Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #46
    Als jedoch einer von uns, ich will seinen Namen nicht nennen, ihren Kummer nicht länger mit ansehen konnte, opferte er sich. Als er zu mitternächtlicher Stunde der Frau in ihrer Hütte Trost spendete, klopfte es leicht an die Tür. Man kann sich den Schrecken unseres Freundes vorstellen als er merkte, daß noch ein zweiter Trostspender Einlaß begehrte. Als der Klopfende das ängstliche Geflüster der unvorsichtigen Frau hörte, änderte er seine Rolle und übernahm die des Tugendwächters. Er donnerte an die Tür und verlangte sofortigen Einlaß, da er der stellvertretende Starschena sei und sehen wolle, was hier getrieben würde. Unser Freund zögerte nun nicht länger, er sprang wie ein Akrobat aus dem Fenster und verschwand im Dunkel der Nacht. Um seine Spur zu verwischen irrte er längere Zeit außerhalb des Dorfes herum und kehrte erst nach Stunden auf Umwegen, über Zäune kletternd, in sein Quartier zurück. Der Frau muß es wohl gelungen sein, ihren zweiten Besucher zu besänftigen, denn wir haben von dieser Affäre nichts mehr gehört. In der Folge haben wir uns aber gehütet, der Frau in ihrer Liebesnot beizuspringen.

    Drei Tage nach unserer Ankunft in Sermenewa erhielten die Damen Stiller und Mossak den Befehl, wieder nach Kaga zurück zu kehren. Da aber nach einer Verfügung des Gouverneurs den weiblichen Gefangenen ihr Aufenthaltsort nicht vorgeschrieben werden durfte, rieten wir ihnen, dem Befehl nicht Folge zu leisten. Es war ja auch undenkbar, wie sie ohne männlichen Schutz hätten in Kaga leben sollen. Der Urjadnik war in arger Verlegenheit. Von seinem nächsten Vorgesetzten hatte er den Befehl,, die beiden nach Kaga zu schicken und wir schüchterten ihn mit der Verfügung des Gouverneurs ein und drohten mit einer Beschwerde beim Minister. In seiner Not wählte er den Weg, sie als Abgereiste zu melden und so blieben sie bei uns. Ausschlaggebend war wohl für den Urjadnik, daß Vorländer wie schon in Kaga, auch diesem Hüter der Ordnung sein kleines Gehalt aufbesserte, wofür er natürlich auch Gegenleistungen aufbringen mußte.

    Im Dezember erhielten die Damen Stiller und Mossak die Nachricht, daß ihr vor Jahresfrist gestelltes Gesuch um Genehmigung ihrer Ausreise nach Deutschland bewilligt worden sei. Innerhalb einer Woche mußten sie abreisen, was ihnen nicht schwerfiel. Die geldlichen Schwierigkeiten räumte wieder Vorländer aus dem Wege. Frl. Stiller wandte sich nach Berlin und durch sie erhielten meine Eltern die erste Nachricht über meinen Aufenthaltsort und mein Befinden.

    Frl. Mossak suchte Verwandte Poleys in Stettin auf, wo sie dessen Rückkehr abwartete und wo sie von ihm – nach manchen Irrungen mit seinem inzwischen geborenen Sohn – geheiratet wurde.

    Die Langeweile, die so oft die Ursache übler Taten ist, verleitete mich, die kleinen Schwächen und Fehler meiner Gefährten in Versen zu behandeln. Das Machwerk schmuggelte ich über Sperling ein, der verhältnismäßig gut darin abgeschnitten hatte, in der Erwartung, daß er es weitergeben würde. Er fand es auch am gleichen Tage und brachte es – mir mit der Aufforderung, es zu lesen und unauffällig weiter zu geben. Das geschah natürlich auch und so wanderte es von Hand zu Hand, Beifall, Schadenfreude, Ärger, gegenseitiges Mißtrauen und eine Flut von Antworten hervorrufend.

    Als den Verfasser wurde fast allgemein auf Harlow getippt. Von der Tänzerin Anita, die in dem Gedicht arg gerupft worden war, erhielt er einen saugroben Brief, den er im Bewußtsein seiner Unschuld ebenfalls kursieren ließ, was ihren Zorn noch mehr entfachte. Da sich auf ihre energische Aufforderung ihrer Beschützer Amann einschaltete und dieser Harlow zur Rede stellte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich als Verfasser zu melden. Aber man glaubte mir nicht und Harlow blieb das Karnickel nach wie vor. Hätte ich geahnt, welche Epidemie ich mit meinen Versen heraufbeschwören würde, so hätte ich sie nicht geschrieben. Fast jeder versuchte sich nun in mehr oder weniger gelungener Weise als Verseschmied. Manches dieser Erzeugnisse konnte man nur mit Bauchgrimmen verdauen, nur Johannsen machte eine rühmliche Ausnahme und wir haben uns so manchen gereimten Brief zugeschickt. Die meisten aber dichteten nach dem Rezept „Reim dich oder ich freß' dich“.

    Auch Poley versuchte sich in diesem Metier und griff Johannsen scharf an. Dieser vermutete mich als Verfasser und erboßt darüber schickte er mir ein geharnischtes Sonett, dessen erster Vers begann:

    „Blitzhund nennt man dich zu Hause,
    Witzbund willst du hier wohl sein,
    Was du sinnst in stiller Klause
    Ist nicht witzig und nicht fein.“

    Im Gefühl meiner Unschuld blieb ich ihm die Antwort nicht schuldig, diese begann mit dem Vers:

    „ Blitzhund war nicht zu verkennen,
    Damit kannst du mich nur meinen,
    Daß die Leute mich so nennen
    Will ich sicher nicht verneinen.“

    Hieraus entwickelte sich zwischen uns ein reges Versturnier, das aber in einer durchaus freundschaftlichen Weise ausklang. Wie alles im Leben so nahmen auch diese Hanseleien ein Ende und Frieden kehrte wieder in unsere Kolonie ein.
    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #47
      Eines Nachts wurden wir durch den Ruf „Poschar!“ (Feuer) geweckt. Unser Zimmer war hell erleuchtet, so daß wir glaubten, unser Haus brenne. Schnell fuhr ich in die Kleider und eilte hinaus. Da sah ich, daß das Gehöft eines benachbarten Russen in Flammen stand. Ich eilte dorthin und da das Tor verschlossen war, kletterte ich drüber um das Vieh zu retten. Ich fand aber weder Pferde noch Kühe, nur einige Hühner flatterten herum. Ich fing sie und warf sie über das Tor, das eben von außen eingeschlagen wurde, während der Besitzer, erst halb angezogen, aus dem noch nicht brennenden Wohnhause stürzte.
      Die herbei geeilten Baschkiren, die um ihre elenden Holzhütten bangten, schrien wild durcheinander nach der „Maschina“ der Feuerspritze, ohne jedoch Schritte zu deren Herbeischaffung zu unternehmen.

      Nachdem die Nebengebäude fast heruntergebrannt waren, erschien endlich die Maschina. Mit unendlichem Geschrei wurde erst mal an ihr herumgebastelt ohne daß sie jedoch in Funktion trat. Sie war ganz neu und wahrscheinlich noch nie gebraucht worden, niemand wußte damit umzugehen.

      Da wir aber an der Bekämpfung des Feuers ebenso interessiert waren als die andern Dorfbewohner, eignete sich der Kapitän das Kommando an und in Kürze sandte die Spritze, nur von uns bedient, ihren Wasserstrahl in das Feuer. Es gelang, das Feuer auf seinen Herd zu beschränken. Ohne unser Eingreifen wäre wohl ein großer Teil des nur aus Holzbaracken bestehenden Dorfes abgebrannt.
      Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #48
        Während die Baschkiren unsere Löscharbeit mit lautem Geschrei begleiteten, machte sich der Mullah auf seine Weise dabei nützlich. Er stand abseits – und betete. Er behauptete dann, daß er dadurch das Unglück abgewendet habe. Wir waren zwar nicht von der Kraft seines Gebetes überzeugt, hüteten uns aber, etwas verlauten zu lassen.

        Es wurde unserem Eingreifen aber auch Anerkennung gezollt. Besonders mein Name wurde immer wieder erwähnt. Da ich nicht mehr getan hatte als die anderen wunderte ich mich darüber und fragte schließlich nach der Ursache meines Sonderlobes. Mit Staunen hörte ich, daß ich es gewesen sei, der das Vieh gerettet habe. Auf die Frage, wer das behaupte, sagte man mir, der Besitzer erzähle es jedem und der müsse es doch wissen. Das kam mir verdächtig vor und mir ahnte nichts Gutes. Als ich über das Tor geklettert war, hatte ich doch kein Vieh vorgefunden, es mußte bereits vorher in Sicherheit gebracht worden sein. Warum erzählte der Russe, ich hätte es gerettet?

        Ich machte mir meine Gedanken darüber und ging etwas beunruhigt nach Hause. Auch am nächsten Tage hörte das Gerede von der Rettung des Viehes nicht auf, mein Widerspruch wurde als Bescheidenheit ausgelegt und abgelehnt.

        Am dritten Tage nach dem Brande erschien der Strasnik bei mir und erklärte, daß er den Auftrag habe, mich zu verhaften. Ich fragte nach dem Grunde und wie ich schon erwartet hatte, bezichtigte er mich der Brandstiftung.

        Ich hatte mich mit diesem Polizisten nie gut verstanden und man sah ihm die Genugtuung an, mich als Arrestanten abführen zu können. Bis zur Abhaltung des Lokaltermins sollte ich im Ortsgefängnis bleiben, um dann ins Kreisgefängnis in Werchne-Uralsk überführt zu werden. Nun, das war ja eine schöne Aussicht, ich hatte verdammt wenig Hoffnung aus dieser üblen Situation heil heraus zu kommen.

        Bereits am nächsten Tage fand der Lokaltermin statt, den ein Richter aus der Kreisstadt abhielt. Bei meiner Vernehmung erzählte ich ihm, den ganzen Hergang, machte ihn auch darauf aufmerksam, daß der Besitzer überall erzähe, ich hätte das Vieh gerettet, obwohl sich dieses gar nich tim Hofe befand, wobei es doch auffallend sei, daß er sich nicht bei mir dafür bedanke, sondern mir möglichst aus dem Wege ging. Wie hätte ich auch das Vieh unbemerkt retten können, da ja das Tor ve5rschlossen war und erst von draußen eingeschlagen wurde, als ich mich im Hofe befand und dies doch bezeugt werden könne.

        Ich gab auch meine Zimmergenossen als Zeugen an, daß ich mich bei der Entstehung des Brandes zu Hause befand. Diese Zeugen wurden aber als befangen abgelehnt.
        Die vernommenen Baschkiren bestätigten meine Angaben und sagten aus, daß sich das Vieh auf der Straße zwischen ihren eigenen Tieren befunden habe und stellten mir das allerbeste Leumundszeugnis aus. Wenn ich der Meinung bin, daß es ihnen nicht darauf ankam, mich zu retten sondern daß sie nur dem Russen schaden wollten und sie sich ihren Viehdoktor erhalten wollten, waren mir ihre Aussagen in diesem Falle doch sehr wertvoll.

        Der Richter, dem ich das Zeugnis der Objektivität ausstellen muß, nahm sich den Russen vor, der sich auch bald in Widersprüche verwickelte aus denen er sich schließlich nicht mehr heraus zu reden wußte. Er wurde verhaftet und während er den Weg ins Kreisgefängnis antreten mußte, wurde ich frei gelassen.

        Es kam selten vor, daß ein angeklagter Deutscher nicht auch verurteilt wurde, ganz gleich ob er schuldig war oder nicht. Meine Freilassung hatte ich nur den günstigen Aussagen der Baschkiren und dem Umstande zu verdanken, daß der Richter nicht ein fanatischer Deutschenhasser war sondern nach bestem Gewissen Recht sprach. Ich habe mir aber damals vorgenommen, nie wieder als erster auf einem Brandplatz zu erscheinen.

        Ich sagte, ich habe mich mit dem Strasnik nie gut verstanden. Ich hatte ihn einmal genarrt und das suchte er mir bei passender Gelegenheit heimzuzahlen. Er war eines Tages bei mir erschienen und hatte mich aufgefordert, mit ihm zum Urjadnik zu kommen, da dieser mich in einer Sache vernehmen wolle. Da ich keine Lust hatte, mich von ihm durch das Dorf führen zu lassensagte ich ihm, er möge nur gehen, ich käme gleich nach. Er bestand aber darauf, daß ich mit ihm gehen müsse.

        Darauf sagte ich ihm, er möge etwas warten, ich will mich nur umziehen. Ich bot ihm eine Zigarette an, ging ins Nebenzimmer und, stieg dort durchs Fenster und eilte zum Urjadnik. Dort hatte ich nur einige Minuten zu tun und nun eilte ich wieder zurück. Schon vor dem Haus hörte ich sein lautes Schimpfen und sah, wie er die Zimmer durchsuchte. Als ich eintrat, fragte ich was er suche, ob er etwas verloren habe. Wütend fragte er, wo ich gesteckt habe und ich solle jetzt endlich mit ihm kommen.

        „Nun, wo soll ich gesteckt haben? Ich h war beim Urjadnik, Sie sagten doch, ich solle zu ihm kommen. Er wunderte sich, wo Sie so lange bleiben, er hat noch mehr Arbeit für Sie.“ sagte ich ihm.
        Er glaubte es nicht und wollte mich mit Gewalt abführen, was ich mir aber energisch verbat. Unsicher geworden, eilte er nun zu seinem Vorgesetzten um sich weitere Anweisungen zu holen.
        Dort ist ihm jedenfalls meine Angabe bestätigt worden, denn er kam nicht wieder. In der Folge aber hatte er auf mich ein sehr wachsames Auge.

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #49
          Hier zensierte Post an die Familie:

          Text der Karten:
          Liebe Eltern! Die am 25. April von Euch abgeschickten 19 Kronen
          habe ich als 15,95 Rbl. erhalten, wofür ich herzlich danke.
          Ich schrieb es bereits einmal. Ebenso habe ich mit großer Freude
          die von Mutter geschriebene Karte vom 6. Juni erhalten.
          Die Feuergeschichte ist zur Zufriedenheit erledigt worden
          ohne daß ich weiter wäre behelligt worden. Hier ist eben Heuernte
          XzensiertX
          Ich bin zwei Tage mähen gegangen.
          XzensiertX
          XzensiertX
          Ich bin gesund und es fehlt nichts – als eben zweckmäßige
          Arbeit und anregende Ablenkung des Geistes. Das Zeitung-Lesen ist
          jetzt kein Vergnügen. Wie lange noch?
          Mit besten Grüßen
          Hermann
          Sermenewa, 20.7.16
          -------------
          Lieber Bruder! Heut am 16.Aug. erhielt ich die erste Karte von Dir.
          Du schreibst: „Heut ist Pfingsten“ nun – ich meine das ist aber
          schon lange her. Daß Du in Ottw(itz) bist habe ich erst unlängst
          durch eine Karte erfahren. Du wünscht mir baldiges Widersehn.
          Oje – daran glaube ich nicht. Ich habe jetzt einige Tage Gras gemäht und
          pro Tag -,50 Rbl. verdient. Bezahlst du auch solche Löhne?
          Morgen fahre ich mit dem hiesigen Baschkirenhäuptling 20 Werst weit in
          ein Nachbardorf um eine Mähmaschine zu besichtigen und event. zu kaufen.
          Ich werde dem Kerl zeigen wie man bei uns zuhause Hafer mäht.
          Vielleicht verdiene ich dabei etwas. Man muß sich halt so durchschlagen.
          Viele Grüße
          Hermann
          Sermenewa, 26.8.17
          Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #50
            Im Frühjahr 1916 trat der Typhus auf, an dem auch sechs von uns erkrankten. Am schlimmsten wurde Seidler von der Seuche erfaßt, die ihn an den Rand des Grabes brachte. Drei Monate lag er im Krankenhaus und keiner von uns glaubte, daß er es lebend verlassen würde.

            Seine Genesung ist wohl nur dem Umstand zu verdanken, daß der gefangene österreichische Arzt Dr. Kniewald zur Bekämpfung der Seuche nach Sermenewa abkommandiert worden war. Dieser hatte uns versprochen, all seine Kunst daran zu setzen, um Seidler zu retten und dies ist ihm auch gelungen.

            Es war für uns eine große Beruhigung zu wissen, daß wir in Dr. Kniewald einen Arzt im Orte hatten, der sich auch wirklich für seine Patienten einsetzte und zu dessen medizinischen Kenntnissen wir volles Vertrauen haben konnten.

            Als vor seiner Ankunft die Russen und Baschkiren von der Seuche erfaßt worden wurden und viele von ihnen starben, da ging es uns fast wie den Mohammedanern, die mit stoischem Gleichmut das ihnen von Allah zugedachte Schicksal erwarteten. Sie hielten es nicht der Mühe wert, einen Arzt zu rufen, denn der Koran lehrt, daß der Lebensweg bereits bei der Geburt bestimmt ist und an ihm niemand etwas ändern kann, auch kein Arzt.

            „Kismet“ nennt es der Moslem, Schicksal oder Vorsehung nennen wir es. Und hat der Koran nicht recht? Glauben nicht auch wir, daß unser Lebensweg vorgezeichnet ist? Wenn wir auch nach besten Kräften versuchen aus unserem Leben das Beste heraus zu holen, so ist mein Glaube doch der, daß alles nutzlos ist, daß alles kommt, wie es kommen muß.

            „Allah akbar“, wie Gott will, sagt der Moslem. Ich schließe mich dem an, nur setze ich für „Allah“ das Wort „Schicksal“.

            Unsere anfängliche Furcht vor der Seuche wandelte sich nach und nach in Gleichgültigkeit um und einige gingen soweit, jede Vorsichtsmaßregelung außer acht zu lassen und sonderbarerweise erkrankte keiner von ihnen. Johannsen aber, der der alles tat um einer Ansteckung auszuweichen, erkrankte schwer und lag monatelang danieder.

            Weiter erkrankten Lachmeier, Mossak, Wenz, Klinger, doch blieben dies leichtere Fälle.

            Der am Ort wohnende Arzt, ein getaufter Baschkir, sollte nach Angabe Dr. Kniewalds über umfassende ärztliche Kenntnisse verfügen und ein durchaus gebildeter Mann sein, aber er war ein sehr phlegmatischer Herr, der den ihn aufsuchenden Patienten wohl etwas verschrieb, auch mal eine oberflächliche Untersuchung vornahm, der aber schwer zu bewegen war, einen Patienten in seiner Wohnung aufzusuchen.

            Seine Teilnahmslosigkeit kam wohl zum Teil daher daß er wußte, daß seine Anordnungen doch nicht befolgt und seine Medizin doch nicht genommen wurde, es sei denn, sie hätte aus Wodka oder Honig bestanden. Da er von der Gemeinde angestellt war und die Patienten ihm nichts zahlen brauchten, war er froh, wenn er möglichst wenig gestört wurde.

            Außerdem war er Säufer und Epileptiker und seinen Sprechstunden eröffnete er oft in schon betrunkenem Zustande. Er setzte sich dann in einer Ecke auf einen Stuhl und die Schwester, ein Mädchen von 25 Jahren fertigte die Kranken nach seinen Anweisungen ab. Manchmal erschien er überhaupt nicht und überließ die Sprechstunde der Schwester und seinem Feldscher.

            Es lohnt auch auf diesen Feldscher näher einzugehen. Er war ein Greis von 70 Jahren, Baschkir der sich viel lieber mit seinen Ziegen als mit kranken Menschen beschäftigtte. Er war Morphinist und erhielt jeden Tag so viel von dem Gift, als zur Erleichterung seiner Arbeitsfähigkeit erforderlich war. Hatte er sich einmal etwas zu Schulden kommen lassen so entzog man ihm seine tägliche Spritze. Er weinte dann und kniefällig bat er dann die Schwester um sein Deputat. Seine medizinischen Kenntnisse waren gleich Null und er wurde auch fast nur als Schreiber eingesetzt.

            Als während der Typhusepidemie auch Kownatzki erkrankte, bat er den Arzt zu sich. Dieser aber schickte den Feldscher. Dieser kam, lehnte sich an den Ofen und erzählte von seinen Ziegen und den zu erwartenden Zicklein. Nachdem er sich ausgewärmt hatte ging er zur Tür ohne mit einem Wort den Zweck seines Besuches berührt zu haben. M mit den Worten: „Allah behüte dich“ wollte er verschwinden. „Du sollst mir doch sagen, ob ich Typhus habe“ schrie ihm Kowatzki nach. Da steckte er seinen Kopf nochmal zur Tür herein und sagte: „Ich hoffe, Allah wird Dich vor Typhus bewahren.“ Seine Hoffnung erfüllte sich, es war kein Typhus.

            Die Epidemie dauerte drei Monate. Zu unserem Bedauern wurde Dr. Kniewaldnach ihrem Erlöschen abgerufen und nach Werchne-Uralsk versetzt, da on der dortigen Gegend ebenfalls Typhus und Fleckfieber herrschte.

            Er hatte sich in Sermenewa allseitiges Vertrauen erworben. Die in der Sprechstunde vorsprechenden Kranken wollten nur von ihm behandelt werden, was den einheimischen Arzt nicht kränkte. Dieser war froh, daß ihm die lästige Arbeit abgenommen wurde und lebte deshalb mit Dr. Kniewald (s. Photo unten) in bestem Einvernehmen.


            Der Typhus war kaum erloschen, da kam nach kurzer Zeit ein neuer unheimlicher Gast, die Schwarzen Pocken. Die Baschkiren, befanden sich um diese Zeit nicht im Dorf, sie waren mit ihrem Vieh auf „Katschowka“, in ihre Weidegründe gezogen, aber in jedem von Russen bewohnten Hause wütete die Krankheit und zeichnete ihre Opfer.

            Wir alle waren im Laufe unserer Gefangenschaft und auch schon früher gegen Pocken geimpft worden und fürchteten die Ansteckung deshalb nicht. Nur Protz, der die Impfung für Unsinn erklärte, und es verstanden hatte, die Schutzimpfung zu umgehen, erkrankte. Daß es ein leichter Fall blieb hatte er wohl nur dem Umstand zu verdanken, daß er während seiner Militärzeit geimpft worden war. Sein Gesicht wurde nach der Genesung schnell wieder glatt und rosig.

            Ich hatte Gelegenheit, den Verlauf dieser furchtbaren, zerstörerenden Krankheit bei zwei Kindern unserer Wirtin zu beobachten. Es war jammervoll mit anzusehen wie sie sich quälten und den Körper hin und her wälzten auf welchem kein heiles Fleckchen zu sehen war.

            Von der Behörde wurde nichts getan um der Verbreitung der Seuche Einhalt zu gebieten. So kehrten z.B. allnächtlich durchfahrende Fuhrleute bei unserer Wirtin ein und schliefen mit den kranken Kindern in einem Raum. Mir schien es immer, als würde die Krankheit als etwas Harmloses angesehen wie etwa die Masern, nur daß sie häßliche Narben hinterließ, die aber bei den im Kindesalter davon Befallenen im Laufe der Zeit wieder verschwanden. Daß die einkehrenden Fuhrleute keine Furcht vor der Ansteckung hatten, erklärte ich mir damit, daß sie die Krankheit schon einmal überstanden hatten und wußten, daß sie nun dagegen immun waren.

            Einen Nachbar, dessen ganze Familie erkrankt war, fragte ich, warum er sich nicht impfen lasse. Er meinte, das sei ganz zwecklos, denn seine Familie sei schon einmal geimpft worden und nun trotzdem erkrankt und so wie ihm sei es auch anderen ergangen.

            Ohne daß Todesopfer gefordert wurden ging auch diese Seuche vorüber.
            Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #51
              Im Mai 1916 lasen wir zufällig im Verordnungsblatt des Gouverneurs, daß es den Zivilgefangenen in der Zeit vom 1. Mai bis 30. September gestattet sei, bis abends 8 Uhr auszugehen. Bisher durften wir die Wohnung nach 6 Uhr nicht mehr verlassen. Eine Nachfrage beim Urjadnik ergab, daß dieser noch keine diesbezügl. Anweisung erhalten habe und wir bis zum Eingang einer solchen noch an die alten Vorschriften gebunden seien. Einige von uns ließen sich jedoch nicht abhalten, trotz des Verbots abends auszugehen. Sofort wurden sie von einigen Baschkiren angezeigt. Der Urjadnik nahm auch ein Protokoll auf, aber unter dem Druck von Vorländer versprach er, es nicht weiterzugeben.

              Nachdem auch in den nächsten Tagen kein Bescheid einging, dauerte es uns zu lange und Poley und ich beschlossen, uns unser Recht zu erzwingen. Wir gingen also nach 6 Uhr wieder aus mit dem Vorsatz, uns nicht vertreiben zu lassen. Auf unserem Spaziergang lief uns ausgerechnet die am wenigsten erwünschte Person, der Vize-Starschena über den Weg, der uns beschimpfte und aufforderte, sofort nach Hause zu gehen. Da er angetrunken war, ließen wir uns in keinen Disput ein und gingen ruhig weiter. Er lief hinter uns her und und forderte uns auf, ihm ins Gemeindebüro zu folgen. Nun machten wir ihm klar, daß wir nur dem Urjadnik unterstehen und er über uns nichts zu bestimmen habe, im übrigen verbaten wir uns jede weitere Belästigung.

              Wütend rannte er fort, kehrte aber nach kurzer Zeit mit einem Desjatzki , einem Gemeindeboten zurück, dem er befahl, uns einzusperren. Dieser versuchte zunächst, uns uns durch gutes Zureden zum Mitgehen zu veranlassen. Als dies erfolglos blieb, faßte er mich am Arm, ließ aber los, als ich ihn beiseite stieß. Der Vize-Starchena hetzte ihn aber wieder auf mich und nun faßte er mich am Kragen, worauf ich ihm einen Hieb versetzte der ihn in den Graben rollen ließ. Schreiend und Hilfe rufend lief er nun weg und der Starchena lief hinter ihm drein.

              Wir glaubten nun gut daran zu tun, wenn wir uns ebenfalls verdrückten um die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Um dem Baschkir zuvor zu kommen, begaben wir uns sofort zum Urjadnik, dem wir den Fall zu Protokoll gaben. Er war natürlich äußerst ungehalten über die Schwierigkeiten, die wir ihm fortwährend bereiteten. Da er aber selbst nicht wußte, ob wir im Recht waren oder nicht, nahm er unsere Anzeige auf, nicht ohne kummervoll zu bemerken, daß wir ihn noch um seinen Posten bringen werden.

              Zwar versprachen wir uns von der Anzeige gar nichts, wir wollten nur den Baschkiren zeigen, daß wir nicht gewillt waren ihre Stänkereien widerspruchslos hinzunehmen.

              Nach sechs Wochen erhielten Poley und ich eine Vorladung vor das Gemeindegericht. Wie erstaunten wir aber, als wir merkten, daß wir nicht Kläger sondern Angeklagte waren. Wir wurden beschuldigt, den Vize-Starschena beleidigt zu haben, außerdem sollte ich den Desjatzki mit einem Knüppel mißhandelt haben. Ich verlangte die Vorladung von Rosenbach und Seidel, die den Vorgang vom Fenster aus beobachtet hatten. Sie wurden aber als unglaubwürdig abgelehnt. Anstatt ihrer traten aber zwei Baschkiren auf, welche bezeugten, daß ich den Desjatzki mehrmals mit einem Knüppel über den Kopf geschlagen habe. Ich sah ein, daß man dagegen eben nichts machen konnte und verzichtete auf eine weitere Verteidigung, denn eine solche war unter diesen Umständen aussichtslos.

              Als die drei Richter, d.h. die drei Baschkiren aus dem Beratungszimmer zurückkamen, verkündeten sie das Urteil. Poley wurde frei gesprochen und ich erhielt wegen Mißhandlung einer Amtsperson drei Tage Arrest.

              Nun - ich hatte mehr erwartet, die drei Tage würde ich mit Vergnügen absitzen, die Veranlassung war mir mehr wert gewesen. Ich wußte, daß es ein fideles Gefängnis war das micherwartete. Und deshalb war mein Kummer nicht groß und in der Tat wurde dann diese Strafe für mich zu einem heiteren Erlebnis.

              Ich konnte es mir nicht versagen, dem Vize-Starchena zu prophezeien, daß unter seinen Pferden nächstens böse Krankheiten ausbrechen würden und er sich nicht unterstehen solle, mich dabei zu Rate zu ziehen. Dies machte auf den abergläubischen Kerl sichtbaren Eindruck und zufrieden ließ ich ihn stehen.

              Ich trat den Arrest noch in der gleichen Woche an. Das Das Gefängnis befand sich im Gemeindehause. Der Gefängnisaufseher, ein Russe, der als Schreiber angestellt war, wohnte im gleichen Haus. Seine Frau versah das Amt des Gefängniswärters. Die Zelle blieb meistens unverschlossen, doch richtete sich dies ganz nach der Art des jeweiligen Arrestanten. Mir schien man keinen Fluchtversuch zuzutrauen, denn solange ich alleiniger Insasse blieb, ließ man die Tür unverschlossen.

              Als ich morgens meine Haft antrat, empfing mich die Frau des Schreibers und fragte besorgt, ob ich auch schon gefrühstückt habe. Obgleich ich dies bejahte, lud sie mich erst in ihre Wohnung ein, setzte mir Tee und Piroggen vor und forderte mich auf, nur ja recht tüchtig zuzulangen.

              Als sie ihren Mann zum zweiten Frühstück erwartete, riet sie mir, die Zelle aufzusuchen. Dies war ein Raum von 3 x 4 m, die nach Baschkirenart eingerichtet war, d.h. ohne Tisch und Stuhl. Als Sitz- und Schlafgelegenheit diente eine die ganze Längsseite einnehmende Pritsche, auf welcher einige alte Decken und Pelze lagen, die mir aber größtes Mißtrauen einflößten. Die Wände bestanden aus übereinander gelegten Balken, deren Fugen mit Moos verstopft waren. Ein kleiner eiserner Ofen sorgte für die nötige Wärme und an der Decke hing eine Petroleumlampe. Nun, eine bessere Ausstattung meiner Zelle hatte ich auch nicht erwartet.

              Bis gegen Mittag schlief ich auf meiner Pritsche ohne jedoch die weichen Unterlagen aus Furcht vor Ungeziefer zu benutzen. Gegen 12 Uhr erschien das Dienstmädchen von Bocks und brachte mir ein Essen, wie ich es schon seit langer Zeit nicht genossen hatte.

              Da auch meine nunmehrige Wirtin für mich gekocht hatte war es ihr sichtlich unangenehm, daß ich von meinen Gefährten im Dorf verpflegt wurde, ohne es mich jedoch durch schlechte Laune entgelten zu lassen. Am Abend jedoch schien sie einer Verpflegung aus dem Dorfe zuvorkommen zu wollen, denn sie brachte mir das Abendbrot bereits vor der üblichen Zeit. Ich glaube kaum, daß es die übliche Gefangenenkost war, denn das Abendbrot bestand aus Tee und Semmel und einem Stück Zucker.

              Gegen 8 Uhr abends entstand vor der Tür plötzlich Lärm. Sie wurde aufgestoßen und herein stolperten zwei halbwüchsige Baschkirenjungen, die ein Desjatzki einlieferte. Mit der Ruhe im Lokal war es nun vorbei. Die beiden Burschen schnatterten lebhaft miteinander und aus ihren mir unverständlichen Gesprächen konnte ich nur verstehen, daß der eine von ihnen „Omar“ und der andere „Abdullah“ hieß. Plötzlich hatte einer den glorreichen Einfall, zwischen den Balken Moos heraus zu zupfen und sich daraus Zigaretten zu drehen. Obwohl diese einen furchtbaren Gestank verbreiteten schienen sie ihm ganz ausgezeichnet zu schmecken. Als Gegenmittel steckte ich mir eine meiner mitgebrachten Zigaretten an, was die beiden Steppensöhne veranlaßte, mich auf die unverschämteste Art anzubetteln. Ich hatte aber keine Lust, ihnen von meinem nicht allzu großen Vorrat abzugeben und suchte ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß es ihnen als Mohammedaner doch verboten sei zu rauchen. Ihr Russisch reichte auch soweit um mich zu verstehen, aber sie lachten mich nur ob meiner Sorge um ihr Seelenheil aus.

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              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #52
                Um 9 Uhr kam der Schreiber herein, gebot uns schlafen zu gehen, löschte die Lampe und schloß die Tür ab.

                Ich hatte etwa eine Stunde gelegen, als mich ein unheimliches leises Rascheln aufhorchen ließ, das mich schließlich veranlaßte, aufzuspringen und die Lampe anzuzünden. Oh, du großer Gott, was ich da sah, ließ sich mir das Haar sträuben. An den Wänden und auf den Decken marschierte ein Heer von Wanzen, das beim Aufleuchten der Lampe schleunigst den Rückmarsch antrat. Meine beiden Schlafgenossen schien diese rote Invasion wenig zu stören. Sie blinzelten mich nur verwundert an und schliefen weiter.

                Als mich dann doch der Schlaf übermannen wollte kam mir eine Idee, die ich auch sofort versuchte. Ich weckte Abdullah und bot ihm 10 Zigaretten, wenn er für mich wachen und mir die Wanzen vom Leibe halten wolle. Als Anzahlung sollte er sofort 5 Stück und den Rest am Morgen erhalten. Wider Erwarten stimmte er meinem Vorschlag begeistert zu.

                Während ich nun schlief, saß Abdullah neben mir und verjagte die stinkenden Blutsauger, mit Wohlbehagen dabei seinen Lohn verpaffend, wobei er sich damit vergnügte, säumige Wanzen mit dem glühenden Ende seiner Zigarette zu beschleunigter Gangart anzuregen, was zur Verbesserung der Luft leider nicht gerade geeignet war.

                Am andern Morgen erfuhr ich, daß Omar, verlockt durch die fürstliche Bezahlung, es verstanden hatte, Abdullah die zweite Hälfte der Wache abzunehmen. Die erhaltenen 5 Zigaretten hatten jedoch nicht ausgereicht, weshalb die Kerle zur Selbsthilfe gegriffen und mir die restlichen 5 Stück geklaut hatten.

                Ich muß aber anerkennen, daß sie sich als ehrliche Spitzbuben erwiesen und mir nur die ihnen zugesagten 5 Stück geklaut hatten. Jeder Spitzbube hat ein gewisses Ehrgefühl und obgleich die beiden wegen Diebstahl eingeliefert worden waren, haben sie das Eigentum ihres Zellengenossen nicht angerührt. Meine aufsteigende Besorgnis, daß sie kürzere Zeit als ich werden sitzen müssen, war Gott sei Dank unbegründet.

                Am nächsten Morgen erhielten wir interessanten Zuwachs. Es waren zwei hochgewachsene Baschkiren von verwegenem Aussehen, fast schwarze Gesichter und wild blickenden Augen. Wie mir später die Frau des Schreibers erzählte, waren es räuberische Nomaden, die noch am gleichen Tag weiter transportiert werden sollten. Die beiden Kerle verstänkerten die Luft derart, daß ich so lange an die Tür donnerte, bis mir die Frau die Tür öffnete, worauf ich bat, mich in der Küche aufhalten zu dürfen, was sie auch gern gestattete, nachdem ich ihr den Grund meiner Flucht erklärt hatte. Zunächst wusch ich mich erst wieder einmal, was auf russische Art geschah. Diese besteht darin, daß man einen Schluck Wasser in den Mund nimmt, davon etwas in die Hände spuckt und sich damit wäscht.

                Nach dem Frühstück wurde mir zu Ehren sogar das Grammophon angestellt. Zum Dank bot ich meine Hilfe zum Kartoffelschälen an, aber sie riet mir, damit noch zu warten, bis jemand käme und dann erst damit zu beginnen, damit sich meine Anwesenheit in der Küche motivitieren könne. So sß ich also mit dem griffbereiten Messer vor dem Kartoffelkorb, mich auf das angenehmste mit ihr unterhaltend. Da aber niemand kam, mußte ich doch mit dem Schälen beginnen, damit meine Zellengenossen rechtzeitig zu ihrem Essen kommen konnten.

                Ich selbst wurde wieder aus dem Dorfe versorgt und zwar durch Huth, der gleich das Schachbrett mitbrachte und meinen Zigarettenvorrat auffüllte, den ich ja für die Bezahlung meiner beiden Wanzenjäger dringend brauchte. Zum Schachspiel kam es leider nicht, da Huths empfindliche Nase unsere parfümierte Luft nicht vertragen konnte. In der Küche konnten wir uns auch nicht aufhalten, da der Transporteur der beiden Räuber erwartet wurde und ich der freundlichen Wirtin keine Schwierigkeiten bereiten wollte.

                In diesen drei Tagen haben mich fast alle meine Dorfgenossen besucht oder wenigstens versucht, mich zu besuchen. Nur Frischmann kam nicht, denn der grollte mir. In meinem „Tugendspiegel“ hatte ich ihn wohl etwas zu hart angefaßt und die beiden ihm gewidmeten Verse waren wohl etwas zu grob ausgefallen. Ich hatte geschrieben:

                Kownatzki hält sich einen Koch
                Mit langen, starken Beinen.
                Der kocht nur Lapskaus, wie man roch,
                Wer’s frißt, muß bitter weinen.

                Doch seines Wachstums eil’ger Schritt
                Macht Halt vor’m Oberstübchen,
                Dort konnte man so schnell nicht mit,
                Dort reicht’s nur für ein Bübchen.

                Er hat mich zwar nicht beschimpft deswegen, aber er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.

                Am späten Nachmittg dieses Tages wurden zu meiner großen Erleichterung die beiden Stänker abgeholt, und wir waren nun wieder unter uns. Während ich die verpestete Luft durch eifriges Schwenken meiner Jacke zur Tür hinaus fegte, fochten Omar und Abdullah zum Zeitvertreib einen Ringkampf aus, wobei ihnen das Malheur passierte, die Lampe zu zerschlagen.

                Schon einmal hatte ich dies erlebt, im Orenburger Gefängnis. Dort mußten wir zur Strafe hungern, hier drohte etwas viel Schlimmeres, die Wanzen. Die Aussicht, ihnen über Nacht hilflos ausgeliefert zu sein, war fürchterlich hier mußte unbedingt Rat geschaffen werden. In die Wohnung des Schreibers zu gehen, wagte ich nicht, da ich ihn zu Hause wußte. Was also tun?

                Da faßte ich den verzweifelten Entschluß, auszubrechen um im Dorfe eine Lampe zu requirieren. Auf leisen Sohlen schlich ich mich aus dem Hause sobald die Dunkelheit angebrochen war und eilte zum Hause Vorländers in der Annahme, daß dort am ehesten eine übrige Lampe zu haben sei. Ich wurde auch nicht enttäuscht und glücklich über meinen Erfolg eilte ich wieder zurück. Aber so glatt sollte mein Ausflug doch nicht verlaufen. Als ich mich behutsam der Haustür näherte, wurde ich plötzlich barsch angerufen, und vor mir stand mein Kerkermeister. Was mir in Teufels Namen eigentlich einfiele, meine Zelle zu verlassen um mich auf dem Hofe herum zu treiben, schrie er mich an. Ich knöpfte an meinen Hosen herum und sagte, daß ich eines dringenden Geschäfts wegen den Hof hätte aufsuchen müssen. Er meinte aber, dazu hätte ich ihn rufen müssen und dazu brauchte ich doch nicht die Lampe mit herausschleppen. Meine Erklärung, ich hätte mir mit der Lampe ein geeignetes Plätzchen ausgesucht, damit kein Ärgernis entstehe ließ er nicht gelten und behauptete, einen derartigen Idioten hätte er in seiner Zelle noch nicht gehabt.

                Abdullah erzählte mir dann, er sei in die Zelle gekommen und da ich verschwunden wäre, sei er hinaus geeilt um mich zu suchen. So war nun auch dieser peinliche Vorfall noch verhältnismäßig glimpflich abgelaufen.

                Abdullah übernahm nun wieder die erste Wache, jedoch setzte er den Lohn dafür um zwei Zigaretten herauf, den ich auch notgedrungen bewilligen mußte, andernfalls wahrscheinlich ein Streik die Folge gewesen wäre und den mußte ich unbedingt verhindern. Um die Zeit auszunutzen begnügte er sich nicht nur mit der Vertreibung der Wanzen sondern unterzog auch sein Hemd einer ausgiebigen Jagd nach Läusen.

                Der dritte Tag brachte nichts Neues, nur der Strasnik erschien, um sich an meinem Anblick zu weiden. Ich legte mich auf die Pritsche und kehrte ihm meinen Allerwertesten zu. Als er wieder ging sagte er der Frau noch, sie möge auf mich ein wachsames Auge haben, denn ich sei ein gefährliches Individuum.

                Am nächsten Morgen waren meine drei Tage zu Ende. Meine Zellengenossen sahen mich als ihren Arbeitgeber ungern scheiden. Zum Trost gab ich ihnen den Rest meiner Zigaretten für ihre gewissenhafte Arbeitsleistung, die mir außerordentlich wertvoll gefallen war.

                Auch die Wirtin sah mich ungern scheiden und ersuchte mich, doch recht bald wieder zu kommen, was ich ihr aber nicht mit Bestimmtheit versprechen konnte. Ihretwegen wäre ich auch noch ganz gern geblieben, aber ich hoffte, sie auch einmal außerhalb ihres Heims zu treffen.

                Abgesehen von den Wanzen und Läusen waren diese Tage eine interessante Abwechslung des ewigen Einerleis gewesen. Es gab für mich auch noch eine andere und weit angenehmere Abwechslung als die eben geschilderte.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #53
                  Ich sagte bereits, daß die Baschkiren nur im Winter in ihren Dörfern wohnen. Alljährlich zwischen dem 1. Und 15. Mai ziehen sie mit ihren Geräten und dem Vieh auf die „Katschowka“. Das sind Weideflächen, die in einer Entfernung bis zu 20 Werst um ihre Dörfer herumliegen. Zwischen Wälder und Flüsse eingesprengt. Dort leben sie fast nur von Kumis, das ist gegorene Stutenmilch, von Hammelfleisch und Schafskäse. Die Erträge der Jagd und der Fischerei vervollständigen ihren Bedarf an Lebensmitteln. Die Stuten vertreten dort die Stelle unserer Milchkühe. Die Fohlen werden bereits 4 Wochen nach der Geburt abgesetzt und die Stuten dann wie Kühe gemolken.

                  Während die Frauen sämtliche Arbeiten wie Beaufsichtigung der Tiere, Melken der Stuten, Schlachten der Schafe, Zubereitung von Käse und Aufstellen und Abreißen der Zelte verrichten müssen, gehen die Männer jagen, fischen oder sich gegenseitig besuchen, wobei dem Kisluschka ausgiebig zugesprochen wird, oder sie sitzen in der Sonne und suchen Läuse.

                  Abends geht es auf der Katschofka lustig zu. Männer und Jungen singen und tanzen nach der Melodie der „Dutka“, einer Schalmei, meist um die Feuer liegend, wobei sie dem Nationalgetränk, dem Kisluschka eifrig zusprechen.

                  Frauen und Mädchen sitzen abseits, sie dürfen sich an den Belustigungen nicht beteiligen. Bis tief in die Nacht ertönt die Dutka und der Gesang ihrer traurigen Lieder. Wenn der weibliche Teil des Lagers längst schläft, dann suchen auch die Männer die Jurten, die Holzgestelle, die mit Decken und Fellen umkleidet sind auf und schlafen bis der nächste Tag des Nichtstuns lange begonnen hat.

                  Oft aber werden sie durch das Herangaloppieren der Pferde, Wiehern der Hengste, Blöken der Schafe und wütende Kläffen der Hunde aus dem Schlafe geschreckt. Mit Flinten und Knüppeln bewaffnet und mit lautem Geschrei stürzen sie dann hinaus um dem verängstigtem Vieh in seiner Not gegen die Wölfe beizustehen.

                  Die Wolfsnot war besonders im letzten Winter groß. Es fehlte an Jägern und an Pulver. 40 Rbl. Für ein Pfund Pulver konnten nur wenige zahlen und so nahmen die Bestien überhand und plünderten auch im Sommer die Herden. Ich habe selbst beobachtet, wie ein Junge mit einem Pferde, auf dem vorderen Teile des schon halb verlorenen Wagens sitzend totenbleich in das Dorf gerast kam, verfolgt von drei Wölfen, die erst kurz vor dem Dorfe ihre Verfolgung aufgaben.

                  Als ich mich einmal etwas weiter vom Dorf entfernt hatte und in den Wald eingedrungen war, kam mir plötzlich ein Wolf entgegen. Das Erschrecken war beiderseitig. Während ich mich nach einem Baum umsah, machte er kehrt und verschwand wieder. Ein einzelner Wolf greift im Sommer keinen Menschen an, anders dagegen im Winter, wenn sie in Rudeln auftreten und der Tisch nicht so reichlich gedeckt ist.

                  Auf jeder Katschofka verweilen die Baschkiren nur so lange als das Futter für ihre Tiere reicht. Ist alles abgegrast, so ziehen sie weiter und stellen ihre Jurten an einer neuen Weidestelle auf. In der ersten Septemberhälfte suchen sie wieder ihr Sorf auf. Dann werden die nötigsten Arbeiten ausgeführt wie Häuser bauen, Zäune flicken, Holz anfahren usw. Im Oktober ist bereits der Winter da mit viel Schnee und starkem Frost.

                  Wenn auf der Katschofka angekommen, wurde mir zunächst in jeder Jurte die ich passierte, eine Holzschale mit Kumis als Begrüßungstrunk gereicht. Das war für mich jedesmal eine wenig angenehme Bewillkommnung, die ich jedoch über mich ergehen lassen mußte, andernfalls ich die Leute beleidigt hätte. Da Kumis berauschend wirkt, war ich meist bald erledigt und mußte erst meinen Rausch ausschlafen, was den Männern immer viel Spaß machte und schon um dieses Vergnügen willen fiel der dargereichte Trunk immer recht reichlich aus.

                  Es kam manchmal vor, daß sich in den Holzschalen ein schmutziger Satz befand. Anfangs ließ ich diesen in der Schale zurück oder goß ihn weg, bis ich darauf aufmerksam gemacht wurde, daß dies für den Spender eine Beleidigung sei, worauf ich das Opfer brachte und auch diesen unappetitlichen Rest in mich hineingoß.

                  Hatte ich den eigentlichen Zweck meines Dortseins erledigt, dann ging ich mit den Männern jagen, fischen oder die aufgestellten Fallen nachsehen. Sie fingen auch Birk- und Auerwild in den Fallen, in denen dann die armen Kreaturen mit zerschlagenen Ständern hingen. Von waidgerechtem Jagen hatten sie keine Ahnung.

                  Hatte sich einmal ein Wolf in einer Falle gefangen, so wurde er zunächst wüst beschimpft, die gemeinsten Flüche wurden ihm an den Kopf geworfen, ihm Fußtritte versetzt und mit Knütteln bearbeitet bis er seinen Geist aufgab.

                  Abends saß ich mit ihnen am Lagerfeuer und mußte so manchen Krug Kisluschka mit ihnen leeren, bis ich vollgepumpt die nächste Jurte aufsuchte. Die Frauen waren davon recht wenig erbaut, denn dadurch waren sie gezwungen, sich einen anderweitige Unterkunft zu suchen.

                  Obwohl sie, besonders während meiner Anwesenheit auf der Katschofka, mir gegenüber viel von ihrer Scheu ablegten, ja sich sogar mit unverhülltem Gesicht zeigten, hat mich jedoch nie eine von ihnen angesprochen oder auf eine meiner an sie gerichteten Fragen geantwortet. Das war auch gar nicht zu verwundern, darf doch nicht einmal der jüngere Bruder mit der Frau des älteren Bruders sprechen, selbst wenn er mit ihm zusammen wohnt. Ob dies Gebot auch immer befolgt wird, weiß ich nicht, jedenfalls aber wird vor Zeugen nie dagegen verstoßen.

                  Als ein Zeichen großen Zutrauens mußten wir es werten, daß einige Baschkiren einwilligten, sich mit ihren Frauen und Töchtern mit Vorländer, Rosenbach und mir fotografieren zu lassen, obgleich ihnen der Koran verbietet sich Bilder ihres Gesichts machen zu lassen.

                  Ich hatte auf diese Naturkinder eine gewissen Einfluß erlangt und ihm ist es zu danken, daß wir zu solchen Bildern gelangten. Weil ich ihr wertvollstes Gut, ihre Pferde betreute, erwiesen sie mir ein größeres Zutrauen als irgend einem anderen von uns. Trotz allem aber blieb ich für sie ein Ungläubiger, dem gegenüber auch ihr Entgegenkommen ihre Grenzen hatte.

                  In einer fröhlichen Kisluschka-Laune hatte ich einmal versucht, einem Vater seine Tochter abzukaufen und da er auch nicht mehr Herr seiner Sinne war ging er auf den Handel ein. Wohl fehlten mir die üblichen Zahlungsmittel, wir einigten uns aber auf meine Taschenuhr, ein dort hochgeschätztes Wertstück.

                  Als er ging um die Tochter zu holen, sah ich nur, wie diese eilends flüchtete. Aber auch mein Schwiegervater ließ sich nicht mehr sehen und so ging auch ich ohne Frau, aber mit einem gewaltigen Affen, schlafen.

                  Als ich am andern Morgen wieder mit klarem Kopf erwachte und mir das versuchte Geschäft in Erinnerung kam, war mir an die möglichen Folgen denkend, nicht ganz wohl zumute. Ich nahm mir vor, meinem Schwiegervater möglichst auszuweichen und so bald als möglich meinen Besuch hier abzubrechen.

                  Aber als ich eben die Jurte verlassen wollte, stand er schon vor mir, er erwartete mich bereits. Er ging mit mir abseits und erklärte mir, daß aus dem gestrigen Handel nichts werden könne und daß er sich mit mir nur einen Scherz gemacht habe, denn ein Ungläubiger könne unmöglich seine Tochter heiraten.

                  Ich merkte mit großer Befriedigung, daß er vor dem Bekanntwerden des Ehehandels genau so eine Furcht hatte als ich und so warf ich mich in die Brust und erklärte ihm, daß ich auf seine Tochter verzichte, da ich eingesehen habe, daß sie mit meiner Uhr bedeutend überzahlt sei.

                  Diese Begründung gefiel ihm nicht und sicher hätte er sie nicht gelten lassen, wenn ihm nicht so viel an der Geheimhaltung unseres Handels gelegen hätte. So aber schluckte er sie herunter und sagte nur, ich solle etwas warten, er komme gleich wieder.

                  Er ging in seine Jurte und kam gleich wieder heraus, in jeder Hand einen krug mit Kisluschka tragend. Hinter ihm hörte ich erregte weibliche Stimmen woraus ich schloß, daß er wohl nicht unumschränkter Herr in seiner Jurte war, zumal er es anscheinend nicht wagte, mich zu diesem beabsichtigten Versöhnungstrunk in seine Jurte einzuladen.

                  Mit einen der beiden Krüge in die Hand drückend, führte er mich in den nahen Wald, wo wir uns in ein Gebüsch verkrochen. Aus dem schmutzigen Kittel zog er zwei Schafskäse hervor und nun setzten wir das gestrige Gelage fort, bis wir neben den leeren Krügen sanft entschlummerten.
                  ---
                  Links neben Rosenbach das Mädchen, das ich einmal kaufen wollte.
                  Neben ihr ihre Eltern und vor ihr ihre Geschwister.
                  Die Frau im weißen Tuch eine Tartarin.
                  Vorländer zwischen seiner russischen Freundin und der Tochter Bocks.
                  Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                  • Helen
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                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #54
                    Um 9 Uhr kam der Schreiber herein, gebot uns schlafen zu gehen, löschte die Lampe und schloß die Tür ab.

                    Ich hatte etwa eine Stunde gelegen, als mich ein unheimliches leises Rascheln aufhorchen ließ, das mich schließlich veranlaßte, aufzuspringen und die Lampe anzuzünden. Oh, du großer Gott, was ich da sah, ließ sich mir das Haar sträuben. An den Wänden und auf den Decken marschierte ein Heer von Wanzen, das beim Aufleuchten der Lampe schleunigst den Rückmarsch antrat. Meine beiden Schlafgenossen schien diese rote Invasion wenig zu stören. Sie blinzelten mich nur verwundert an und schliefen weiter.

                    Als mich dann doch der Schlaf übermannen wollte kam mir eine Idee, die ich auch sofort versuchte. Ich weckte Abdullah und bot ihm 10 Zigaretten, wenn er für mich wachen und mir die Wanzen vom Leibe halten wolle. Als Anzahlung sollte er sofort 5 Stück und den Rest am Morgen erhalten. Wider Erwarten stimmte er meinem Vorschlag begeistert zu.

                    Während ich nun schlief, saß Abdullah neben mir und verjagte die stinkenden Blutsauger, mit Wohlbehagen dabei seinen Lohn verpaffend, wobei er sich damit vergnügte, säumige Wanzen mit dem glühenden Ende seiner Zigarette zu beschleunigter Gangart anzuregen, was zur Verbesserung der Luft leider nicht gerade geeignet war.

                    Am andern Morgen erfuhr ich, daß Omar, verlockt durch die fürstliche Bezahlung, es verstanden hatte, Abdullah die zweite Hälfte der Wache abzunehmen. Die erhaltenen 5 Zigaretten hatten jedoch nicht ausgereicht, weshalb die Kerle zur Selbsthilfe gegriffen und mir die restlichen 5 Stück geklaut hatten.

                    Ich muß aber anerkennen, daß sie sich als ehrliche Spitzbuben erwiesen und mir nur die ihnen zugesagten 5 Stück geklaut hatten. Jeder Spitzbube hat ein gewisses Ehrgefühl und obgleich die beiden wegen Diebstahl eingeliefert worden waren, haben sie das Eigentum ihres Zellengenossen nicht angerührt. Meine aufsteigende Besorgnis, daß sie kürzere Zeit als ich werden sitzen müssen, war Gott sei Dank unbegründet.

                    Am nächsten Morgen erhielten wir interessanten Zuwachs. Es waren zwei hochgewachsene Baschkiren von verwegenem Aussehen, fast schwarze Gesichter und wild blickenden Augen. Wie mir später die Frau des Schreibers erzählte, waren es räuberische Nomaden, die noch am gleichen Tag weiter transportiert werden sollten. Die beiden Kerle verstänkerten die Luft derart, daß ich so lange an die Tür donnerte, bis mir die Frau die Tür öffnete, worauf ich bat, mich in der Küche aufhalten zu dürfen, was sie auch gern gestattete, nachdem ich ihr den Grund meiner Flucht erklärt hatte. Zunächst wusch ich mich erst wieder einmal, was auf russische Art geschah. Diese besteht darin, daß man einen Schluck Wasser in den Mund nimmt, davon etwas in die Hände spuckt und sich damit wäscht.

                    Nach dem Frühstück wurde mir zu Ehren sogar das Grammophon angestellt. Zum Dank bot ich meine Hilfe zum Kartoffelschälen an, aber sie riet mir, damit noch zu warten, bis jemand käme und dann erst damit zu beginnen, damit sich meine Anwesenheit in der Küche motivitieren könne. So sß ich also mit dem griffbereiten Messer vor dem Kartoffelkorb, mich auf das angenehmste mit ihr unterhaltend. Da aber niemand kam, mußte ich doch mit dem Schälen beginnen, damit meine Zellengenossen rechtzeitig zu ihrem Essen kommen konnten.

                    Ich selbst wurde wieder aus dem Dorfe versorgt und zwar durch Huth, der gleich das Schachbrett mitbrachte und meinen Zigarettenvorrat auffüllte, den ich ja für die Bezahlung meiner beiden Wanzenjäger dringend brauchte. Zum Schachspiel kam es leider nicht, da Huths empfindliche Nase unsere parfümierte Luft nicht vertragen konnte. In der Küche konnten wir uns auch nicht aufhalten, da der Transporteur der beiden Räuber erwartet wurde und ich der freundlichen Wirtin keine Schwierigkeiten bereiten wollte.

                    In diesen drei Tagen haben mich fast alle meine Dorfgenossen besucht oder wenigstens versucht, mich zu besuchen. Nur Frischmann kam nicht, denn der grollte mir. In meinem „Tugendspiegel“ hatte ich ihn wohl etwas zu hart angefaßt und die beiden ihm gewidmeten Verse waren wohl etwas zu grob ausgefallen. Ich hatte geschrieben:

                    Kownatzki hält sich einen Koch
                    Mit langen, starken Beinen.
                    Der kocht nur Lapskaus, wie man roch,
                    Wer’s frißt, muß bitter weinen.

                    Doch seines Wachstums eil’ger Schritt
                    Macht Halt vor’m Oberstübchen,
                    Dort konnte man so schnell nicht mit,
                    Dort reicht’s nur für ein Bübchen.

                    Er hat mich zwar nicht beschimpft deswegen, aber er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.

                    Am späten Nachmittg dieses Tages wurden zu meiner großen Erleichterung die beiden Stänker abgeholt, und wir waren nun wieder unter uns. Während ich die verpestete Luft durch eifriges Schwenken meiner Jacke zur Tür hinaus fegte, fochten Omar und Abdullah zum Zeitvertreib einen Ringkampf aus, wobei ihnen das Malheur passierte, die Lampe zu zerschlagen.

                    Schon einmal hatte ich dies erlebt, im Orenburger Gefängnis. Dort mußten wir zur Strafe hungern, hier drohte etwas viel Schlimmeres, die Wanzen. Die Aussicht, ihnen über Nacht hilflos ausgeliefert zu sein, war fürchterlich hier mußte unbedingt Rat geschaffen werden. In die Wohnung des Schreibers zu gehen, wagte ich nicht, da ich ihn zu Hause wußte. Was also tun?

                    Da faßte ich den verzweifelten Entschluß, auszubrechen um im Dorfe eine Lampe zu requirieren. Auf leisen Sohlen schlich ich mich aus dem Hause sobald die Dunkelheit angebrochen war und eilte zum Hause Vorländers in der Annahme, daß dort am ehesten eine übrige Lampe zu haben sei. Ich wurde auch nicht enttäuscht und glücklich über meinen Erfolg eilte ich wieder zurück. Aber so glatt sollte mein Ausflug doch nicht verlaufen. Als ich mich behutsam der Haustür näherte, wurde ich plötzlich barsch angerufen, und vor mir stand mein Kerkermeister. Was mir in Teufels Namen eigentlich einfiele, meine Zelle zu verlassen um mich auf dem Hofe herum zu treiben, schrie er mich an. Ich knöpfte an meinen Hosen herum und sagte, daß ich eines dringenden Geschäfts wegen den Hof hätte aufsuchen müssen. Er meinte aber, dazu hätte ich ihn rufen müssen und dazu brauchte ich doch nicht die Lampe mit herausschleppen. Meine Erklärung, ich hätte mir mit der Lampe ein geeignetes Plätzchen ausgesucht, damit kein Ärgernis entstehe ließ er nicht gelten und behauptete, einen derartigen Idioten hätte er in seiner Zelle noch nicht gehabt.

                    Abdullah erzählte mir dann, er sei in die Zelle gekommen und da ich verschwunden wäre, sei er hinaus geeilt um mich zu suchen. So war nun auch dieser peinliche Vorfall noch verhältnismäßig glimpflich abgelaufen.

                    Abdullah übernahm nun wieder die erste Wache, jedoch setzte er den Lohn dafür um zwei Zigaretten herauf, den ich auch notgedrungen bewilligen mußte, andernfalls wahrscheinlich ein Streik die Folge gewesen wäre und den mußte ich unbedingt verhindern. Um die Zeit auszunutzen begnügte er sich nicht nur mit der Vertreibung der Wanzen sondern unterzog auch sein Hemd einer ausgiebigen Jagd nach Läusen.

                    Der dritte Tag brachte nichts Neues, nur der Strasnik erschien, um sich an meinem Anblick zu weiden. Ich legte mich auf die Pritsche und kehrte ihm meinen Allerwertesten zu. Als er wieder ging sagte er der Frau noch, sie möge auf mich ein wachsames Auge haben, denn ich sei ein gefährliches Individuum.

                    Am nächsten Morgen waren meine drei Tage zu Ende. Meine Zellengenossen sahen mich als ihren Arbeitgeber ungern scheiden. Zum Trost gab ich ihnen den Rest meiner Zigaretten für ihre gewissenhafte Arbeitsleistung, die mir außerordentlich wertvoll gefallen war.

                    Auch die Wirtin sah mich ungern scheiden und ersuchte mich, doch recht bald wieder zu kommen, was ich ihr aber nicht mit Bestimmtheit versprechen konnte. Ihretwegen wäre ich auch noch ganz gern geblieben, aber ich hoffte, sie auch einmal außerhalb ihres Heims zu treffen.

                    Abgesehen von den Wanzen und Läusen waren diese Tage eine interessante Abwechslung des ewigen Einerleis gewesen. Es gab für mich auch noch eine andere und weit angenehmere Abwechslung als die eben geschilderte.

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                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #55
                      Ich sagte bereits, daß die Baschkiren nur im Winter in ihren Dörfern wohnen. Alljährlich zwischen dem 1. Und 15. Mai ziehen sie mit ihren Geräten und dem Vieh auf die „Katschowka“. Das sind Weideflächen, die in einer Entfernung bis zu 20 Werst um ihre Dörfer herumliegen. Zwischen Wälder und Flüsse eingesprengt. Dort leben sie fast nur von Kumis, das ist gegorene Stutenmilch, von Hammelfleisch und Schafskäse. Die Erträge der Jagd und der Fischerei vervollständigen ihren Bedarf an Lebensmitteln. Die Stuten vertreten dort die Stelle unserer Milchkühe. Die Fohlen werden bereits 4 Wochen nach der Geburt abgesetzt und die Stuten dann wie Kühe gemolken.

                      Während die Frauen sämtliche Arbeiten wie Beaufsichtigung der Tiere, Melken der Stuten, Schlachten der Schafe, Zubereitung von Käse und Aufstellen und Abreißen der Zelte verrichten müssen, gehen die Männer jagen, fischen oder sich gegenseitig besuchen, wobei dem Kisluschka ausgiebig zugesprochen wird, oder sie sitzen in der Sonne und suchen Läuse.

                      Abends geht es auf der Katschofka lustig zu. Männer und Jungen singen und tanzen nach der Melodie der „Dutka“, einer Schalmei, meist um die Feuer liegend, wobei sie dem Nationalgetränk, dem Kisluschka eifrig zusprechen.

                      Frauen und Mädchen sitzen abseits, sie dürfen sich an den Belustigungen nicht beteiligen. Bis tief in die Nacht ertönt die Dutka und der Gesang ihrer traurigen Lieder. Wenn der weibliche Teil des Lagers längst schläft, dann suchen auch die Männer die Jurten, die Holzgestelle, die mit Decken und Fellen umkleidet sind auf und schlafen bis der nächste Tag des Nichtstuns lange begonnen hat.

                      Oft aber werden sie durch das Herangaloppieren der Pferde, Wiehern der Hengste, Blöken der Schafe und wütende Kläffen der Hunde aus dem Schlafe geschreckt. Mit Flinten und Knüppeln bewaffnet und mit lautem Geschrei stürzen sie dann hinaus um dem verängstigtem Vieh in seiner Not gegen die Wölfe beizustehen.

                      Die Wolfsnot war besonders im letzten Winter groß. Es fehlte an Jägern und an Pulver. 40 Rbl. Für ein Pfund Pulver konnten nur wenige zahlen und so nahmen die Bestien überhand und plünderten auch im Sommer die Herden. Ich habe selbst beobachtet, wie ein Junge mit einem Pferde, auf dem vorderen Teile des schon halb verlorenen Wagens sitzend totenbleich in das Dorf gerast kam, verfolgt von drei Wölfen, die erst kurz vor dem Dorfe ihre Verfolgung aufgaben.

                      Als ich mich einmal etwas weiter vom Dorf entfernt hatte und in den Wald eingedrungen war, kam mir plötzlich ein Wolf entgegen. Das Erschrecken war beiderseitig. Während ich mich nach einem Baum umsah, machte er kehrt und verschwand wieder. Ein einzelner Wolf greift im Sommer keinen Menschen an, anders dagegen im Winter, wenn sie in Rudeln auftreten und der Tisch nicht so reichlich gedeckt ist.
                      Auf jeder Katschofka verweilen die Baschkiren nur so lange als das Futter für ihre Tiere reicht. Ist alles abgegrast, so ziehen sie weiter und stellen ihre Jurten an einer neuen Weidestelle auf. In der ersten Septemberhälfte suchen sie wieder ihr Sorf auf. Dann werden die nötigsten Arbeiten ausgeführt wie Häuser bauen, Zäune flicken, Holz anfahren usw. Im Oktober ist bereits der Winter da mit viel Schnee und starkem Frost.

                      Wenn auf der Katschofka angekommen, wurde mir zunächst in jeder Jurte die ich passierte, eine Holzschale mit Kumis als Begrüßungstrunk gereicht. Das war für mich jedesmal eine wenig angenehme Bewillkommnung, die ich jedoch über mich ergehen lassen mußte, andernfalls ich die Leute beleidigt hätte. Da Kumis berauschend wirkt, war ich meist bald erledigt und mußte erst meinen Rausch ausschlafen, was den Männern immer viel Spaß machte und schon um dieses Vergnügen willen fiel der dargereichte Trunk immer recht reichlich aus.
                      Es kam manchmal vor, daß sich in den Holzschalen ein schmutziger Satz befand. Anfangs ließ ich diesen in der Schale zurück oder goß ihn weg, bis ich darauf aufmerksam gemacht wurde, daß dies für den Spender eine Beleidigung sei, worauf ich das Opfer brachte und auch diesen unappetitlichen Rest in mich hineingoß.

                      Hatte ich den eigentlichen Zweck meines Dortseins erledigt, dann ging ich mit den Männern jagen, fischen oder die aufgestellten Fallen nachsehen. Sie fingen auch Birk- und Auerwild in den Fallen, in denen dann die armen Kreaturen mit zerschlagenen Ständern hingen. Von waidgerechtem Jagen hatten sie keine Ahnung.
                      Hatte sich einmal ein Wolf in einer Falle gefangen, so wurde er zunächst wüst beschimpft, die gemeinsten Flüche wurden ihm an den Kopf geworfen, ihm Fußtritte versetzt und mit Knütteln bearbeitet bis er seinen Geist aufgab.

                      Abends saß ich mit ihnen am Lagerfeuer und mußte so manchen Krug Kisluschka mit ihnen leeren, bis ich vollgepumpt die nächste Jurte aufsuchte. Die Frauen waren davon recht wenig erbaut, denn dadurch waren sie gezwungen, sich einen anderweitige Unterkunft zu suchen.

                      Obwohl sie, besonders während meiner Anwesenheit auf der Katschofka, mir gegenüber viel von ihrer Scheu ablegten, ja sich sogar mit unverhülltem Gesicht zeigten, hat mich jedoch nie eine von ihnen angesprochen oder auf eine meiner an sie gerichteten Fragen geantwortet. Das war auch gar nicht zu verwundern, darf doch nicht einmal der jüngere Bruder mit der Frau des älteren Bruders sprechen, selbst wenn er mit ihm zusammen wohnt. Ob dies Gebot auch immer befolgt wird, weiß ich nicht, jedenfalls aber wird vor Zeugen nie dagegen verstoßen.

                      Als ein Zeichen großen Zutrauens mußten wir es werten, daß einige Baschkiren einwilligten, sich mit ihren Frauen und Töchtern mit Vorländer, Rosenbach und mir fotografieren zu lassen, obgleich ihnen der Koran verbietet sich Bilder ihres Gesichts machen zu lassen.

                      Ich hatte auf diese Naturkinder eine gewissen Einfluß erlangt und ihm ist es zu danken, daß wir zu solchen Bildern gelangten. Weil ich ihr wertvollstes Gut, ihre Pferde betreute, erwiesen sie mir ein größeres Zutrauen als irgend einem anderen von uns. Trotz allem aber blieb ich für sie ein Ungläubiger, dem gegenüber auch ihr Entgegenkommen ihre Grenzen hatte.

                      In einer fröhlichen Kisluschka-Laune hatte ich einmal versucht, einem Vater seine Tochter abzukaufen und da er auch nicht mehr Herr seiner Sinne war ging er auf den Handel ein. Wohl fehlten mir die üblichen Zahlungsmittel, wir einigten uns aber auf meine Taschenuhr, ein dort hochgeschätztes Wertstück.

                      Als er ging um die Tochter zu holen, sah ich nur, wie diese eilends flüchtete. Aber auch mein Schwiegervater ließ sich nicht mehr sehen und so ging auch ich ohne Frau, aber mit einem gewaltigen Affen, schlafen.

                      Als ich am andern Morgen wieder mit klarem Kopf erwachte und mir das versuchte Geschäft in Erinnerung kam, war mir an die möglichen Folgen denkend, nicht ganz wohl zumute. Ich nahm mir vor, meinem Schwiegervater möglichst auszuweichen und so bald als möglich meinen Besuch hier abzubrechen.
                      ---
                      Links neben Rosenbach das Mädchen, das ich einmal kaufen wollte.
                      Neben ihr ihre Eltern und vor ihr ihre Geschwister.
                      Die Frau im weißen Tuch eine Tartarin.
                      Vorländer zwischen seiner russischen Freundin und der Tochter Bocks.
                      Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #56
                        Aber als ich eben die Jurte verlassen wollte, stand er schon vor mir, er erwartete mich bereits. Er ging mit mir abseits und erklärte mir, daß aus dem gestrigen Handel nichts werden könne und daß er sich mit mir nur einen Scherz gemacht habe, denn ein Ungläubiger könne unmöglich seine Tochter heiraten.

                        Ich merkte mit großer Befriedigung, daß er vor dem Bekanntwerden des Ehehandels genau so eine Furcht hatte als ich und so warf ich mich in die Brust und erklärte ihm, daß ich auf seine Tochter verzichte, da ich eingesehen habe, daß sie mit meiner Uhr bedeutend überzahlt sei.

                        Diese Begründung gefiel ihm nicht und sicher hätte er sie nicht gelten lassen, wenn ihm nicht so viel an der Geheimhaltung unseres Handels gelegen hätte. So aber schluckte er sie herunter und sagte nur, ich solle etwas warten, er komme gleich wieder.

                        Er ging in seine Jurte und kam gleich wieder heraus, in jeder Hand einen krug mit Kisluschka tragend. Hinter ihm hörte ich erregte weibliche Stimmen woraus ich schloß, daß er wohl nicht unumschränkter Herr in seiner Jurte war, zumal er es anscheinend nicht wagte, mich zu diesem beabsichtigten Versöhnungstrunk in seine Jurte einzuladen.

                        Mit einen der beiden Krüge in die Hand drückend, führte er mich in den nahen Wald, wo wir uns in ein Gebüsch verkrochen. Aus dem schmutzigen Kittel zog er zwei Schafskäse hervor und nun setzten wir das gestrige Gelage fort, bis wir neben den leeren Krügen sanft entschlummerten.

                        Am Nachmittag lief mein Urlaub ab, da ich aber erst nach Anbruch erwachte, konnte ich an diesem Tage nicht mehr ins Dorf zurück. Man hatte mich zwar bereits gesucht aber nicht gefunden, aber da man für meinen Mordsrausch größtes Verständnis entgegenbrachte ohne dessen Veranlassung zu kennen, willigte man ein, mich am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang nach Hause zu begleiten. Mein Begleiter schwindelte dem Urjadnik sogar vor, ich hätte erst eine schwere Geburt behandeln müssen und deshalb sei eine frühere Heimkehr nicht möglich gewesen.

                        Abgesehen davon, daß diese Ausflüge immer große Anforderungen an meine Trinkfestigkeit stellten, waren sie doch eine willkommene Ablenkung von den durch das enge Zusammenleben verursachten Differenzen, die sich im Laufe der Zeit zwischen uns einstellten. Nach und nach fielen wir uns gegenseitig auf die Nerven. Jeder von uns hatte seine kleinen und größeren Fehler, die uns nunmehr auffielen und je länger wir so eng zusammen leben mußten, und das ewige Warten im Nichtstun schärfte dafür unsere Sinne.

                        Aber nicht nur die Fehler der Zimmergenossen ärgerten uns, auch gewisse harmlose Gewohnheiten fielen uns unangenehm auf und waren Ursache von Verärgerungen. Sicher habe ich mit meinen Fehlern auch dazu beigetragen, aber die eigenen Schwächen kennt man ja nicht oder will sie nicht zugeben.

                        Huth hatte die Gewohnheit, sich zur Erhaltung seines Fingerspitzengefühls allmorgentlich beim Waschen die Fingerspitzen der linken Hand mit einer Bürste und Seife etwa eine Viertelstunde lang zu bearbeiten, während dieser Zeit keinen andern an die Schüssel heranlassend. Anfangs amüsierten wir uns über diese Marotte, aber mit der Zeit wandelte sich dieses in Ärger um und als Huth dies merkte, dehnte er die Prozedur noch länger aus.

                        Damit war die friedliche Stimmung schon am frühen Morgen gestört. Nach dem Frühstück nahm er eine seiner Geigen heraus und trainierte sie. Das geschah nun nicht auf die Weise, daß er irgend etwas auf ihr gespielt hätte, oh nein, er sägte auf ihr fortwährend den selben Ton herunter und zwar auf jeder Saite extra. Hatte er eine Geige auf diese Art eine halbe Stunde lang bearbeitet, so nahm er die zweite und das schreckliche Sägen begann von neuem.

                        Da er unsere Einwendungen nicht beachtete sondern nach jedem Einspruch noch eifriger sägte, beschlossen wir, uns zu rächen und zwar auf eine Art, die seine Eitelkeit aufs Empfindlichste treffen sollte.

                        Er hatte einen pechschwarzen Schnurrbart, den er nach der Mode „Es ist erreicht“ trug. Ihm widmete er viel Aufmerksamkeit und stundenlang trug er ihn unter der Binde. Er war ein leidenschaftlicher Schachspieler, ich ebenso. Er hatte die üble Gewohnheit, jede Figur aus Prinzip zu schlagen, damit jede Kombination zunichte machend, da er glaubte, nur im Endspiel Erfolg zu haben, wodurch er aber den im Spiel liegenden Reiz rücksichtslos vernichtete. Um ihm das abzugewöhnen, suchte ich ihn schließlich in seinem sinnlosen Schlagen noch zu übertreffen in der Hoffnung, ihm das Sinnlose eines solchen Spiels zu beweisen. Es erwies sich aber als Irrtum, ja ich schien ihm damit nur einen Gefallen zu erweisen. Verlor er, was fast immer geschah, so quittierte er das nur mit einer kurzen musikalischen Figur aus seinem reichhaltigen Repertoir, womit er seinen Unmut verdeckte.

                        Ich fand nicht die Kraft das Spiel mit ihm zu meiden, immer wieder reizte mich die Aussicht, ihn von der Unsinnigkeit seiner Spielweise zu überzeugen. Während mich sein unsinniges Schlagen oft innerlich zum Kochen brachte, saß er scheinbar gelassen und völlig unberührt mit seinem in die Binde gezwängten Schnurrbart vor mir, mich durch diesen Anblick noch mehr reizend.

                        Wie bereits gesagt, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit der Pflege seines Gesichtsschmuckes, wozu auch gehörte, ihm seine glänzende Schwärze zu erhalten. Das Mittel dazu hütete er wie seinen Augapfel, da es unersetzlich war. Eines Tages mußte er die für ihn fürchterliche Entdeckung machen, daß sein kostbares Farbfläschchen verschwunden war. Voll innerer Unruhe suchte er tagelang danach, bis ihm gewiss wurde, daß es unwiederbringlich verloren sei. Wohl ahnte er die Zusammenhänge, verlor aber kein Wort darüber. Das Spielen mit mir gab er auf, widmete sich dafür aber ausgiebig seinen Geigen, uns damit für die Zeit seines Sägens aus dem Haus treibend.

                        Sein Schnurrbart verlor langsam seinen Glanz, er wurde grau und nach Monaten zeigte er seinen Naturfarbe, er war weiß geworden, er selbst aber zum Menschenverächter. In ihm war etwas zerbrochen. Er tat mir leid und ich bereute die begangene Gemeinheit, hätte ihm gern das Fläschchen wieder untergeschoben, aber Poley hatte es vernichtet.
                        Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #57
                          Das unerquicklich gewordene Zusammenleben beendete ein Vorschlag Vorländers, der mir anbot, in sein Quartier überzusiedeln um ihm in der Bewirtschaftung seines Haushalts zu helfen. Er hatte bemerkt, daß ich wieder einmal am Hungertuch nagte und da er mir keine Unterstützung anbieten wollte, wählte er diesen Weg um mir zu helfen.

                          Er hatte bereits Rosenbach und Seidler unter denselben Bedingungen bei sich aufgenommen, da auch sie, bar jeder Hilfe von außen, am Verhungern waren. Vorländer hatte ein ganzes Haus mit Ställen und einem großen Garten gemietet. Der Besitzer wohnte in einem Nachbardorfe und kam nur selten nach Sermenewa. Es war Iwan Iwanowitsch Kopioff. Wir ließen uns gelegentlich eines seiner seltenen Besuche mit ihm und seiner Familie fotografieren.
                          ---
                          Hintere Reihe von links nach rechts:
                          Ingenieur Harlof, Holzkaufmann Kownatzki, Ingenieur Rosenberg,
                          Vogt, Fabrikdirektor Bocks, Generalvertreter der I.G. Farben Vorländer,
                          Prokurist Breitfeld, Kapitän Steven.

                          Zweite Reihe:
                          Der Hauswirt Vorländers Iwan Iwanowitsch, seine Tochter Tatjana Iwanowna,
                          seine Frau Tanja Kirrilowna, Tochter Manja Iwanowna,
                          Kapellmeister Huth, Kaufmann Schuhkraft.

                          Dritte Reihe:
                          Frl. Siebert, Ingenieur Seidler, Feodosia Iwanowna,
                          vor ihnen sitzend Frau Bocks.

                          Als dieses Photo entstand, wohnte ich noch nicht dort.
                          Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #58
                            Als ich zu Vorländer zog, besaß er 2 Schweine, 10 Hühner und 5 Gänse, die von einem Dienstmädchen betreut wurden. Auf meinen Vorschlag wurde das Mädchenentlassen, denn ich wollte mir die gewährte Unterkunft und Beköstigung auch verdienen.

                            War ich nun aller Sorgen um das tägliche Brot enthoben, wollte ich mich dafür auch nützlich machen, bedeutete doch dies für mich keine unbequeme Arbeit, sondern eine in mein Fach einschlagende angenehme Beschäftigung, mit der ich nach dem Willen Vorländers Gelegenheit hatte, die Speisekarte anderer Hungerleider aus den Erträgen meiner Arbeit aufzubessern. Daß sich die Erträge steigern und mehr als unseren eigenen Bedarf decken sollten, dafür wollte ich schon sorgen. Dank der Großzügigkeit Vorländers konnte ich aus dem Vollen schöpfen. Den Hühnerbestand erhöhte ich durch Hinzukauf auf 30 Stück, setzte davon 5 auf Eier und erzielte einen Zuwachs von 52 Küken. Ich entwarf einen rationellen Futterplan für die Schweine, vergrößerte den Gemüsegarten, zäunte ihn ein und schnitt die ungepflegten Obstbäume aus. Auch vergrößerte ich den Hühnerstall und besserte die Dächer aus. Obwohl mir Habichte 14 Küken holten, eröffneten die noch verbliebenen mit dem alten Stamm die Aussicht auf reiche Eierernte und manchen Braten.

                            Seidler hatte sich vom Typhus nicht recht erholen können. Sein Zustand verschlimmerte sich wieder, so daß er glücklich war, daß sein Antrag auf Übersiedlung nach Orenburg genehmigt wurde, wohin er auch bald abreiste. Als Ersatz für ihn wurde wieder ein Mädchen für die grobe Hausarbeit eingestellt. Rosenbach besorgte das Kochen während ich mir die Außenarbeit nicht nehmen ließ, die meinem bisherigen sinnlosen Dahindämmern wieder neues, nützliches Leben verlieh.

                            Vorländers Beschäftigung bestand nur im Erlernen fremder Sprachen. Wir hätten ihn auch nicht arbeiten lassen, denn die von uns für ihn geleistete Arbeit war das nicht wert, was er für uns tat.

                            Das Haus, in dem ich mit Vorländer wohnte:
                            Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                            • Helen
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                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #59
                              Ende März 1917 zeigte uns ein Durchreisender ein Telegramm welches besagte, daß der Zar Nikolaus für sich und seinen Sohn am 15.3. dem Thron entsagt habe. Das war die erste Nachricht von der von uns schon lange erwarteten Revolution, von der wir unsere Freiheit erwarteten.

                              Nie werde ich den Eindruck vergessen, den die bei dieser Gelegenheit von Vorländer gemachte Äußerung auf mich machte, daß das Königtum eine überlebte Einrichtung sei. Ich hatte mich in meinem Leben nie sonderlich um Politik gekümmert, das Königtum stand in meinen Gedankengängen als etwas Selbstverständliches, Unumstößliches da, so daß mich diese, von dem von mir so hochgeschätzten Vorländer vorgebrachte Äußerung tief schmerzte und mir manche nachdenkliche Stunde bereitete. Ich muß gestehen, daß ich auch heute mich noch nicht zu seiner Ansicht bekehrt habe.

                              Im Laufe der nächsten Wochen vollzog sich in unserem so friedlichen, weltabgewandten Winkel ein großer Wandel. Die Wogen, die im politischen Leben der großen Zentren des Riesenreiches brandeten, schlugen ihre Wellen auch bis zu uns. Persönliche Differenzen wurden auf das politische Gebiet übertragen, ohne sich auf diesem über Zweck und Ziel einen klaren Begriff zu machen zu können. Unter Revolution stellte man sich nur einen Zustand vor, bei dem man in der Lage war, ungehindert von Behörden oder Gesetzen persönliche Wünsche durchzusetzen. Nicht nur der Gegensatz zwischen Baschkiren und Russen trat jetzt scharf hervor, auch unter den Baschkiren selbst bildeten sich zwei feindliche Lager.

                              Von überall liefen Nachrichten ein, daß die Polizei abgeschafft oder erschlagen worden sei. Der Strasnik, der sich mit Recht gefährdet hielt, zog seine Uniform aus nachdem er sich bei uns erfolglos bemüht hatte einen Zivilanzug zu erhalten. Wir hatten keine Veranlassung, ihm beizustehen und so hatte ihm wohl ein Russe mit Kleidung ausgeholfen.

                              Der Urjadnik, der sich uns gegenüber immer anständig benommen hatte, erhielt von Vorländer einen Anzug, etwas zu modern für ihn und auch zu groß, aber doch geeignet, ihn vor den Angriffen durchreisender roter Sendboten zu schützen, denen keine Polizeiuniform vor die Augen kommen durfte.

                              Bereits Anfang April wurde eine Versammlung einberufen, wozu auf dem Gemeindehause, der Schule und sogar auf dem Gebäude des Semski-Natschalnik die rote Fahne gehißt wurde. Die Bilder des Zaren und der Zarin, die man früher in Prozessionen herumgetragen hatte und vor denen man auf die Knie gesunken war, wurden herausgeholt, auf die Straße geworfen, bespuckt und zertrampelt. Von der Veranda des Gemeindehauses hielt ein Abgesandter der neuen Regierung eine wilde Rede, welche der Mullah den turbulenten Zuhörern übersetzte. Dieser lebte schon lange mit den örtlichen Behörden, besonders mit dem Starchena in Unfrieden und nutzte nun diese willkommene Gelegenheit aus, um seinen Gegner zu stürzen.

                              Als Nuchoff, der Starchena zur Versammlung erschien, wurde er von der vom Mullah aufgeputschten Menge umringt und ihm die Schlüssel zur Amtskasse abverlangt. Er weigerte sich, diese heraus zu geben, als er aber blanke Messer aufblitzen sah, warf er sie ihnen vor die Füße. Er wollte Rechnung ablegen und die Kasse vorschriftsmäßig übergeben, aber man schrie, das sei nicht nötig, denn sie sei doch nicht in Ordnung. So ging er nach Hause, Rache im Herzen, als Anhänger der alten Regierung. An diesem Tage hatte der Mullah die Gewalt an sich gerissen. Aber er sollte noch erfahren, welchen Feind er sich in Nuchoff geschaffen hatte, der infolge seines Reichtums und der ausgedehnten Verwandtschaft in den ihm bisher unterstellt gewesenen Dörfern noch eine bedeutende Anhängerschaft hatte. Er rief seine in Samara studierenden Söhne zu sich und gemeinsam mit ihnen nahm er den Kampf mit den ihm geistig unterlegenen Gegnern auf.

                              Obwohl er gegen uns unfreundlich gewesen war, konnten wir ihm keine Ungerechtigkeit vorwerfen und da er in dieser verrückten Zeit sich als ein mutiger und zielbewußter Kämpfer erwies, der mit Klugheit und Zähigkeit seine Stunde abwartete, gehörten ihm unsere Sympathien.

                              Anläßlich dieser Versammlung wurden sämtliche Gemeindebeamte abgesetzt. Der Urjadnik erhielt einen Posten als Schreiber, der Strasnik wurde mit seiner Familie aus dem Dorfe gejagt. Er war froh, mit dem Leben davon zu kommen.

                              Für den Tag nach der Versammlung hatten Krüger und ich eine Vorladung vor das Ortsgericht erhalten. Das hatten wir dem Strasnik zu verdanken, der uns angezeigt hatte, weil wir auf der Straße Deutsch gesprochen hatten. Obwohl wir annahmen, daß in diesem allgemeinen Wirrwarr keine Sitzung stattfinden würde, waren wir doch hingegangen um zu sehen, wie man sich uns gegenüber wohl verhalten würde.

                              Wir fragten einen Schreiber, ob bei diesem Durcheinander die Sitzung wohl stattfinden würde und er sagte uns: „Selbstverständlich, das russische Volk wird mit allem fertig.“ Wir warteten eine ganze Weile, da sich aber niemand um uns kümmerte, gingen wir wieder nach Hause, ohne je wieder etwas von der Sache zu hören.

                              Der Nachfolger Nuchoffs auf seinen Posten als Starchena wurde Padrekin, ein des Lesens und Schreibens unkundiger Baschkir. Der Mullah erhielt das neu geschaffene Amt eines Vorsitzenden der Gemeinde Sermenewa, war aber das Haupt der Verwaltung der 32 Dörfer, die nun eigentlich Padrekin unterstanden, der aber ein Strohmann des Mullah war.

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                              • Helen
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                                • 04.02.2010
                                • 164

                                #60
                                Die im Dorfe wohnenden Russen wurden besorgt um ihren Besitz, denn man drohte sie aus den Baschkirendörfern hinauszuwerfen. Nuchoff verband sich nun mit den drei angesehensten Russen, dem Arzt, dem Lehrer und dem Posthalter, die wie er Anhänger der alten Regierung waren. Er versprach ihnen seinen Schutz, wenn sie ihm in seinem Schutz, wenn sie ihm in seinem Kampf gegen seine Widersacher beistünden und die übrigen Russen seine Partei ergriffen. Er unternahm heimliche Agitationsreisen in die ihm unterstellt gewesenen Dörfer, wobei er mit Geld nicht sparte. Der Erfolg war, daß eines Tages gegen 50 teils desertierte, teils beurlaubte Soldaten aus ihren Dörfern vor dem Gemeindehause erschienen und Padrekin zu sprechen verlangten. Zu seinem Glück war er nicht anzutreffen. Mit Knüppeln bewaffnet zogen sie vor sein Haus. Er aber, die drohende Gefahr erkennend, schwang sich auf sein Pferd und floh. Nuchoff stand vor seinem Haus und beobachtete alles. Dieser Streich war nicht gelungen, es mußte also anders gemacht werden.

                                Als sich die fremden Soldaten verzogen hatten, rotteten sich die Dorfbewohner zusammen, zogen vor Nuchoffs Hof und riefen, er solle heraus kommen, man wolle ihn erschlagen. An der Seite seiner Söhne kam er auch heraus, aber jeder trug eine Flinte in der Hand. Als er auf die menge zuschritt, wichen sie zurück, erst langsam, dann schneller, bis alle flüchtend davonstoben. Nuchoff lachte hinter ihnen her, er kannte seine Leute.

                                Es kam die Zeit der Heuernte. Jeder Babschkir oder gar Russe, der bei Nuchoff arbeitete, wurde verprügelt und bald stand er ohne Arbeiter da. Eines Tages ließ er mich rufen und fragte mich, ob wir ihm bei der Heuernte helfen wollen. Unter der Bedingung, dass uns seine Söhne bewaffnete Hilfe gewähren müßten, versprach ich, zu versuchen, seine Bitte zu erfüllen.

                                Da er gute Bezahlung zugesichert hatte, konnte ich bereits am nächsten Tage mit 4 des Mähens kundigen Kameraden auf seine Wiesen ziehen. Fünf weitere besorgten das zerstreuen des Grases und die weitere Pflege. Dies alles geschah unter meiner Leitung und da ich dabei die bei uns übliche Methode anwendete, ging alles sehr schnell. Bei der dort herrschenden Hitze war das Heu am dritten Tage nach der Mad schon fertig.

                                Da die Zeit schon drängte, war Nuchoff mit der Art unserer Bearbeitung sehr einverstanden, ja er besserte uns sogar den versprochenen Lohn auf. Seien Söhne umritten unser Arbeitsfeld und hielt uns Störungen fern. In 10 Tagen war die Arbeit beendet. Das Heu stand in hohen Stapeln, seine Güte übertraf die früheren Jahre, was den Besitzer veranlaßte, uns außer dem Lohn noch ein Faß Kisluschka zu spenden. Den gegen mich früher gehegten Groll schienen seine Söhne vergessen zu haben.

                                Obwohl meinen Gefährten und auch mir der schmerzte und die Hände voller blasen waren, hatte uns die Arbeit doch Freude gemacht und der Verdienst war uns hoch wollkommen. Das Faß Kisluschka wollten wir später gemeinsam leeren.

                                Protz hatte den genialen Einfall, das Faß zur Veredelung seines Inhalts bis zu seiner Leerung in die Erde zu vergraben. Als wir uns nun eines Tages, jeder mit einem Trinkgefäß bewaffnet zum festlichen Gelage einfanden und das Faß feierlich ausgegraben wurde, erlebten wir eine bittere Enttäuschung. Das Faß war leer, war undicht geworden und ausgelaufen. Natürlich mußte sich Protz ob seiner klugen Idee manche saftige Bemerkung einstecken.

                                Eine Woche nach Beendigung der Heuernte war der nächtliche Himmel gerötet , sämtliche Heustadel Nuchoffs brannten. Das war ein harter Schlag für ihn, war es doch das Winterfutter für seine 70 Pferde, das in Flammen aufging. Er ließ sich aber nichts anmerken, ging weiter unbewaffnet lächelnd durchs Dorf, während seine Söhne die reich mit Silber geschirrten Pferde tummelten. Nun trat er zum Gegenangriff gegen den Mullah an dem dieser auch erliegen sollte.

                                Eines Tages wurde ich auf das Gemeindehaus geladen. Man führte mich vor einen fremden, mohammedanischen Geistlichen, neben ihm saß Nuchoff. Der fremde Mullah eröffnete das Gespräch, indem er mich fragte, ob es zutreffe, daß sich der Mullah mit mir und zwei andern habe fotografieren lassen. Ich antwortete ihm, daß es mir nicht bekannt sei, daß dies etwas verboten sei. Darauf erklärte er mir, daß sich seine Untersuchung nicht gegen uns richte, wohl aber gegen den Mullah, der das Gebot des Korans mißachtet und seinen heiligen Beruf geschändet habe. Er fragte, ob ich bereit sei, ihm ein solches Bild zu übergeben, andernfalls er sich genötigt sehe, mich als einen Verteidiger dieses Vergehens zu betrachten, was für mich nicht ohne Folgen bleiben könne.

                                Da war ich wieder mal in eine Zwickmühle geraten. Was sollte ich nun tun? Der Mullah war mir gleichgültig, dem Starschema aber hätte ich gern geholfen, denn das Verbrennen der Heuschober, das mühselige Werk unserer Hände, das der Mullah sicher veranlaßt hatte, ärgerte mich und so beschloß ich, das Bild auszuhändigen. Ich trug es bei mir und gab es ihm. Nuchoff ließ das Bild vervielfältigen und verteilte die Abzüge in den 32 Dörfern. Kurze Zeit darauf wurde eine Versammlung einberufen, auf der der Mullah abgesetzt wurde. Ein Verfahren seiner geistlichen Behörde folgte und er wurde seines Amtes entkleidet. Mit dem Mullah fiel auch das Amt eines Vorsitzenden der Gemeinde, um später unter dem Namen eines Volkskommissars wieder zu erstehen.

                                Nun widmete Nuchoff seine Aufmerksamkeit seinem Nachfolger Padrekin. Bei diesem erschien eines Tages ein Beamter des Eisenwerkes Saprodufka um wegen eines Holzverkaufs zu verhandeln. Er machte ihm ein Angebot, dem Padrekin nicht wiederstehen konnte. Er verkaufte einen Teil des Gemeindewaldes wie früher auch Nuchoff, nur mit dem Unterschied, daß er nur 50 % des Erlöses ablieferte und er sich die andere Hälfte in die eigene Tasche steckte.

                                Damit war er in die Falle gegangen. Der Beamte war gar kein Vertreter des Eisenwerkes, sondern ein Abgesandter Nuchoffs. Wieder erfolgten Agitationsreisen des Letzteren und wieder wurde eine Versammlung einberufen. Auf dieser erschienen auch hoch zu Roß die Baschkirenweiber, sie waren plötzlich stimmberechtigt geworden. Auch Nuchoff erschien unter der ihn umbrodelnden Menge und gab seine Stimme ab.

                                Diese Wahl blieb aber ergebnislos, niemand wurde aus ihr klug. Nach vier Tagen wurde sie wiederholt. Padrekin wurde abgesetzt und halb tot geschlagen, seine Stelle übernahm Achmed Geinetrin, ein Anhänger Nuchoffs. Dieser war klug genug, nur Schritt vor Schritt vorzugehen, ganz allmählich schob er sich wieder zur Spitze vor.

                                Bei dem eingetretenen Verfall jeglichen Rechtsbewußtseins konnte es nicht ausbleiben, daß sich die uns geltenden Bestimmungen lockerten. Wohl maßten sich jetzt verschiedene Stellen Aufsichtsrechte über uns an, denen wir jedoch wenig Beachtung schenkten. Fest stand nur, daß die neue Regierung angeordnet hatte, daß wir unsere Aufenthaltsorte nicht verlassen dürfen.

                                Um das Ausgehverbot, die Bestimmung des Deutschredens und das Versammlungsverbot kümmerten wir uns nicht mehr und wenn uns auch mancher Übereifrige mit einer Anzeige drohte, hatten wir nun den Schutz des neuen Starchena, des Strohmannes Nuchoffs.
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                                Allotria in Sperlings Hof

                                Auf mir ein kleiner Sperling,
                                nach rechts: Rosenbach, der alte Spatz, Krüger, Frischmann, der Lapskaus-Koch.
                                Links von mir: Poley, über- und untereinander die beiden Artisten Fluher und Reinhardt,
                                vor mit: Vorländer.
                                Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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