Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

    Der letzte Bericht endet im Baltikum und setzt sich mit dem Weg Richtung asiatischer Grenze fort.
    Wünsche interessante Eindrücke!
    Helen
    ---
    Da mir die Reise nach Riga mit der Bahn zu riskant war, ritt ich bis zu dem 40 Werst entfernten Gute Allasch. Der dortige, mir bekannte Inspektor versprach, das Pferd zurückzuschicken und ließ mich mit einem Wagen weiter nach Riga fahren, wo ich unbehelligt eintraf. Es waren bereits viele Verhaftungen erfolgt und ich durfte nun nicht länger zögern. Bei den recht schwierigen Bemühungen um eine Fahrkarte stieß ich auf einen mir gut bekannten Förster vom Gute Kroppenhof, dem nächsten Nachbargute von Winterfeld, der mit einigen Freunden ebenfalls im Begriff stand, abzureisen. Ich schloss mich dieser Gesellschaft an und wir beschlossen, uns in der nächsten Zukunft möglichst nicht zu trennen. Unsere Gruppe bestand aus Förster Speß, Förster Poley, den Elektrikern Höhne und Haage und mir.
    s. Bild unten
    Wir hatten den Weg Riga – Dwinsk – Wjasma – Tula - Samara gewählt. Die Fahrkarte kostete 13 Rubel, war also im Verhältnis zur Länge der Strecke recht billig. Die Wagen waren dermaßen überfüllt, dass uns bei dem Gedanken, dass wir nun vier Tage so zusammengepfercht fahren sollten, gruselte. Fast alle Mitreisenden waren Leidensgenossen und ich staunte ob der großen Zahl der in den Baltischen Provinzen lebenden Reichsdeutschen. Freilich waren darunter viele, die Deutschland nie gesehen hatten. Das waren Nachkommen eingewanderter Reichsdeutscher, die es mit Absicht oder aus Nachlässigkeit versäumt hatten, die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben. So war von meinen Reisegenossen nur Speß einmal in Deutschland gewesen und zwar auf der Forstakademie in Eisenach.
    Einige waren dabei, die nicht einmal der Sprache mächtig waren.

    Auf allen Stationen standen Militärzüge, meist besetzt mit Artillerie. Überall wurde gesungen und bei unserem Anblick „Uräh“ geschrieen. In Dwinsk stiegen noch weitere Deportierte zu uns.

    Am 30. Juli kamen wir in Wjasma an. Da wir dort 3 Std. Aufenthalt hatten, ging ich in die Stadt, um einen Frisör zu suchen. dieser, ein Jude, erzählte mir auf jiddisch, dass es wahrscheinlich zwischen Russland und Deutschland zum Kriege kommen werde. Er war sehr erstaunt zu hören, dass dieser bereits eine Woche lang im Gange sei und er in mir den ersten Kriegsgefangenen bewundern könne. Er hielt dies für einen faulen Witz und lachte albern, denn ein Gefangener konnte doch nicht zu ihm kommen um sich den Bart abschaben zulassen.

    Die nächste Nacht verbrachte ich auf dem obersten Gepäckteil und schlief dort recht gut. Die Extrablätter, die wir am nächsten Tage kauften, meldeten nichts Gutes. Lüttich war noch nicht genommen und bei Mühlhausen sollten wir furchtbare Verluste erlitten haben. Die Meldungen waren so niederschmetternd, dass wir sie nur als Lügen ansehen konnten. Ein solch beispielloser Misserfolg war nicht denkbar.

    Wir passierten die Städte Kaluga, Tula, waren also im berühmten Schwarzerdegebiet. Links und rechts vom Schienenstrang dehnten sich endlose Felder aus, Sie waren zum größten Teil bereits abgeerntet, einige bereits geschält. Aber selten sah man auf ihnen Arbeiter, alles lag still und verlassen wie an einem Sonntage.

    Nur große Rinder- und Schafherden weideten auf den noch stehenden Stoppeln. Fortwährend begegneten uns Züge mit Soldaten, meist Männer mit langen Bärten.

    Am 4. Tage kamen wir an die alte viel gepriesene, viel besungene Wolga. Ich war von ihr sehr enttäuscht, ich hatte sie mit größer vorgestellt. Stellenweise war sie recht schmal, wahrscheinlich führte sie in diesem trockenen Jahre wenig Wasser. Der Schiffsverkehr auf ihr war jedoch recht bedeutend, 'Ich sah einige Passagierdampfer und viele Frachter. Bevor wir die sehr lange Brücke passierten, hielt der Zug und alle Fenster mussten geschlossen werden. Der Grund für diese Maßregel blieb uns unbekannt. „Bombenfurcht“ meinte ein Mitreisender. Auf dem linken Ufer des Stromes sieht man nur bewaldete Hügel, während auf der anderen Seite sich fruchtbare Felder und Wiesen ausdehnen. ‚Bergseite’ und ‚Wiesenseite’ werden die beiden Ufer genannt.
    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:57.
  • Fiehn
    Erfahrener Benutzer
    • 16.09.2008
    • 768

    #2
    Sehr interessant. Aber leider lässt sich das Bild nicht öffnen!
    Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
    Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

    FN meiner Forschung

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    • gudrun
      Erfahrener Benutzer
      • 30.01.2006
      • 3277

      #3
      Hallo Helen,


      Der Bericht ist sehr interessant. Da hast Du wirklich einen schönen Schatz.
      Schade daß ich keinen solchen Schatz habe, ich beneide Dich darum.

      Viele Grüße
      Gudrun

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #4
        Hallo Fiehn, ich hatte schon meine Zweifel, dass es sich so einfach kopieren ließ, ich habe es neu geladen.

        Wem die Schrift zu klein sein sollte, mit der Strg-Taste und der +Taste (oder Strg und Rad an der Maus) lässt sie sich vergrößern. Verkleinern mit Strg -
        Helen
        ---
        Um 7 Uhr abends kamen wir in Samara an, wo wir auf dem Bahnhof erst wieder einmal ordentlich zu essen gedachten, was aber ein frommer Wunsch blieb, denn auf diesen Andrang war man nicht vorbereitet. Nun gingen wir zur Polizei, um uns anzumelden, wozu es aber schon zu spät war. Wir suchten nun eine Unterkunft für die Nacht, die wir auch nach vielen vergeblichen Versuchen in einem Hotel fanden. Wir erhielten ein kleines Zimmer mit nur einem Bett. Wir knobelten es aus und Speß war der glückliche Gewinner, wir andern schliefen auf dem Fußboden. Waschwasser erhielten wir erst nach vielen Bemühungen und wir merkten bald, dass dies ein rarer Artikel war. Das uns bedienende Frauenzimmer sah mit Staunen, wie viel ein Deutscher davon nötig hatte um sich zu reinigen. Der Russe braucht viel weniger. Das Zimmer kostete 3 Rubel, der Samowar 20 Kopeken. Die Pässe wurden uns abgenommen, angeblich um uns anmelden zu können. Ich habe den meinen nie wiedergesehen.

        Am nächsten Tage suchten wir wieder die Polizei auf. Vor dem Gebäude stehende Leidensgenossen rieten uns, erst unsere Sachen aus dem Hotel zu holen, da man hier nicht mehr herauskomme. Wir befolgten den Rat, holten erst das Gepäck und meldeten uns dann. Auf dem Hofe des Polizeigebäudes waren bereits 500 Deutsche und Österreicher versammelt. Von jedem wurden Name, Alter, Stand und Militärverhältnis notiert. Die Tschechen wurden aufgefordert, russische Untertanen zu werden, wozu die meisten auch bereit waren, sie schienen sogar sehr darüber erfreut zu sein als ihnen eröffnet wurde, dass sie als russischer Soldaten würden bald an die Front geschickt werden. Dafür mussten sie sich manche Schmeichelei von uns anhören.

        Um 7 Uhr abends wurden wir in Gruppen zu je 100 Mann aufgestellt und von Polizei und Soldaten eskortiert in die verschiedenen Unterkünfte geführt. Alle etwa vorhandenen Waffen mussten natürlich abgegeben werden. Unsere Abteilung wurde durch verschiedene Straßen der Stadt geführt. Die Bevölkerung überschüttete uns mit Schmähungen, wobei die Polizei sich völlig passiv verhielt. Auf einer asphaltierten Straße begegnete uns ein Zug Sträflinge mit ketten an Händen und Füßen, begleitet von Kosaken, mit Lanze und Nagaika. Plötzlich rief ein Spaßvogel: „Augen rechts“ und im nächsten Moment erdröhnte die Straße unter donnernden Schritten. Verblüfft starrten uns die Polizisten an. Als aber das Kommando „Rührt euch“ kam, stimmten sie in das allgemeine Gelächter mit ein. Es gab Menschen, die auch in den schwierigsten Lagen ihren Humor nicht verloren und mit ihren oft grotesken Einfällen auch die Mutlosesten zum Lachen brachten.


        Bei völliger Dunkelheit langten wir bei einer an der Wolga liegenden Kaserne an. Diese war zwar schon überfüllt, aber wir 100 Mann mussten noch hinein. In unserem Raum gab es weder Stuhl, Bett oder Tisch, die ganze Ausstattung bestand aus einigen Nägeln in der Wand und froh war, wer einen Aufhänger der Sachen erwischte. Wir hatten gewaltigen Hunger, trösteten uns aber mir dem Gedanken, dass wir wohl morgen etwas Essbares erhalten würden. Die Nacht verbrachte ich zusammengerollt wie ein Igel, denn zum Ausstrecken fehlte der Platz. Speß turnte durch Fenster und schlief auf dem Dach, Poley und Höhne schlugen ihr Lager im Klosett auf. Sie meinten aber anderntags, schön sei es nicht gewesen und sie seien fortwährend geweckt und beschimpft worden. Mir schmerzten alle Knochen, denn auf der harten Diele war es auch nicht sehr angenehm. Später habe ich 9 Monate lang auf einem harten Brett geschlafen und eben so gut wie die andern auf ihren Matratzen.

        Mit bereits bedenklich knurrendem Magen erwarteten wir das Frühstück. Als wir um 11 Uhr immer noch nichts erhalten hatten, baten wir, uns selbst etwas kaufen zu dürfen. Immer je 5 Mann in Begleitung eines Soldaten durften wir dann im nächsten Geschäft Lebensmittel einkaufen. Die Preise stiegen aber so rapid, dass die Polizei einschritt und die Preise festsetzte. Bis dahin konnten wir uns über die Polizei nicht beklagen, sie war freundlich und gerecht. Sie sahen in uns wohl Menschen einer höheren Kultur und hatten demzufolge gewissen Respekt vor uns. Durch das Fenster hatten wir eine schöne Aussicht auf die Wolga. Dampfer, Kähne, Segler und Flöße lösten sich in bunter Reihenfolge ab und der schwermütige Gesang der Floßknechte tönte zu uns herüber.

        Wir hatten uns schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, unter diesem unwirtlichen dache noch eine zweite Nacht zu verbringen, als abends 7 Uhr die Nachricht kam, dass wir sofort nach Orenburg geschafft werden sollten .ein wilder Rummel begann und kurz darauf standen wir in Reih und Glied auf der Straße. Soldaten geleiteten uns zum Bahnhof. Dort stand ein Zug mit Viehwagen für uns bereit und über Laufbretter erkletterten wir die Wagen. Die Abfahrt erfolgte 12 Uhr nachts. Die Wagen blieben geschlossen und nur durch die Luken hindurch konnten wir die uns begleitenden Soldaten auf den einzelnen Stationen bitten, uns für Geld und gute Worte Teewasser und Lebensmittel zu besorgen. Gar mancher wartete vergeblich auf die Wiederkehr des Boten.

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #5
          Hallo Gudrun, du hast sicher auch noch ein Erinnerungsstück von deinen Vorfahren. Manche haben nicht mal merh ein Photo und das ist sehr schade.
          Helen
          ---

          Mit naiver Bewunderung wurden wir auf den Bahnhöfen von der dort sich ansammelnden Bevölkerung betrachtet. Meist waren sie arg enttäuscht, weil wir nicht einmal eine Uniformen anhatten und schadenfroh glaubten sie, dass es den Deutschen bereits jetzt am Anfang des Krieges an solchen mangele. Sie glaubten natürlich, dass wir auf dem Schlachtfelde gefangen genommen worden seien. Als ein vorwitziger Kirgise sich dicht an einen Wagen herandrängte um uns besser betrachten zu können, rüttelte ein Berliner heulend an dem Gitter und fletschte die Zähne, worauf der Steppensohn entsetzt das Weite suchte. Zweimal wurde auf freiem Felde gehalten und die Türen geöffnet und im nächsten Moment war das Feld rechts und links vom Zuge mit hockenden Menschen bedeckt. Der Besitzer des Feldes wird im nächsten Jahre wahrscheinlich einen bedeutenden Mehrertrag zu verzeichnen gehabt haben.

          Nach 27-stündiger Fahrt hatten wir die Strecke von 800 Werst zurückgelegt und langten morgens um 3 Uhr in Orenburg an. In stockfinsterer Nacht wurden wir bei strömendem Regen ausgeladen. Berittene Feuerwehr mit Fackeln und Kosaken erwarteten uns. Das Gepäck wurde am Bahnhof aufgestapelt und später von Fuhrleuten nachgebracht. Viele verloren hier sämtliche Sachen. Die Hälfte von uns wurde in einem sog. Volkshause, der Rest, darunter auch ich, in einer Kleinkinder-Verwahranstalt, dem ‚Asyl der Hl. Olga’ untergebracht. Wie ich später erfuhr, hatten wir den besseren Teil erwischt, denn im Volkshause war das Verlassen der Zimmer verboten.

          Bei der Hl. Olga waren schon Leidensgenossen einquartiert, so daß es auch hier wieder überfüllt war. Am Vormittag klärte sich das Wetter auf und bald brannte die Sonne heiß herab. In dem großen Hofe herrschte bald ein reges Treiben. Viele, nur mit Badehose, auch mit noch weniger bekleidet, nahmen Sonnenbäder. In einer Ecke übte eine Akrobatentruppe um sich die Glieder geschmeidig zu erhalten und zwar barfuß – bis an den Hals. Unter einer in der Mitte des Hofes stehenden Linde hatte sich die Zunft der Ringkämpfer in Stärke von 8 Mann niedergelassen und führte ein fachmännisches Gespräch. Etwas abseits spazierte der in Russland beliebte Humorist Max Lindner in Hemdsärmeln herum. In einem Zimmer neben der Küche, in welcher ein schmieriger Tartar das Zepter schwang, entlockte ein Oberbayer seiner Zither kunstvolle Weisen und dazu trug ein Komiker gepfefferte, nur in solch geschlossener Herrengesellschaft genießbare Schnaderhüpferl vor. In der Ecke eines andern Zimmers hockte eine Anzahl Männer um einen Prediger einer Wiedertäufersekte aus Kurland herum. Leise, aber eindringlich sprach er seinen lauschenden Zuhörern Mut zu und verhieß ihnen das baldige Ende des Krieges. Es war eine sonderbare Einmischung, richtete aber manchen Verzagten und Verzweifelten wieder auf. Und zwischen all diesen bunten Bildern wandelten unsere Wächter, Reservisten mit langen Bärten, schmunzelnd herum. Mittags erhielten wir endlich Essen, Reissuppe mit Rindfleisch und Schwarzbrot, was ganz vorzüglich schmeckte. Immer 10 Mann erhielten eine Schüssel voll. Da für 24 Std. eine Mahlzeit aber etwas wenig ist, mussten wir eben wieder selbst kaufen. Für ein Trinkgeld waren die Soldaten gern bereit, uns das Nötige einzukaufen. Selbst aber durften wir nicht hinaus. Am Nachmittag teilte uns ein Offizier mit, dass jedes Hinaustreten vor die Tür, Klettern über den Zaun oder Hinwegsehen über denselben als Fluchtversuch betrachtet und mit einer Kugel beantwortet werden würde. Am Tage vorher hatten zwei Mann die Flucht versucht, waren aber am Bahnhof wieder ergriffen worden und sollen erschossen worden sein.

          Am nächsten Tage unserer Anwesenheit bei der Hl. Olga entwickelte sich auf dem Hofe wieder dasselbe bunte Bild. Mit Erstaunen ergötzten sich die Soldaten daran, dass einige Gefangene sich täglich von Kopf bis Fuß wuschen und sich von Kameraden Ströme von Wasser über den Leib gießen ließen. „Ihr seid doch gar nicht schmutzig,“ meinten sie und schüttelten die Köpfe.

          Allerlei tolle Gerüchte schwirrten herum. Italien sollte Frankreich den Krieg erklärt haben, die Schweden sollten in Finnland mit 50000 Mann deutscher Hilfstruppen einmarschiert sein, England sollte der Türkei ein Ultimatum gestellt haben. Die Irkutsker Husaren sollten in Ostpreußen völlig vernichtet worden sein. Ein Witzbold überraschte uns mit der sensationellen Nachricht, dass der Papst Protestant geworden sei. Wenn auch all diese Nachrichten niemand recht glaubte, so belebten sie doch den Mut und die Hoffnungen. Jeder fragte sich besorgt, werden wir hier bleiben oder müssen wir noch weiter. Man sah schon recht viele eingefallene Gesichter und die wuchernden Bartstoppeln trugen auch nicht zur Verschönerung der Physiognomien bei. Wohl hatten sich an allen Ecken gefangene Frisöre etabliert, sie hatten aber wenig Zuspruch.

          Plötzlich, um 8 Uhr abends des vierten Tages kam de Befehl: „Sachen packen und antreten.“ Man schien uns mit Absicht immer nur nachts weiter zu transportieren. An der Grenze Asiens war waren wir schon, wo sollte es wohl nun hingehen? Als wir auf die Straße hinaustraten, war diese beiderseits von Kosaken besetzt. Die Beleuchtung lieferte wieder die Feuerwehr mit Fackeln. Sorgfältig wurden wir, wohl mehr als fünfmal von den Offizieren gezählt, und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Die Sache sah ziemlich ungemütlich aus. Die Kosaken, mit Lanze und Knute, sahen uns nicht gerade freundlich an und einem wild aussehenden Offizier schien es Spaß zu machen, uns auf seinem schnellen Pferde beständig zu umkreisen, bis ein Sturz über einen Steinhaufen seinen Eifer etwas dämpfte. Zur Verbesserung seiner Laune trug es aber keineswegs bei.

          Wir merkten bald, dass es nicht zum Bahnhof ging. Nach halbstündigem Marsch passierten wir die Brücke über den Ural und befanden uns nun in einem andern Erdteil, denn der Strom bildet dort die Grenze zwischen Europa und Asien. Kurz hinter der Brücke stand ein hoher Obelisk und beim flackernden Licht der Fackeln las ich auf der einen Seite die Inschrift ‚Jewropa’ und auf der andern ‚Asia’. Aus dem Dunkel der Steppe ertönte das mir unbekannte Geschrei eines Tieres und das unheimliche, durchdringende Pfeifen einer Lokomotive.

          Wir waren etwa 10 Werst gegangen, als vor einem großen Tore Halt gemacht wurde. ein in Stein gehauener russischer Adler prangte über demselben und darüber wehte eine mir unbekannte Flagge. Wir gingen durch das Tor über einen unendlichen Hof, dann durch ein zweites Tor über einen kleineren, aber doch auch noch großen Hof in ein langes Gebäude, welches wir später als einen Speicher erkannten. Seit Jahren schien er nicht benutzt worden zu sein. Überall lagen halb verfaulte Lumpen, Felle, Tierklauen und Hörner herum, bedeckt mit einer fingerdicken Staubschicht. Hier auf diesem Mist mussten wir die erste Nacht schlafen. Mann an Mann, der Arbeiter neben dem Handelsherrn, der Mantel als Kopfkissen, verfaulte Felle als Matratze, so erwarteten wir frierend und erbittert den Morgen. Sobald es hell wurde orientierten wir uns zunächst über unseren neuen Aufenthaltsort.
          Zuletzt geändert von Helen; 24.04.2010, 08:47.

          Kommentar

          • gudrun
            Erfahrener Benutzer
            • 30.01.2006
            • 3277

            #6
            Hallo Helen,

            ja, ich habe noch Fotos, aber nur, weil ich in der Verwandtschaft rumgefahren bin und mir die Fotos geholt habe, die meine Oma kurz vor ihrem Tod, darunter ein Gemälde von meinen Urgroßeltern, in den Ofen geschoben hat. Leider bekam ich nicht mehr alle Fotos zusammen.
            Und was meine Oma sonst noch vernichtet hat, weiß ich nicht mal.
            In der Familie ist sehr viel vernichtet worden. Ich weiß nicht, was alles auf dem Hof meiner Urgroßeltern vorhanden war. Der Bruder meiner Großmutter hat kurz vor seiner Heirat alles in den Hof geschmissen und angezündet, das alte Gelumpe war sein Ausspruch.

            So kann es auch gehen.

            Viele Grüße
            Gudrun
            Zuletzt geändert von gudrun; 23.04.2010, 20:16.

            Kommentar

            • Fiehn
              Erfahrener Benutzer
              • 16.09.2008
              • 768

              #7
              Hallo Gudrun,

              das finde ich aber sehr schade. Da sind bestimmt sehr viele Schätze (zumindest für dich als Forscherin) dabei gewesen. Ich denke, du bist nicht die einzige, wo so etwas passiert ist.

              Da kann ich froh sein, dass wir rechtzeitig den Kontakt zum Vater meines Mannes aufgenommen haben. Jetzt erhalten wir Stück für Stück wertvolle Familienschätze: Urkunden, alte Briefe und Rechnungen sowie etliche Fotos. Auch alte Elektrogeräte (Transistorradio, Gegensprecher,...) mit vielen Erinnerungen waren dabei.

              Hallo Helen,

              der Bericht wird ja immer interessanter. Mal gespannt, welches Ende uns erwartet.

              Gruß Melanie
              Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
              Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

              FN meiner Forschung

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              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #8
                Unser Asyl war der Jahrhunderte alte berühmte Tauschhof, eine ehemalige türkische Festung. In ihr tauschten seit alters her die Bewohner der Steppen im südlichen asiatischen Russland bis Turkestan und Persien ihre Handelswaren, in der Hauptsache bestehend aus Fellen und Kamelhaaren gegen die Erzeugnisse Europas ein. Auch noch in anderer unheimlicher Beziehung war dieser Ort bekannt. Dort empfing Europa zwei furchtbare asiatische Gäste, die Pest und die Cholera und importiert sie weiter. Wir waren überzeugt, dass unsere Wanderung ihr Ende gefunden hatte, denn einen schlimmeren Aufenthaltsort hätte man wohl kaum finden können.

                Der Tauschhof umfasst ein Areal von etwas 300 Morgen. Er ist von zusammenhängenden Kammern wie mit einer Mauer umgeben. Diese dienen zur Aufnahme der Tauschwaren, aber zeitweilig auch als Pestbaracken. In diesem großen Hofe befindet sich ein kleinerer, welcher ebenfalls von zusammenhängenden Kammern umgrenzt ist. In der Mitte steht der Speicher. Im großen Hofe stehen eine Moschee, die mohammedanische Kirche und eine Bude, die sich stolz ‚Restaurant’ nennt. Viele hundert Ballen Kamelhaare lagerten dort. Überall lagen Kamelschwänze, Rinderhörner und Schafklauen und verpesteten die Luft. Ein uralter, überdachter Ziehbrunnen stand inmitten eines kleinen Sumpfes.

                Am frühen Morgen entwickelte sich ein reges Leben. Da der Raum im Speicher zu knapp war, baute man sich im kleinen Hof Zelte. Bald entstand eine richtige Zeltstadt von wunderlichem Aussehen. Wo die dazu nötigen Stangen, Stricke und Lappen hergeholt wurden, weiß ich nicht. Jeder Fetzen und jedes herumliegende Fell wurde zur Bedachung benutzt. Aber mancher, der nun glaubte, ein Eigenheim zu besitzen, musste stillschweigend dulden, dass ein Tartar oder Kirgise sich die ihm geklauten Materialien zum Zeltbau wieder holte. Alle mitgenommenen Decken, Tücher, ja sogar Unterhosen wurden als Dach benutzt und so entstand manches komische Bild.
                s. Photos unten

                Die Tage waren glühend heiß und die Nächte bitter kalt. im Speicher pfiff nachts der eisige Steppenwind durch die zerschlagenen Fenster. Wir vier Mann, Speß hatte sich abgesondert, hatten es vorgezogen, im Speicher zu bleiben, denn das Leben in einem Zelt schien uns doch etwas problematischer Natur.

                Nachmittags 3 Uhr erhielten wir endlich die erste Mahlzeit, eine Schüssel Suppe mit Fleisch für 10 Mann. Waschen konnten wir uns an diesem Tage nicht, da wir en inneren Hof nicht verlassen durften und der Brunnen im äußern Hof stand. Bei der drückenden Hitze entbehrten auch viele das Trinkwasser. Beständig kamen Abteilungen neuer Gefangener hinzu. Meist kamen sie direkt vom Bahnhof und unter ihnen waren Leute, die seit 48 Stunden nichts gegessen hatten. Der Offizier, dem dies gemeldet wurde meinte, dass man von 48-stündigem Fasten noch lange nicht sterbe. Als ein Mann denselben Offizier nicht gleich verstand, als er etwas fragte, schlug er ihm den Säbel über den Kopf, so das er blutend zusammenbrach. Die Reihe unserer Verluste begann ein Jude, der sich in einer Ecke des Hofes aufhing.

                Stündlich trafen neue Transporte aus Riga, Petersburg, Moskau und andern Orten ein: Ein Brauer, der aus Astrachan kam, erzählte mir folgendes: „Ich stand in der Brauerei, als mich die Polizei vom Sud weg holte. 10 Min. wurden mir zum Packen der Sachen gewährt. Dann wurde ich gefesselt und ins Gefängnis gebracht. Dort nahm man mir alles ab, Geld, Gepäck, selbst den Trauring. Während der nächsten Tage wurde ich von Ort zu Ort bis hierher geschleppt. Vor drei Tagen habe ich das letzte Mal gegessen.“ Ähnliches erzählten Leute, die in Baku verhaftet worden waren. Auch sie mussten in Fesseln reisen und dazwischen verschiedene Gefängnisse aufsuchen. Im Vergleich zu diesen Leuten war es mir ja bisher glänzend gegangen.

                Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:57.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #9
                  Am Abend fand man einen Österreicher im Klosett erhängt vor. Der nächste Tag war wieder ein Festtag. Die erste Mahlzeit erhielten wird abends 7 Uhr, natürlich war es auch die letzte. Nachmittags erhielten wir die Erlaubnis, uns im ‚Restaurant’ etwas zu kaufen. Wer kein Geld hatte, und das waren viele, der musste hungern. Gar mancher Großkaufmann aus Moskau oder Petersburg, dem die Polizei alles abgenommen hatte, befand sich unter diesen. Meinen drei Kollegen und mir wir es bisher noch verhältnismäßig gut ergangen, da uns die Polizei mit Ausnahme der Waffen, nichts abgenommen hatte. Da fortwährend Nachschübe ankamen, waren wir bereits auf über 5000 Mann angewachsen. Dass die Verpflegung einer so großen Zahl unangemeldeter Gäste der Lagerverwaltung fast unüberwindliche Schwierigkeiten verursachte, denen sie keinesfalls gewachsen war, ist verständlich. Wir mussten ihr, wenn auch gezwungen, darüber hinweg helfen, indem wir hungerten und immer wieder hungerten.

                  Die Verpflegung wurde erst geregelter, als wir die Organisation in eigene Hände nahmen. Auf Befehl des Lagerkommandanten wurden wir in Bataillone zu je 5 Korporalmannschaften eingeteilt. Von den Zugführern an aufwärts waren fast alle Führer gefangene Reserveoffiziere. Täglich war zweimal Appell, morgens um 7 und abends um 6 Uhr. Das Signal dazu gaben zwei Hornisten. Wer den Vorgesetzten nicht gehorchte, flog in den Kasten, dessen Stelle eine Pestbaracke versah. Strenge Disziplin wurde eingeführt, was auch durchaus nötig war, andernfalls ein heilloses Durcheinander entstanden wäre. Es wurde eine Feuer- und eine Nachtwache geschaffen, welche die Korporalschaften abwechselnd stellten. Auch eine ‚Kriegskasse’ wurde gegründet, die zur Unterstützung mittelloser Gefangener dienen sollte. Bereits am Tage der Gründung wies sie einen Betrag von 98 Rubel auf. Leider war ihr Bestand nicht von langer Dauer. Als ein russ. Offizier von ihrer Existenz erfuhr, konfiszierte er sie einfach.

                  Der nächste Freitag war ein mohammedanischer Festtag. Schon bei Sonnenaufgang erschienen zahlreiche Gläubige teils beritten, teils auf kleinen Wägelchen um Allah in der Moschee zu preisen. es waren dies die in der umliegenden Steppe lebenden Kirgisen und die in der Stadt Orenburg als Kaufleute ansässigen Tartaren. Unter ihnen konnte man schöne Gestalten mit schneeweißem Turban und bunten Gewändern beobachten Die Gesichter gelb bis fast schwarz, mit spärlichem Bartwuchs, meist finsterem Blick und gemessenem Wesen. Weiber waren nicht zu sehen. Diese dürfen die Moschee nicht betreten. Da sie nach mohammedanischem Glauben keine Seele haben, haben sie auch in der Kirche nichts zu suchen. Damals war mir dies noch alles neu und interessant und ich ahnte nicht, dass ich mit diesen Steppensöhnen noch recht gut bekannt werden würde, ja als einer von ihnen verkleidet monatelang mit ihnen durch die Steppe und Wüste wandern würde.

                  An einem Nachmittage brachte ein Kirgise auf seinem mit einem Kamel bespannten Wagen ein Zelt in den Hof. Unglaublich schnell stellten dies zwei Weiber auf, während der Mann keine Hand rührte. Seine Spekulation war richtig. Kaum war das Zelt fertig, da war es auch schon vermietet. Zehn Mann, soviel hatten etwa Platz, zahlten ihm pro Monat 30 Rbl. Das Geld musste sofort erlegt werden. Bald wurden noch mehr Zelte gebracht, denn dies unerwartete Geschäft hatte sich schnell unter den Kirgisen herum gesprochen. Am Abend standen bereits 15 Stk da. Der Preis war aber schon auf über 60 Rbl. gestiegen, für die Besitzer eine unerhörte und unerwartete Einnahme.

                  Die Zelte sind rund und bestehen aus einem leichten Holzgerüst, das oben und ringsherum mit sehr dicken Kamelhaardecken umkleidet wird. Die Tür bildet ein reich bestickter Vorhang, das Innere ist mit bunten Bändern dekoriert, genannt ‚Aula’. Da wir die Brauchbarkeit dieser Zelte erst durch andere erproben lassen wollten, blieben wir noch im ‚Schloss’, so hatten wir den Speicher getauft. Später hörten wir, dass es in den Zelten nachts recht kalt sein sollte. Wir blieben deshalb im Schloss, denn frieren konnten wir auch, ohne Miete zahlen zu müssen.

                  Nun wurden auch die Pestbaracken zum Beziehen frei gegeben. Jeder derselben war nummeriert. Jede Seite fing mit Nr. 1 an. Die beiden Längsseiten zählten je 265, die beiden anderen je 199 Kammern. Die den kleinen Hof umgebenden Kammern waren ebenfalls nummeriert, doch waren ihrer nur 230. Um die einzelnen Nrn. unterscheiden zu können, gaben wir jeder Seite einen Namen. So entstanden die ‚Kamelstraße’, eine ‚Str. der Obdachlosen’, eine ‚Wilhelmstr’ und eine ‚Hungergasse’. Die Nordseite wies die besten Kammern auf und durften nur von Tschechen bezogen werden. Ihren Namen ‚Wilhelmstr.’ änderten wir deshalb in ‚Verräterviertel’ um.

                  Die Tschechen wurden bei jeder Gelegenheit bevorzugt. So erhielten sie das Essen zuerst und als uns die in der Umgegend wohnenden deutschen Kolonisten einige Fuhren Stroh schickten, erhielten nicht wir sie sondern die Tschechen. Sie durften auch Briefe schreiben, was uns verboten war. Als sich einer unserer Führer über die beständige Zurücksetzung beklagte wurde ihm gesagt: „Für unsere Rassegenossen müssen wir sorgen, aber von euch noch die Hälfte nach Hause kommt, so ist das immer noch genug.“

                  Eines Nachts passierte eine spaßige Geschichte. Infolge eines Irrtums waren zwei Nachtwachen bestellt worden. Bei ihrem Rundgang stießen sie aufeinander und jede gebot der anderen sofort ihre Schlafstelle aufzusuchen. Es entstand ein Streit und da keine Partei nachgeben wollte, fielen sie in ihrem Pflichteifer übereinander her. Auf das Geschrei der Kämpfenden eilte ein in der Nähe schlafender Ringkämpfer herbei und verprügelte sie ohne eine Unterschied in der Partei zu machen Als noch andere hinzu geeilt waren, wurde die eine Wache festgenommen und in den Kasten gesteckt. Als sich am andern Morgen die Sache aufklärte, hatten die armen Opfer auch noch den Spott zu tragen.

                  Jeden Abend wurde vor dem ‚Schloss’ ein Konzert gegeben. Meist wurden Volkslieder gesungen und aus mehreren tausend Kehlen brausten die heimatlichen weisen zum sternklaren Himmel empor. Wir hatten mehrere bedeutende Künstler unter uns und wenn einer der Opernsänger unter Begleitung eines der vielen anwesenden Musikern eine Arie aus irgend einer Oper anstimmte, so hatte er wohl die dankbarsten Zuhörer. Auch die russischen Offiziere fanden sich als Zuhörer ein. Eines Abends kamen sogar einige höhere Offiziere aus Orenburg, die von unseren Veranstaltungen gehört hatten. Da sie sich vorher angemeldet hatten, wurde ein regelrechtes Programm aufgestellt. Zuerst sangen wir gemeinsam verschiedene Volkslieder, dann trat ein Komiker auf, der seinen Vortrag in deutscher und russ. Sprache hielt und dieser wurde von Ringkämpfern abgelöst. Als nächste Nr. sollte ein Schauspieler aus Moskau eine Arie aus ‚Zar und Zimmermann’ singen. Aber sei es nun, dass er durch den Anblick der vielen feindlichen Offiziere gereizt wurde oder er eine Demonstration beabsichtigte, statt des erwarteten ‚Einst spielt’ ich mit Zepter’ sang er die ‚Die Wacht vom Rhein’. Zunächst waren wir erschrocken, doch da fielen einzelne Stimmen ein und bald erklang das Lied aus vielen tausend Kehlen angestimmt donnernd über die Steppe hinaus. Die Offiziere gingen sofort weg und als einige Tschechen die russ. Hymne, das ‚Bosche zarjachrani’ anstimmten, wurden sie jämmerlich verprügelt. Wir wussten, dass wir eine große Dummheit gemacht hatten, aber keiner bereute sie. Ab sofort wurde uns jeder Gesang verboten und der Schauspieler eingesperrt. Ich habe von ihm nichts mehr gehört.

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #10
                    Am 11. Aug. erkrankten von uns 16 Mann an Lungenentzündung. Sie wurden nach Orenburg ins Lazarett gebracht. Das war der Anfang der infolge mangelnder Ernährung und des ungenügenden Schutzes vor dem ungewohnt krassen Temperaturwechsel eintretenden, sich tägl. mehrenden Erkrankungen. Es wurden auch schon Ruhr-Erkrankungen gemeldet. Während des Abendappells fielen zwei Mann vor Entkräftung um. In der Nacht vom 13. zum 14. Aug. starben 3 Mann und 26 mussten schwer krank abtransportiert werden. Über 100 Mann meldeten sich beim Kommandanten krank und mussten ärztlich versorgt werden. Fast alle Erkrankten waren Leute, die infolge Geld- und Platzmangels unter freiem Himmel schlafen mussten.

                    So kalt die Nächte waren, so heiß waren die Tage. Jeder zog so wenig wie möglich an und die Sonnenbäder kamen wieder zu Ehren. Diese wurden in der Gegend der ‚Hungergasse’ genommen, da es dort am wenigsten belebt war. Meist waren es die Artisten und Ringkämpfer die diesem Sport huldigten. Zu meinem Erstaunen sah ich unter diesen Nackedeis einen mir bekannten Ing., der tags zuvor mir gegenüber seine Abneigung gegen diesen Sport geäußert hatte. Auf meine Frage, ob er seit gestern seine Meinung geändert habe, sagte er: “Das nun gerade nicht, aber sehen Sie, ich habe nur ein Hemd, und das habe ich heute gewaschen. Ich warte nur, bis es trocken ist.“ Als einer diese Nacktmenschen sich eine eben angekommene Karawane ansehen wollte, schien ein Kamel über eine solche Schamlosigkeit dermaßen empört zu sein, dass es ihn zum Gaudium der Umstehenden mit einem grünen stinkenden Saft von oben bis unten bespuckte. Diese Art der Verteidigung und des Missfallens der Kamele hatte ich später noch oft Gelegenheit, kennen zu lernen.

                    Auch der Baptistenprediger war mit den Sonnenbrüdern unzufrieden und wetterte wider sie, freilich ohne Erfolg. Die Sache war ja nun auch harmlos und wurde später, als verschiedene nachgereiste Frauen der Gefangenen diese besuchten, von selbst eingestellt. Übrigens entfaltete der Baptist eine rege Missionstätigkeit, er hatte schon mehrere Personen getauft. Diese Zeremonie nahm er in einer großen Wassertonne am Ziehbrunnen vor. Als er aber seinen heiligen Werbeeifer auch auf die mit im ‚Schloss’ liegenden Matrosen der ‚Regina’ ausdehnen wollte, zeigten sie für seine edle Absicht kein Verständnis, sie packten ihn am Kragen und warfen ihn vor die Tür. Von dieser Zeit an wirkte er nur noch im Verborgenen.

                    Der Hof hatte bereits das Aussehen eines großen Kirgisenlagers. Zelt an Zelt war aufgebaut und immer noch mehr wurden aufgestellt. Dazwischen schaukelten Kamele herum, wurden auch oft zu Ritten gemietet, 1 Rbl. die Std. Diese Ritte aber wirkten auf die Zuschauer insofern unangenehm, als sie fürchterliche Lachkrämpfe auslösten, denn etwas Blödsinnig-Hilfloseres kann man sich nicht vorstellen als so einen unglücklichen Reiter zwischen den Höckern eines trabenden Kamels. Besser ging es schon auf dem Rücken eines der kleinen Steppenpferd und wenn der eigentümliche Sattel auch Schwierigkeiten machte, so bleiben sie doch im Gegensatz zu dem Kamelreitern von der Seekrankheit verschont.


                    Viele kauften sich von den Kirgisen oder Tartaren bunte Mäntel und Mützen, eine Art Fez, und manche Frau schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie ihren Mann in dieser Maskierung, das Gesicht mit einem Wald von Stoppeln besetzt, wiedersah. Die Frauen hatten sich in Orenburg einquartiert und besuchten ihre Männer täglich. Auch viele Bräute waren nachgereist und es gab manch frohes Wiedersehen. Eines abends während dem Appell kamen zwei Damen mit einem Herrn angefahren. Der Herr sprach mit unserem Offizier einige Worte worauf dieser zwei gefangene aufrief und sie zu den Damen schickte. Alle 5 gingen nun in eine Baracke, der fremde Herr zog einen Talar aus der Tasche und zog ihn an. Nachdem noch zwei Zeugen hinzu gezogen worden waren, traute der evangel. Pfarrer, denn um einen solchen handelte es sich, die zwei Paare. Damit waren sie Mann und Frau, denn in Russland genügt die kirchliche Trauung. Die beiden Männer in Tartarenmantel und Fez und wucherndem Stoppelfeld im Gesicht sahen nicht gerade bräutigamsmäßig aus. Die Hochzeitsnacht musste allerdings später nachgeholt werden.

                    Eines Tages kam ein neuer Schub Gefangener an. Unter ihnen fand Förster Speß seinen Bruder, der in Petersburg festgenommen worden war. Die Freude beider war groß. Aber auch 6 deutsche Soldaten waren dabei, die von uns mit vielleicht unangebrachtem Jubel begrüßt wurden. Es waren ein Küraßier-Wachtmeister, drei Meldereiter und zwei Angehörige des 39. Inf. Reg. Wie Wundertiere wurden sie von unseren Wächtern angestaunt. Zwischen ihnen und den russ. Soldaten war auch ein gewaltiger Unterschied. Diese mit zerrissenen Hosen, wochenlang nicht geputzten Stiefeln, und z. T. mit Zivilmützen, jene dagegen in neuer blanker Uniform, der Wachtmeister sogar frisch rasiert. Mit seinem Helm und Küraß imponierte er nicht wenig. Die russ. Soldaten boten ihnen Papyros und Brot an, was sie jedoch zurück wiesen. Die ihnen von uns angebotene Zigarre sowie auch Geld nahmen sie mit Dank an. An diese Episode musste ich denken, als ich später in einer russ. Zeitung las: „Die gefangenen Österreicher sind gutmütig, hilflos wie Kinder, denen man helfen möchte und die für alles dankbar sind. Anders die Preußen. Wie eine Herde Stiere schauen sie drein, weisen ihnen abgebotene Wohltaten zurück oder nehmen sie als etwas selbstverständliches entgegen. Ihr Stolz, mit dem sie sich über uns erhaben dünken, und mit dem sie die Unbilden der Gefangenschaft verächtlich lächelnd hinnehmen, ist die Bemäntelung des Buwusstseins der kommenden Niederlage.“


                    Die 6 Mann wurden in einer Baracke untergebracht und vor diese zwei Posten gestellt. Sie durften dieselbe nicht verlassen und niemanden sprechen, wahrscheinlich sollten wir nichts vom Kriegsschauplatz erfahren. Viele der gefangenen Polen und Tschechen hatten die russ. Staatsangehörigkeit beantragt und auch erhalten. In der Zahl von 300 Mann zogen sie eines Tages mit einem ‚Hoch’ auf Russland zum Tor hinaus, in den Krieg gegen ihr altes Vaterland. Auch wir wurden von einem Offizier gefragt, ob unter uns welche seien, die russ. Untertanen werden wollen, aber keiner meldete sich. Die 6 Soldaten blieben nur zwei Tage bei uns, dann wurden sie weiter geschafft, wahrscheinlich, um in andern Städten gezeigt zu werden, denn dieser Artikel war damals noch recht rar. Österreicher gab es schon in Hülle und Fülle und das Fangen derselben schien nicht allzu schwer zu sein. Meldeten doch die Extrablätter, dass allein bei Lemberg 200 000 Mann gefangen wurden und eine ganze Armee vernichtet worden sei. „Der Weg nach Wien ist offen,“ schrieben sie. Diese Nachricht, wenn auch offenbar übertrieben, drückte uns doch etwas nieder, doch zeigten uns die nächsten Wochen, dass die K.u.K.-Armee doch nicht so viele Überläufer barg als es anfangs schien.

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                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #11
                      Am Tage des Abtransportes der 6 Soldaten kam eine Abteilung Orenburger Kadetten, um sich dieselben anzusehen. Sie kamen aber zu spät, sie waren schon fort, so dass sie mit uns vorlieb nehmen mussten.

                      Am 12. August wurde uns die Erlaubnis erteilt, Briefe zu schreiben. Nur während der Reise hatten wir kurze Nachrichten nach Hause schicken können, so dass unsere Angehörigen nicht wussten, wo wir uns jetzt befanden. Auch ich schickte meine Adresse telegrafisch an meine Frau, in der Hoffnung, nun endlich etwas über ihr Ergehen zu erfahren. Alle Entbehrungen und Misshelligkeiten waren ja klein und verschwindend gegen die quälende Ungewissheit über das Schicksal meiner Frau, deren Ende unter diesen furchtbaren Umständen sicher noch beschleunigt wurde. Doch meine Geduld sollte noch hart auf die Probe gestellt werden. Nachdem wir nun schreiben durften, wurde ein Postbüro eingerichtet, das von einem deutschen und einem Polen bedient wurde. Dort wurden Karten, Briefe und Telegramme angenommen, Auskünfte erteilt und denen , die nicht russisch schreiben konnten, die Adressen geschrieben. Das Postamt war eine ganz gute Einrichtung, aber nur soweit es von uns Gefangenen bedient wurde. Durch Gleichgültigkeit oder mit Absicht wurde aber diese Einrichtung durch den leitenden Offizier illusorisch gemacht. Als ich 3 Tage nach meiner Aufgabe des Telegramms nachfragte, ob schon eine Antwort eingetroffen sei, sah ich dasselbe noch friedlich zwischen all den Briefen und Karten auf dem Tisch liegen. Der Offizier hatte noch nicht erlaubt, die Sachen zur Post zu bringen.

                      Im Allgemeine herrschte ein großes Wirrwarr. Was der Lagerkommandant uns erlaubte, wurde von den Offizieren verboten und was diese erlaubten, verhinderten die Soldaten und umgekehrt. Unsere eigenen Offiziere hatten keine leichte Aufgabe und unser ‚Oberst’ war um seinen hohen Rang nicht zu beneiden. Sich durch all die erlassenen, sich oft widersprechenden Anordnungen hindurch zu schlängeln, erfordert eine diplomatische, den Umständen angemessene oft verschlagene Geschicklichkeit. Oftmals tat der Rubel seine landesüblichen Dienste, manchmal genügte auch ein energisches Auftreten. Wie es überall Unzufriedene und Querulanten gibt, so waren auch unter uns Leute, welche mit nichtigen Beschwerden und Quengeleien unseren Führern ihr Amt sauer machten. Ein Krieg ist nun mal keine Kirmesfeier.

                      Das Organisationstalent unseres ‚Oberst’ fand auch beim Lagerkommandanten Anerkennung, was sich dadurch äußerte, dass dieser, als wir frei gelassen wurden, im Tauschhof bleiben musste, um auch fernerhin zwischen den nach uns dort untergebrachten gefangenen Soldaten und den Wachmannschaften die helfende und vermittelnde Hand zu spielen. Er hätte gern auf diese Auszeichnung verzichtet.

                      Das Aussehen des Tauschhofes wurde von Tag zu Tag origineller und das Aussehen der Bewohner immer tatarischer. Nicht nur, dass sich trotz der hohen Preise die Zelte immer noch vermehrten, es tauchten auch täglich neue wunderliche Kostüme auf. Die tatarischen Händler hatten bald unsere Vorliebe für alles Fremde erkannt und brachten alle möglichen Kleidungsstücke angeschleppt. Besonders mannigfaltig waren die Kopfbedeckungen. Da wandelte die Bärenmütze des Kosaken friedlich neben dem arg mitgenommenen Panama, der Turban neben dem Halbzylinder, der Fez neben dem Kirgisenkäppi und der Haube des Fellachen. Da sah man den Haik des Steppenbewohners und den Schafpelz des Kleinrussen, den Sweater mit der Aufschrift ‚Regina’, das nationale russ. Hemd und den verschnürten Rock des Polen. es schien eine Versammlung aus aller Herren Länder zu sein. Es gab Traurige, Erbitterte, Verzweifelte, die glaubten, das Leben nicht mehr ertragen zu können, nachdem sie all ihr Hab und Gut verloren hatten. es gab aber auch solche, die nichts erschüttern konnte, die durch närrisches Benehmen und unverständliches Tun, geistesabwesend durch dieses Tohuwabohu hindurch taumelten. Ich habe in meinem Leben so manchen Narren gesehen, drei dieser Originale will ich nun schildern und den Tauschhof vorläufig verlassen.
                      ----
                      Ich wüsste gern, ob die Fortsetzungen noch interessant sind. Ich möchte nicht langweilen.
                      Helen

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                      • gudrun
                        Erfahrener Benutzer
                        • 30.01.2006
                        • 3277

                        #12
                        Hallo Helene,

                        ich warte immer sehnsüchtig auf die Fortsetzung. Dein Großvater hat so plastisch seine Erlebnisse erzählt, das ist unglaublich.
                        Also bitte weitermachen.

                        Viele Grüße
                        Gudrun

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                        • Fiehn
                          Erfahrener Benutzer
                          • 16.09.2008
                          • 768

                          #13
                          Und die Fotos machen die Berichte noch lebendiger. Bin schon so gefesselt, dass ich mit Spannung die Fortsetzung erwarte.
                          Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                          Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                          FN meiner Forschung

                          Meine Orte

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #14
                            Liebe Gudrun, liebe Fien, danke für die Rückmeldung, dann kopiere ich den nächsten Teil, damit ihr nicht so lange warten müsst.
                            Helen
                            ---
                            Der merkwürdigste Mensch, der mir begegnete, war der Viehhüter Streich auf dem Gut Winterfeld. Streich war Wolgadeutscher, ein verkommener Mensch, ein Säufer, der zu keiner Arbeit zu gebrauchen war und nur als Viehhirte geduldet wurde. Mehrmals wollte ich ihn entlassen, aber die andern Arbeiter baten mich immer, ihn doch zu behalten, als Viehhirt sei der doch recht gut zu gebrauchen. Ich wusste ja nicht, dass sie ihn nicht verlieren wollten, stand er doch bei ihnen im Rufe eines Hexenmeisters, der ihnen bei Erkrankungen von Mensch und Vieh beistand, der die Schwindsucht, die Rose besprechen und das Blut stillen konnte, der das Wetter beeinflussen und vergrabene Schätze aufspüren konnte. Seine nie versiegende Wodkaquelle war der Lohn für seine angewandeten Fähigkeiten. Er besaß das 6. und 7. Buch Mosis, aus dem er die Kraft und die Kenntnisse seines geheimnisvollen Wirkens schöpfte, an das sie fest glaubten.

                            Hätte ich nur nicht ihrer Fürsprache geachtet, und ihn zum Teufel gejagt, sein elendes Ende wäre ihm erspart geblieben und mir langjährige Vorwürfe.

                            Eines Tages ritt ich über die Felder, auf der angrenzenden Weide stand Streich inmitten seiner Herde. Sein sonderbares Benehmen fiel mir auf und veranlasste mich ihm zu nähern. Die Mütze fortwährend über seinem Kopfe schwenkend, die Augen starr zu Himmel gerichtet, die langen Haare vom starken Wind zerzaust, rief er mir zu: „Sehen Sie, dort zieht’s!“ Ich blickte ebenfalls zum Himmel, wo dunkle Wolken die Sonne verdeckten. „Was denn - was zieht dort?“ „Dort, das Gewitter – ich habe es über die Düna gejagt.“ „Idiot“ sagte ich und ritt weiter. Er hatte mir eine Probe seiner Kunst als Wettermacher gezeigt. Eines Tages wurde ich vom Viehpfleger in den Stall gerufen. Eine Kuh hatte sich an jungem Klee überfressen und war aufgelaufen. es bestand die Gefahr, dass der Magen infolge der angesammelten Gase platzte. Der Viehpfleger sagte mir, er hätte Streich bereits zu Rate gezogen, aber sein Mittel sei dieses Mal nicht angeschlagen. Auf meine Frage, was Streich gemacht habe, sagte er, Streich aber die Kuh beim Rückenfell gepackt und kräftig daran gerüttelt, dann habe er ein Stück der Zunge abgeschnitten. Mit der Androhung sofortiger Entlassung verbot ich ihm, Streich jemals wieder bei Erkrankungen des Viehs hinzuzuziehen. Streich würde ich den Lohn für seine Hilfe sofort auszahlen. Dann holte ich einen Trokar und befreite die Kuh von ihren Schmerzen. Streich erhielt drauf für seine Tierquälerei eine Tracht Prügel, die er still ergeben hinnahm.

                            Einmal passierte folgendes: Beim Austreiben der Kühe aus dem Stall hatte eines der Tiere ein anderes mit dem Horn am Hinterteil verletzt. Die Wunde blutete stark und ich ordnete an, die Kuh im Stall zurück zu halten. Mit allen mir bekannten Mitteln versuchte ich das Blut zu stillen, aber es gelang mir nicht. Ein Tierarzt war nicht zu erreichen, denn das Land war groß und der Tierarzt wohnte weit. Der Viehpfleger schlug mir vor, Streich zu holen, denn der könne das Blut besprechen. Diese Zumutung verbot ich ihm streng. Resigniert gab ich meine Bemühungen auf, stieg aufs Pferd und ritt fort, mit dem Unvermögen hadernd. Als ich zurück kam, war mein erster Gang in den Stall. Das Blut floss weiter, die Kuh war schon ganz entkräftet. „Holen wir Streich, der kann bestimmt helfen“ sagte der Viehpfleger. Um ihm das Gegenteil zu beweisen, stimmte ich ihm widerwillig zu. Streich kam, ängstlich eine großen Bogen um mich machend. Die Reitpeitsche in der Hand, beobachtete ich ihn genau. Streich besah sich die Wunde, murmelte etwas vor sich hin, blies in Kreuzform über dieselbe und – die Blutung hörte sofort auf. Darauf verließ er eilig den Stall, sich ängstlich nach mir umblickend. Verdutzt blickte ich ihm nach und meine Gesichtszüge mögen in diesem Augenblick nicht sehr geistreich gewesen sein. Ich betrachtete die Wunde und erwartete, ja hoffte fast, das Blut möge wieder fließen, ich wartete vergebens, das Blut war gestillt. Streich hatte das Wunder vollbracht, Streich konnte tatsächlich Blut stillen, ohne Hilfsmittel, mit einem Zauberspruch, er war also doch ein Hexenmeister.

                            Da fiel mir ein, ich hatte schon mal Ähnliches erlebt. Aber damals war ich noch jung, hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, hatte es als Zufall betrachtet.. Als junger Assistent mit der Zahlung der Löhnung beschäftigt, bemerkte eine junge Polin, das meine rechte Hand mit Warzen bedeckt war. „Panje, ich dir weg machen werde“ sagte sie. Sie nahm meine Hand in die ihre und betrachtete sie aufmerksam. Ich ließ sie gewähren, ohne etwas auf ihr Gerede zu geben. Nach 4 Wochen waren die Warzen verschwunden. Nur an der Handkante blieb eine übrig, die sie wohl nicht gesehen hatte. Diese habe ich heute noch. Wie das Mädchen das gemacht hat, weiß ich nicht. Wie gesagt, ich hielt das Verschwinden der Warzen für einen Zufall.

                            Jetzt betrachtete ich mein damaliges Erlebnis mit andern Augen. „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt.“ hat einmal jemand gesagt. Streich hatte mich von der Richtigkeit dieser Worte überzeugt. Hatte ich ihm bisher Unrecht getan? Bald aber geschah wieder etwas, das mich gegen ihn aufbrachte. Ich hatte einen Auftrag für den Schmied und suchte ihn in seiner Werkstatt auf. Als ich die Tür öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Die Erde des ganzen Raumes war aufgewühlt und in der Mitte gähnte ein tiefes Loch. In diesem stand schweißtriefend der Schmied, der mich mit bösen Augen ansah. „Was zum Teufel, machen Sie da, Sie bringen ja das Haus zum Einsturz“ rief ich ihm zu. Er antwortete nicht, sah mich nur tückisch an. Der Schmied war ein bärenstarker Kerl, jähzornig und streitsüchtig, ihm gegenüber war eine gewisse Vorsicht am Platze. Ich redete ihm in alle Ruhe zu, er möge mir doch erklären, was dies eigentlich zu bedeuten habe. Plötzlich sprudele es wütend aus seinem Munde: „Der Hund hat mich belogen, nichts – keine Kopeke ist zu finden!“ „Streich?“ fragte ich ahnungsvoll. „Ja, Streich, dieser Säufer, dieser Schuft, belogen hat er mich mit dem Schatz, der hier vergraben sein soll. Aber das werde ich ihm heimzahlen, ich schlage ihn halbtot!“ Mit vieler Mühe beruhigte ich den empörten Mann und versprach, wenn er die zerwühlte Schmiede wieder in Ordnung bringe, solle ihm weiter nichts geschehen. Darauf suchte ich Streich auf und warnte ihn, er solle sich in den nächsten Tagen nicht vom Schmied erwischen lassen und drohte ihm mit sofortigem Rauswurf, wenn er sein Hexerei nicht lasse.

                            Ein halbes Jahr lang war alles ruhig. Aber dann geschah etwas, das Streich und den Schmied vernichten sollte. und mir noch lange in Erinnerung bleiben sollte. Die Veranlassung gab der abergläubische Lehrer des Gutes, den ich leider viel zu spät fortjagte. Dieser Mann hatte auf dem Hofe die Mär verbreitet, er habe auf einem neben dem Wege liegenden großen Stein nachts einen großen Hund mit glühenden Augen sitzen gesehen, dem aus dem Maule Feuer gesprüht sei. Das war eine Nachricht, die Streich nicht unbeachtet lassen konnte. Er suchte in seinem klugen Buch nach der Deutung des feuerspeienden Hundes, und er fand sie. Wenn ein Hund mit feurigem Maule auf einem großen Stein sitzt und der Stein ist von drei hohen Bäumen umgeben, so ist unter dem Stein ein Schatz verborgen, der vom Teufel behütet wird, der die Gestalt eines großen Hundes angenommen hat.

                            So stand es in seinem Buch Mosis. Ein schicksalhafter Zufall wollte es, dass um den Stein herum tatsächlich 3 hohe Bäume standen. In dem Buch stand ferner, dass der Schatz nur in einer Vollmondnacht, während der Geisterstunden gehoben werden kann und dass dabei kein Wort gesprochen werden darf. Streich suchte sich nun für sein Unternehmen zwei Gehilfen. Es gelang ihm, den habgierigen Schmied und einen Tagelöhner zu dem Unternehmen zu überreden. Der Schmied aber wollte sich den Rücken decken und setzte mich von dem beabsichtigten Vorhaben in Kenntnis. Ich beschloss, sie nicht davon abzuhalten, ihnen aber unter Ausnutzung ihrer abergläubischen Dummheit durch einen heilsamen Schreck, ihnen den Geschmack an der Schatzgräberei zu versalzen. Die folgenden Ereignisse zeigten mir aber, dass ich im Begriff war, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Ich hatte Streich falsch eingeschätzt.

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                            • hexa
                              Erfahrener Benutzer
                              • 25.03.2007
                              • 130

                              #15
                              Ohhh.... jetzt wirds wohl richtig spannend......Helen, dein Großvater war wirklich begabt

                              Kommentar

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