß die bolschewistische Seuche eingeschleppt werde.

            Es war tatsächlich so, daß die Russen die Flüchtlinge ungehindert passieren ließen, sie aber von den Deutschen zurückgeschickt wurden. Ich sprach mit Deutschen und Österreichern, die den weiten, gefahrvollen Weg von Sibirien zurückgelegt hatten und nun, das Ziel vor Augen, es doch nicht erreichen konnten. Einige weinten vor Erbitterung, wußten sie doch nicht, wo sie nun unterkommen und von was sie nun leben sollten.

            So erging es auch Harloff. Es war ihm äußerst peinlich, in den auf das Äußerste beschränkten Räumen meiner Verwandten aufgenommen zu werden und von den für sie selbst nicht ausreichenden Lebensmitteln zehren zu sollen.

            Wir hatten nun reichlich Zeit und Gelegenheit, die bolschewistische Revolution an ihrer Quelle eingehend zu studieren.
            Auf der Newa lag der eingefrorene Kreuzer „Aurora“, der bis dicht an den Winterpalast herangefahren war und diesen unter Feuer genommen hatte, damit Kerenski und seine Weibergarde vertreibend. Auf dem Eis rings rings um den Kreuzer türmten sich die über Bord geschütteten Abfälle, die von Hunden und hungrigen Einwohnern nach etwas Eßbarem durchwühlt wurden. Die Stadt selbst war mit ihrem früheren Aussehen nicht mehr zu vergleichen. Auf den Straßen türmten sich hohe Schneehaufen, das Holzpflaster der Hauptstraße, des Newsi-Prospekts, war teilweise aufgerissen und verheizt worden, die Fassaden der Häuser, besonders die kaiserlichen und großfürstlichen Gebäuden durch Kugelspuren zerstört, die herrlichen Kirchen ausgeraubt und zerstört oder gesprengt.

            Durch die Straßen zogen täglich Demonstrationen die von Bolschewisten, Menschwisten oder Kadetten veranstaltet wurden. Oft stießen die Züge aufeinander und im Handumdrehen war die schönste Straßenschlacht im Gange, bis die Kämpfenden durch von den Dächern prasselnde Maschinengewehrsalven der dritten Partei auseinander getrieben wurden.

            Vor den Zügen der Bolschewisten marschierten stets Frauen und Kinder, die nach den ersten Schüssen in die Häuser und Nebenstraßen flüchteten. Unter den Flüchtenden waren auch stets Harloff und ich, denn wir hatten kein Interesse daran, unser Leben für eine der Parteien zu riskieren. Sobald die Schießerei beendet war, tauchten wir wieder auf und dann sahen wir die Opfer des Kampfes auf der Straße liegen. Es war ein allgemeines gegenseitiges Morden, das sich täglich wiederholte. Die Geschäfte wurden von der hungernden Menge geplündert, die sich auch durch die Sicherungsmannschaften nicht abhalten ließ, die die Plünderer sofort erschossen.

            Ich beobachtete einmal die Plünderung eines im Kellergeschoss liegenden Spirituosengeschäftes. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße standen die Rotgardisten, welche die Plünderer wohl in das Geschäft hinabsteigen ließen, aber jeden, der mit dem begehrten Naß wieder heraufkam, niederschoß. Über die in ihrem Blute liegenden Vorgänger aber kletterten weitere Durstige hinab um sich, nachdem sie sich völlig betrunken hatten, beim Emporkommen erschießen zu lassen.

            Die größte Schießerei erlebte ich anläßlich der aufgeflogenen großen Volksversammlung der „Utschreditjelne-Sobranje“. Lenin hatte diese Versammlung einberufen, auf welcher sich die Abgeordneten der drei Parteien über die künftige Regierungsform einigen sollten. Lenin hatte versprochen, einen diesbezüglichen Mehrheitsbeschluß anzuerkennen. Stundenlang tobte die Redeschlacht hin und her. Er selbst beteiligte sich nicht daran, dafür sprachen Trotzki und Sinowjev umso eifriger. Er saß anscheinend teilnahmslos bei den Stenotypistinnen und unterhielt sich mit ihnen. Plötzlich sah er nach der Uhr, stand auf und klatschte in die Hände. Auf dies Zeichen hin öffneten sich die Türen und herein stürmten bis an die Zähne bewaffnete Matrosen, die sich auf die schwadronierenden Abgeordneten stürzten und sie aus dem Saal trieben.

            Das war das Ende des letzten Versuchs, zwischen den sich bekämpfenden Parteien zu einer Einigung zu kommen, das Ganze war nur eine von Lenin aufgezogene Komödie gewesen.

            Auf der Straße, die von Matrosen besetzt war, spielten sich wüste Szenen ab. Die flüchtenden Abgeordneten wurden verprügelt und ihre Autos beschossen. Die Matrosen machten sich ein Vergnügen daraus, die reifen zu zerschießen und stimmten ein Triumpfgeheul an, wenn sich die wgen überschlugen oder in ein Haus hineinrasten. Wo sich ein Kopf an einem Fenster zeigte, wurde er unter Feuer genommen, Handgranaten flogen durch die Luft und fielen oft in die eigenen Reihen.

            Ich hatte mit Harloff die Versammlung besucht, nur mit Mühe hatten wir einen Hausflur erreicht, in dem wir stecken blieben, bis die wilde Meute sich aus dieser Gegend verzog.

            Es kam die Zeit, in der sich in Brest-Litovsk der deutsche General Hoffmann und der rote Trotzki am Verhandlungstisch gegenübersaßen um über den Frieden zu beraten. Durch immer neue Forderungen verstand es Trotzki, die Verhandlungen hinzuhalten, bis General Hoffmann dieser jüdischen Taktik ein Ende machte und die ergebnislosen Redereien abbrach und die deutschen Truppen wieder marschieren ließ. Damit trat in dem Schicksal der vielen sich in den Grenzgebieten aufhaltenden Zivil- und Kriegsgefangenen eine Wendung ein, die vielen das Leben kostete und andere noch jahrelang von der Heimat fernhielt.
            Am Tage nach Abbruch der Verhandlungen in Brest-Litovsk hingen an allen Anschlagsäulen Petersburgs große Plakate, auf denen alle sich in Petersburg befindlichen geflohenen Gefangenen aufgefordert wurden, sich innerhalb 24 Stunden zu melden. Die der Aufforderung nicht Folgeleistenden wurden mit dem Tode bedroht. Fast alle meldeten sich hierauf, darunter auch Harloff, der keinen andern Ausweg sah. Alle sich Meldenden wurden wieder nach Sibirien gebracht. Harloff sah die Heimat erst zwei Jahre später wieder.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #66
              Ich war entschlossen, der Gefahr zu trotzen und keinesfalls nochmals den Weg in die Verbannung anzutreten. Im Stadtteil Wasili-Ostrov, jenseits der Newa wohnte ein Vetter meiner Frau mit seiner Schwester. Er stammte aus Libau und arbeitete in Petersburg. Seine Schwester ahtte ihn besucht und konnte infolge des Vormarsches der Deutschen nicht mehr nach Libau zurück. Er hieß Erich Richter und seine Schwester Irma. Ich verließ mein bisheriges Quartier und fand bei ihnen Unterschlupf. Im Nebenzimmer wohnten zwei Krankenschwestern, mit denen sie befreundet waren. Von ihnen hatte ich keinen Verrat zu fürchten, ja eine dieser Schwestern hat mich aus einer Situation gerettet, die ich ohne ihr Eingreifen kaum lebend überstanden hätte.

              Nachdem ich eine Woche lang das Haus nicht verlassen hatte, nahm ich meine Gänge durch die Stadt wieder auf, wobei mich Erich Richter immer begleitete, da er zur Zeit arbeitslos war. Wir besuchten meine Schwägerin, schlossen uns Umzügen an solange es nicht knallte und besichtigten die n Newaer Tor vor der Stadt getroffenen Sicherheitsmaßnahmen, die getroffen worden waren, um dem Vormarsch des Feindes zu begegnen.

              Lenin hatte seinen Amtssitz im Smolna-Institut, einem früheren Stift für adlige Damen aufgeschlagen. Eines Tages wurde ihm verraten, daß seine Gegner einen Angriff auf das Institut beabsichtigten. Um diesem zu begegnen, rief er die Besatzung eines Kriegsschiffes, die das Gebäude besetzte.

              Da keine der Türen verschlossen war, gingen auch wir hinein und gelangten bis vor die Türen der damaligen, heute längst erschossenen Parteigrößen. Wir standen vor den Büros Sonowjews, Radecks, Kamenews, Tschitschins und anderer, alles Mitarbeiter Lenins, die Stalin später alle erschießen ließ. Ein lebhaftes Kommen und Gehen von Funktionären, Rotgardisten und Matrosen durchfluteten den Korridor.

              Nachdem wir unserer Neugier Genüge getan hatten, verließen wir wieder unangefochten das Gebäude. Am nächsten Tage aber lief mir eine Gänsehaut über den Rücken als ich in der Zeitung las, daß sich zwei Zivilisten unbefugt im Molna-Institut eingeschlichen hätten, diese aber ergriffen und erschossen worden seien.

              Wieder einmal hatte der Mann mit der Hippe dicht hinter mir gestanden ohne daß ich es ahnte. Hätte es uns nicht genauso ergehen können? In der Folge vermieden wir selbst die Nähe dieses gefährlichen Ortes.
              Noch einmal, wie auch öfter schon, sollte mich der Tod belauern.

              Eines Tages lag ich mit hohem Fieber im Bett, ich hatte mich infolge fehlender warmer Kleidung stark erkältet. Der Mangel an ausreichender Nahrung hatte den Körper geschwächt und die Widerstandskraft herabgesetzt. Richter befand sich im Nebenzimmer bei den Schwestern, seine Schwester war ausgegangen, um irgendetwas Eßbares ausfindig zu machen. Plötzlich ging die Tür auf und herein traten vier Rotgardisten mit Gewehren in den Händen und Handgranaten am Koppel hängend. Blitzartig wurde mir klar, daß meine Unterkunft verraten und meine Stunde nun doch wohl gekommen sei. In solchen Momenten rasen die Gedanken in Sekundenschnelle durchs Hirn, ganze Lebensabschnitte huschen vorüber um sich wieder auf einen Gedanken, einen Ausweg aus der tödlichen Gefahr zu konzentrieren. Ich fand keinen und so beschloß ich, mich besinnungslos zu stellen um den mich rüttelnden Genossen nicht Rede und Antwort stehen zu müssen, da sie mich an meiner Aussprache ja als Nichtrussen erkennen mußten.

              Die andern drei Kerle rissen Schränke und Schubfächer auf und warfen den Inhalt auf den Boden. Durch den Lärm aufmerksam geworden, kam eine der Schwestern ins Zimmer. Die Situation sofort erkennend ging sie schnell in ihr Zimmer zurück, wie ich später erfuhr, um Erich Richter anzuweisen, schnell zu verschwinden.

              Als sie gleich darauf wieder eintrat, fuhr sie wild auf die Banditen los und schrie sie an, ob sie wohl verrückt seine, hier im Zimmer eines totkranken Genossen wie Einbrecher zu hausen.

              Höhnisch wurde ihr erwidert, daß sich hier ein Deutscher verborgen halte, den man abholen und liquidieren wolle. Geistesgegenwärtig aber machte ihnen die Schwester klar, daß hier selbstverständlich ein Deutscher wohne und zwar der russische Staatsangehörige Erich Richter, der bereits jahrelang hier bei Siemens-Schuckert arbeite, jetzt aber während seiner schweren Erkrankung von ihr gepflegt werde. Aus einem Schubfach suchte sie die Papiere des richtigen Richter heraus und gab sie als die meinen aus. Sie sparte nicht an Schimpfworten, an denen die russische Sprache ja reich ist und energisch appellierte sie an das proletarische Solidaritätsgefühl einem Genossen gegenüber und versuchte, die Kerle davon zu überzeugen, daß sie einer böswilligen Irreführung zum Opfer gefallen seien.

              Als die vier noch unschlüssig zögerten, drängte sie dieselben einfach zur Tür hinaus und schloß sie hinter ihnen. Ich kann wohl sagen, so dicht an der Schwelle des Jenseits hatte ich noch nicht gestanden und ich muß diese Schwester wohl als Lebensretterin bezeichnen.

              Sie heißt heute Akulina Petrowna Richter.

              Daß meine Lage ernst gewesen war, erfuhr ich am nächsten Tage, als bekannt wurde, daß man einen österreichischen Offizier in einem Nachbarhause ausfindig gemacht und ihn sofort im Hofe erschossen hatte.

              Das Geschick des Offiziers berührte mich tief. Durch Vermittlung der beiden Schwestern, die er öfters besuchte, war ich mit ihm bekannt geworden und hatte manche Partie Schach mit ihm gespielt, die dadurch besonders interessant waren, da er blind spielte. Leider war mir sein Name und seine Heimatanschrift nicht bekannt, konnte also seine Angehörigen nicht unterrichten. Wir kannten ihn nur unter dem Namen Karl Pawlowitsch, also nur seinen und seines Vaters Vornamen.

              Wieder saßen in Brest-Litowsk General Hoffmann und Trotzki am Verhandlungstisch und dieses Mal kam der Friedensschluß zustande. Zur Freilassung der Gefangenen wurde beschlossen, daß zuerst Frauen und Kinder, dann die Männer über 45 Jahre, hierauf die Invaliden und Kranken und anschließend die jüngeren Männer entlassen werden sollten.

              Obwohl ich mich noch auf einige Zeit des Wartens gefaßt machte, glaubte ich doch nach etwa Monatsfrist das einst so gastliche, nun hungernde und durch den Bürgerkrieg zerrüttete Land verlassen zu können. Ich nahm meine täglichen Streifzüge durch die Stadt wieder auf, erkundigte mich mehrmals bei der schwedischen Gesandtschaft, die unseren Schutz übernommen hatte, wann ich mit der Ausreise rechnen könne. Immer wieder wurde ich auf spätere Zeit vertröstet. Frauen und Kinder waren schon fort, auch die älteren Männer, aber die Invaliden nahmen kein Ende.

              Da traf ich eines Tages die „Schwarze Maske“, den Ringkämpfer, den ich in Orenburg kennen gelernt hatte. „Morgen fahr‘ ich nach Hause“, rief er mir zu. Meine verwunderte Frage, ob er zu den Invaliden zähle, beantwortete er lachend mit „Ja.“ Was ihm fehle, wisse er allerdings nicht, er habe aber eine ärztliche Bescheinigung, laut welcher ihm die Invalidität zugebilligt worden sei. Sie koste ihn zwar 23 Rubel, aber das sei sie sie ihm schon wert, denn in deren Besitz könne er nun abreisen.

              Ich fragte ihn, wie er zu der Bescheinigung gekommen sei, worauf er erstaunt fragte, ob es mir nicht bekannt sei, daß man sich nur der zur Untersuchung der Invaliden eingesetzten Ärzte-Kommission vorstellen brauche, daß man aber im dem im Vorzimmer sitzenden Soldaten 3 Rubel und den Ärzten 20 Rubel geben müßte, man dann aber zum Invaliden erklärt würde. Er machte mich dann noch mit dem dabei einzuhaltenden Verfahren bekannt und eilte dann freudestrahlend weiter.

              Noch am gleichen Tag besorgte ich mir 23 Rubel. Am nächsten Vormittag suchte ich die mir genannte Stelle auf. Im Vorzimmer saß ein Soldat, der die Schutzbriefe der Erschienenen sammelte. Jeder legte in den Schutzbrief einen 20 Rbl. und einen 3 Rbl.-Schein. Die 3 Rbl-Scheine nahm der Soldat an sich, die Schutzbriefe mit ihrem Inhalt trug er ins andere Zimmer. In kurzen Abständen wurden die Untersuchten entlassen und der nächste hereingerufen. Als ich aufgerufen wurde und das Zimmer betrat sah ich mich drei Ärzten gegenüber. Zwei saßen an einem Tisch und schrieben, während der dritte die Untersuchung vornahm. Ich mußte mich entkleiden und wurde so eingehend abgehorcht und beklopft, daß ich bereits fürchtete, man würde nichts Krankhaftes an mir finden. Darauf wurde ich entlassen ohne mir das Resultat bekannt zu geben.

              Nach etwa einer halben Stunde händigte mir der Soldat wieder meinen Schutzschein aus und eine Bescheinigung, welche besagte, - daß ich gesund sei.

              Obwohl ich dies geahnt hatte, traf mich dieser Bescheid hart. Meine geborgten 23 Rubel waren zum Teufel und die Hoffnung auf eine baldige Ausreise auch. Einer der Anwesenden bemerkte meine Enttäuschung und riet mir, es morgen nochmals zu versuchen. Ich glaubte, er wolle seinen Spott mit mir treiben und fuhr ihn unwillig an, er aber sagte, daß er auch zum zweiten Male hier sei und hoffe, heute als Invalide hier heraus zu gehen. Nicht jeder könne als Invalide eingestuft werden, es müßten auch einige Gesunde dabei sein und wer eben heute Pech habe, müsse es morgen wieder versuchen.

              Um mich von der Richtigkeit seiner Angaben zu überzeugen, wartete ich, bis sein Fall erledigt war. Als er seinen Schein erhielt, zeigte er ihn mir triumphierend, er war tatsächlich als Invalide anerkannt worden.

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              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #67
                Mit neuen Hoffnungen ging ich nach Hause, besorgte mir nochmals 23 Rubel und stand am andern Vormittag wieder nackt vor den Ärzten. Nichts deutete darauf hin, daß man mich wiedererkannte, genau wie gestern wurde ich auf das Genaueste untersucht und wieder wartete ich im Vorzimmer auf das Ergebnis. Als ich meinen Schein erhielt, sah ich schon an dessen Format, daß er von dem gestrigen abwich. Er bestätigte meine Invalidität. Ich litt an Miocorditis. Was das ist, wußte ich nicht und wenn mich jemand gefragt hätte, was mir fehle, so hätte ich darüber keine Auskunft geben können. Erst an Hand des Lexikons habe ich festgestellt, daß ich angeblich an einer Herzmuskelentzündung litt. Auf meinem eiligen Gang nach Hause stellten sich weder Atemnot noch Herzklopfen ein, wie es doch eigentlich dem Befund nach hätte eintreten müsssen. Und doch hatten die Ärzte nicht eine erstbeste Krankheit erfunden, es mußte mit meinem Herzen irgendetwas nicht in Ordnung sein, denn ich bin wegen eines Herzfehlers nicht Soldat geworden und auch später hat ein Arzt einen Herzfehler bei mir festgestellt, obwohl ich davon noch nie etwas bemerkt habe.
                Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #68
                  Meine neue Nichte und ihr Bruder waren glücklich über den gelungenen Streich und auch ich freute mich, ihnen behilflich sein zu können.

                  Noch einmal suchte ich meine Schwägerin und meine kleine Tochter auf, um mich von ihnen zu verabschieden. Das Kind konnte ich nicht mitnehmen, wußte ich doch nicht, wie sich meine Reise gestalten würde. Meine Schwägerin hätte sie auch nicht mitfahren lassen, da meine Zukunft völlig ungewiß war und sie sich an das Kind so gewöhnt hatte und in ihm ihren einzigen Lebensinhalt sah. Hinzu kam, daß meine Tochter in mir immer noch den fremden Mann sah, an den sie sich nicht gewöhnen konnte.

                  Sie blieb in Petersburg, bis ihre Tante starb, erst mit 17 Jahren kam sie zu mir.

                  Am 5.4.1918 war es endlich soweit, daß ich mit meiner Nichte abfahren konnte. Wenn wir aber geglaubt hatten, unsere Reise nun unangefochten bis in die Heimat fortsetzen zu können, so sollten wir uns arg getäuscht haben.

                  In verschlossenen Waggons fuhren wir bis Kowno, wo wir alle aussteigen mußten. In geschlossenem Zuge führten uns deutsche Soldaten zu einer Kaserne, die als Flüchtlingslager diente. Im Hofe wurden wir sortiert und zwar in solche, die nach Deutschland fahren wollten und in solche, die in den Baltischen Provinzen beheimatet waren. Zu letzteren gehörte meine Begleiterin. Auch ich wollte vor meiner endgültigen Reise in die Heimat den Ort meiner früheren Tätigkeit und das Grab meiner Frau aufsuchen.

                  „Littauer“ wurde unsere Gruppe genannt und am Ton der Wachmannschaften hörte ich, daß man uns nicht wohlgesonnen war. Ich wollte gegen diesen Ton protestieren, aber man verbot mir den Mund. So hatte ich mir unsere Ankunft auf deutschem Gebiet nicht gedacht. Mit Erbitterung erinnerte ich mich daran, daß ich für das Deutschtum im Baltikum mehr getan hatte als jeder von ihnen, die man höflich und korrekt behandelte.

                  Mein Chef hatte vor dem Kriege die Germanisierung Livlands geleitet, hatte 72.000 Deutsche aus dem Reich und den deutschen Kolonien in Russland ins Baltikum geholt und ich selbst war in den Kolonien gewesen, hatte dort Leute angeworben und ihren Transport geleitet, hatte meines Deutschtums wegen manchen heimlichen und offenen Kampf mit der einheimischen Bevölkerung, den Letten, bestanden und nun verächtlich als „Littauer“ bezeichnet zu werden, das fand ich empörend und rüttelte an meinem Glauben an die bisher als unfehlbar gehaltene deutsche Gerechtigkeit.

                  Die beiden Gruppen wurden in getrennten Gebäuden untergebracht und wie wir später feststellten, war auch die Verpflegung unterschiedlich. Daß diese unterschiedliche Behandlung nur eine Maßnahme untergeordneter Stellen war, ersahen wir daraus, daß an dem Tage, an dem ein General das Lager inspizierte, wir die gleiche Verpflegung erhielten wie andere.

                  Unser Aufenthalt im Lager Kowno wurde als Quaratäne bezeichnet. Der Hauptgrund aber bestand darin, daß man unsere politische Zuverlässigkeit prüfen wollte. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt, das Verlassen verboten, ebenso der Verkehr mit der andern Gruppe. Die Überwachung erfolgte durch Landwehrmänner, die immer wieder die sich am Zaun ansammelnden Kownoer Juden vertreiben mußten. Die uns Lebensmittel zu Überpreisen anboten. Nur in der ersten Zeit meiner russischen Gefangenschaft war ich ähnlich behandelt worden. Aber das war Feindesland gewesen und deshalb nicht anders zu erwarten. Männer und Frauen schliefen bunt durcheinander gewürfelt auf Pritschen. Da zum Aufstellen von Tischen und Stühlen der Raum fehlte, nahmen wir auch unsere Mahlzeit auf den Pritschen ein. Diese primitive4n Verhältnisse waren nicht geeignet, die „Littauer“ in ihrer Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen unter deutscher Herrschaft zu stärken.

                  Am 15. Tag unserer Quarantäne wurden wir in eine Entlausungsanstalt geführt. Mit zerknautschten Kleidern und Läusen verließen wir sie wieder. Die Läuse hatte ich mir dort erst geholt.

                  Am nächsten Tage wurden wir entlassen. Das heißt nun nicht, daß wir fahren konnten, wohin wir wollten, sondern wir mußten das Reiseziel angeben, und erhielten dann einen Schein, der uns zur Fahrt nach dem angegebenen Ziel berechtigte, durften aber auf keiner andern Station aussteigen.
                  Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #69
                    Da ich zunächst meinen früheren Chef, den Baron von Wolff aufsuchen wollte, der in Riga lebte, hatte ich Riga als Reiseziel angegeben. Bevor meine Begleiterin zu ihren Elternnach Riga fuhr, begleitete sie mich nach Riga und weiter nach dem Gute Lindenberg, wo sie schon einmal meine Frau besucht hatte.

                    Von Baron Wolff erfuhr ich alle Einzelheiten die sich nach meiner Abreise nach Sibirien bis zum Tode meiner Frau ereignet hatten. Er schilderte mir ihre letzten Tage und Wochen, die er ihr nach bestem Können erleichtert hatte. Meine wertvollsten Sachen hatte er in eine Kiste gepackt und mit nach Riga genommen. Dort aber war sie aufgebrochen worden und des größten Teils ihres Inhalts beraubt worden. Meine Möbel waren der Obhut eines auf dem Gute zurückgebliebenen Kutschers anvertraut worden.

                    Von Riga aus fuhren wir mit der Bahn bis Üxküll, von wo auch das Gut Lindenberg zu erreichen war. Auf dem Kirchhof in Üxküll war meine Frau begraben worden. Wir suchten das Grab, das wir nach der Beschreibung des Baron Wolffs zu finden hofften. Alle unsere Bemühungen blieben aber erfolglos, der Kirchhof wies nur Granattrichter und zerschossene Grabkreuze auf.

                    Den Weg nach Gut Lindenberg, den ich so oft gefahren und geritten war, fand ich nicht mehr. Die ganze Gegend war verändert. Wo früher gepflegter Wald gestanden hatte, waren jetzt kahle Flächen, neue Wege und Knüppeldämme waren angelegt worden, Häuser waren verschwunden oder standen nur noch als Ruinen da. Erst nach mehrstündigem Umherirren kamen wir auf dem Gute an.

                    Sonderbarerweise war es nicht verwüstet, sämtliche Gebäude standen unversehrt, so daß ich in Bezug auf das Schicksal meiner Möbel voll bester Hoffnung war. Mein erster Gang war der in meine frühere Wohnung, wo ich von einem Leutnant ob meines unzeremoniellen Eintritts angebrüllt wurde. Ich brüllte zurück und erklärte ihm wer ich sei und was ich wolle, da wurde er wieder friedlich. Es war der Ortskommandant, der seine Dienststelle in meiner Wohnung aufgeschlagen hatte.

                    Von der Einrichtung meiner Wohnung war nichts mehr vorhanden. Der Leutnant gab an, er habe sie leer vorgefunden und sich Möbel aus andern Häusern, also aus dem Schloß besorgt. Meine weiteren Nachforschungen nach meinem Eigentum blieben erfolglos. Der Kutscher, den ich fragen wollte, war nicht mehr da.

                    Die ein Jahr vor Ausbruch des Krieges von meiner Frau eingebrachte Einrichtung einer umfangreichen Wohnung blieb ebenso unauffindbar wie ihr Grab. Mit leeren Händen und enttäuschten Hoffnungen traten wir wieder den Weg nach Riga an. Dort übernachteten wir und nachdem ich anderntags nochmal Baron Wolff aufgesucht hatte, gingen wir zum Bahnhof, um nun endgültig die Heimreise anzutreten.

                    Meine aus Russland herausgeschmuggelte Verwandte schrieb mir später, daß es sie in Libau große Mühe gekostet habe, vor den Behörden ihre Identität nachzuweisen, da man sie mit dem auf den Namen „Vogt“ ausgestellten Ausreiseschein nicht als „Richter“ anerkennen wollte. Es mußten erst ihre Eltern und einige andere zeugen ihre Identität bestätigen. Besser wäre es gewesen, sie hätte den Schein gar nicht vorgezeigt.

                    Nach neunjähriger Abwesenheit traf ich wieder in meiner Heimat ein, nach der ich mich in Sibirien so gesehnt hatte, und die mich nun so enttäuschte. In mir lebte die feste Überzeugung vom Endsiege, was ich aber hier antraf war allgemeine Mutlosigkeit, Hunger, Hoffnungslosigkeit, woran auch die eben in Gang sich befindliche erfolgreiche Frühlingsoffensive nichts änderte.

                    Überall konnte ich die ersten politischen Zersetzungserscheinungen beobachten, immer wieder stieß ich auf die mir so bekannten ersten Anzeichen des Verfalls der Disziplin und Ordnung und noch einmal erlebte ich die langsame aber stete, sich genau nach dem russischen Vorbilde sich entwickelnde Revolution. Auch hier erhob sich im Hintergrund bereits der Bolschewismus, als dessen Vorboten genau wie in Russland die Besatzung der Kriegsschiffe auftraten. Ich hatte den Bolschewismus und seine Scheußlichkeiten an seiner Quelle studiert und das drohende Unheil machte mir Sorge.

                    Abgerissen, mittellos, betrat ich die Heimat, hoffnungslos sah ich die Zukunft vor mir liegen.

                    Ich könnte nun meinen Bericht schließen, denn ich hatte die Absicht, nur über meine Erlebnisse in Russland zu schreiben. Aber auch vor und nach dieser Zeit traten in mein Leben Ereignisse und Begebenheiten ein, die aus dem Rahmen des Lebenslaufes eines sittsam dahin schreitenden Erdenbürgers heraus fallen. Zeiten behaglicher Zufriedenheit und des Wohllebens wechselten ab mit mühseligem Aufbau und völliger Vernichtung meiner Existenz.
                    ---

                    So, hier möchte ich schließen und hoffe, dass euch der Bericht gefallen hat und
                    grüße die Leser herzlich!

                    Helen
                    Zuletzt geändert von Helen; 01.06.2010, 20:25.

                    Kommentar

                    • AlAvo
                      • 14.03.2008
                      • 6185

                      #70
                      AW: Aus dem Tagebuch eines alten Mannes

                      Hallo Helen,

                      vielen herzlichen Dank für das Einstellen des Tagebuches!

                      Durch Deine Bemühungen wurde mir das Leben, die Umstände, die Sorgen und Nöte der damaligen Zeit, sehr spannend nahegebracht!

                      Nochmals vielen Dank!


                      In diesem Sinne...
                      ...viele Grüße

                      AlAvo
                      War Mitglied der Lettischen Kriegsgräberfürsorge (Bralu Kapi Komiteja)

                      Zirkus- und Schaustellerfamilie Renz sowie Lettland

                      Reisenden zu folgen ist nicht einfach, um so mehr, wenn deren Wege mehr als zweihundert Jahre zurück liegen!


                      Kommentar

                      • moni_g-f
                        Erfahrener Benutzer
                        • 22.04.2010
                        • 948

                        #71
                        Hallo Helen,

                        vielen lieben Dank für das Einstellen dieses ausführlichen und informativen Tagebuchs! Ich habe es immer gerne gelesen und mich auf die Fortsetzungen gefreut. Mir ist dadurch das mühsame, harte Leben von damals sehr nahe gebracht worden.

                        Vg Moni_g-f
                        Der Sinn einer Behörde besteht in ihrer Existenz.

                        Geduld ist das Einzige, was man verlieren kann, ohne es zu besitzen.

                        Kommentar

                        • Fiehn
                          Erfahrener Benutzer
                          • 16.09.2008
                          • 768

                          #72
                          Sehr interessanter Lesestoff! Was soll ich jetzt lesen, wenn mir nach solchen Berichten ist?

                          Vielen Dank für die Einblicke in die damalige Zeit.
                          Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                          Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                          FN meiner Forschung

                          Meine Orte

                          Kommentar

                          • Wolfg. G. Fischer
                            Erfahrener Benutzer
                            • 18.06.2007
                            • 4947

                            #73
                            Hallo Helen,

                            wie ging es weiter? Gibt es eine Fortsetzung?

                            Mit besten Grüßen
                            Wolfgang

                            Kommentar

                            • gudrun
                              Erfahrener Benutzer
                              • 30.01.2006
                              • 3277

                              #74
                              Hallo,

                              ich hoffe auch, daß es mit der Lebenserinnerung noch weiter geht.
                              So einen Schatz möchte ich auch haben.

                              Viele Grüße
                              Gudrun

                              Kommentar

                              • Helen
                                Erfahrener Benutzer
                                • 04.02.2010
                                • 164

                                #75
                                Ich habe es gern hier veröffentlicht. Der letzte Teil passt zwar nicht unbedingt in dieses Forum, aber es bildet den privaten Abschluss. Und der war so:
                                ---
                                Ich habe Vollmacht gehabt über Hunderttausende zu verfügen und habe ohne einen Pfennig in der Tasche als Tippelbruder die Lüneburger Heide durchstreift. Ich habe Lumpen kennen gelernt und habe mit bedeutenden Menschen Verbindung gehabt. Meinem Gedächtnis besonders eingeprägt haben sich davon das mit dem Breslauer Fürstbischof, Kardinal Dr. Bertram eingenommene Frühstück . die mehrmaligen Unterredungen mit dem Sohn des letzten Königs von Neapel, dem Herzog von Calabrien, die Unterhaltungen mit der kürzlich tödlich verunglückten Prinzessin Antoinette von Bourbon beider Sizilien und ich gedenke der Tochter des letzten Bayernkönigs und den Druck ihrer schwieligen Arbeitshand.

                                Ich gedenke auch der Irrungen meines Lebens. Ich gehörte zum Personenkreis der sog. „Alten Kämpfer“. Bereits vor der Machtübernahme durch Hitler war ich seiner Partei beigetreten. Es war ja so begeisternd, was er uns versprach und wir hielten ihn für den zweiten Messias.

                                Als er sein Ziel erreicht hatte, erhielt ich ein wichtiges Amt. Ich wurde Nachrichtendienstleiter. Aber da hatte man den Bock zum Gärtner gemacht. In meiner Einfalt glaubte ich, zunächst Mißstände in den eigenen Reihen aufdecken zu müssen. Das war ein fataler Irrtum meinerseits, wie mir recht bald klar gemacht wurde.

                                Dann wurde die Geheime Staatspolizei geschaffen und die Nachrichtendienststelle aufgelöst, und ich war froh, dieses so mißverstandene Amt abgeben zu können. Bald hatte ich ein neues Amt. Ich wurde Amtsleiter der NS Volkswohlfahrt. Als solcher holte ich als guter Bekannter der vielen Fabrikbesitzer des Ortes von ihnen ganz bedeutende Spenden heraus. Ich kaufte davon Schuhe, Kleidung und Lebensmittel und verteilte sie unter den Bedürftigen des Ortes. Aber das hatte ich wieder falsch gemacht. Ich wurde dahin belehrt, daß ich über die gespendeten Geldbeträge nicht selbst verfügen könne, sondern diese abführen müsse und nur verteilen könne, was mir von übergeordneten Stellen zugeteilt würde. Der Erfolg war, daß die Fabrikanten ihre Taschen verschlossen und die Dummen waren die Armen des Ortes, die nun nur noch Almosen erhielten. Nun war ich nur noch Almosenverteiler und meine Arbeit bestand nur in der Unterzeichnung der Spendenzettel. Das behagte mir nicht, dazu bedurfte es nicht des Titels eines Amtsleiters und ich stellte mein Amt zur Verfügung. Das ging aber auch wieder nicht. Ich wurde belehrt, daß man ein übertragenes Amt nicht zur Verfügung stellen könne sondern warten müsse, bis es wieder abgenommen wird. Nun – dagegen glaubte ich ein Mittel gefunden zu haben. Ich verließ den Ort und wechselte meinen Wohnsitz mit der Kreisstadt. Nun mußte notgedrungen ein Nachfolger ernannt werden. Viele warteten schon drauf.

                                Wieder hatte ich mich geirrt. In der Stadt wartete man schon auf mich. Der bisherige Amtsleiter der NSV, ein Rechtsanwalt, hatte auch seinen Wohnsitz gewechselt und das unbesetzte Amt wurde – mir übertragen.

                                Mein Sträuben wurde ignoriert. Mein Vorgänger hatte seine Funktionen wegen Zeitmangel der Frauenschaft übertragen, die die Verteilung der Spenden nach ganz andern Gesichtspunkten vornahm als mir richtig erschien, z.B. schlossen sie die Familien von KZ-Häftlingen von der Betreuung aus, während ich zwischen ihnen und andern Hilfsbedürftigen keinen Unterschied machte. Es gab einen hartnäckigen Kampf und viel Ärger, bis ich die Befugnisse meines Amtes den Frauen wieder entwunden und wieder in meiner Hand hatte.

                                Ich hatte nun wieder viel Arbeit, aber ich tat sie ungern. In den verschiedenen Organisationen der Partei in der Stadt und auch anderwärts machten sich Elemente breit, denen das Können und die moralische Qualifikation zur Ausübung ihres Amtes fehlte. Dies traf besonders bei der Arbeitsfront zu, wo die Amtswalter versuchten, ihren Chef Ley im Saufen und Abhalten wüster Reden zu übertreffen.

                                Wenn ich sah, daß auf den Dörfern Oberschweizer und Schweinemeister als Bürgermeister angesetzt wurden, die von Verwaltungssachen keine blasse Ahnung hatten und es nur ihrem gewalttätigen Wesen verdankten, als für diesen Posten geeignet zu erscheinen, dann verstärkte sich meine Verachtung dieser Partei immer mehr, dieser Partei, der ich mich einmal mit begeistertem Herzen angeschlossen hatte und die mich nun enttäuschte.

                                Parteitag in Nürnberg
                                Ich in der MItte mit zusmmengelegten Händen
                                Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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