Leben in St. Petersburg zur Zarenzeit

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #16
    Als wir erfuhren, daß wir Ende Mai abfahren konnten, bereiteten meine Eltern alles für die Ausreise vor. Mein Vater begab sich, wie vorgeschrieben, zum Verpflegungsamt, um dort seine Lebensmittelkarten abzugeben und erhielt stattdessen einen Berechtigungsschein zum Bezug einer bestimmten Lebensmittelmenge, die bis zum Abreisetag ausreichen mußte. Vier Zimmer unserer Sechszimmer-Wohnung vermieteten meine Eltern zum 1. Juni an einen russischen Geschäftsfreund meines Vaters, einen gewissen Herrn Oljchin, die zwei restlichen Zimmer behielten wir einstweilen, um dort unser ganzes Hab und Gut aufzustapeln. Wir dachten damals immer noch, daß sich die politischen Verhältnisse in Rußland ändern und die Rückkehr ermöglichen würden. Darin hatten wir uns allerdings gründlich geirrt.

    Unsere wertvollsten Sachen, z.B. Tafelsilber, Kristall, Pelze, packten wir in eine Truhe und übergaben sie zur Aufbewahrung an den, meinem Vater sehr ergebenen Bürodiener Philop Kononow, der im Büro der Papierfabrikfiliale mit Frau und Sohn eine Einzimmer-Wohnung mit Küche bewohnte. Der treue Mann hat sie gewissenhaft aufbewahrt, und wir haben alles unversehrt nach fünf Jahren (1923) wiederbekommen als sich später durch das lettische Konsulat eine Gelegenheit zur Übersendung ergab.

    Und dann hatten wir großes Pech: Zwei Tage vor dem vorgesehenen Abreisetermin erhielten wir vom deutschen Konsulat die Mitteilung, daß wegen unvorhergesehener diplomatischer Schwierigkeiten der Abreisetermin auf unbestimmte Zeit verschoben werden müßte, wodurch wir in große Schwierigkeiten gerieten, besonders weil unsere Lebensmittelvorräte zu Ende gingen.

    In die gleiche Klemme geriet auch die uns befreundete und in unserer Nähe wohnende Familie Erlemann, die den selben Abreisetermin hatte. Herr Erlemann war Physiklehrer an unserer St. Petrischule. Erlemanns hatten drei Söhne. Die beiden älteren, Wolfgang und Gerhard waren zwei Jahre bzw. ein Jahr älter als ich, hatten ein Jahr vor mir Abitur gemacht und studierten nun beide an der Petersburger Universität, der eine Medizin, der andere Schiffsbau. Den jüngsten Sohn, den 15jährigen Schüler Vicky, hatten die Eltern schon früher mit Verwandten vorausgeschickt. Er war wohlbehalten angekommen und lebgte bereits im Hause von Frau Erlemanns Bruder, der Apotheker in Werro in Estland war.

    Mein Vater und Herr Erlemann gingen jeden Tag abwechselnd zum Deutschen Konsulat, um sich nach einem möglichen Abreisetermin zu erkundigen. aber immer vergebens. Ein Ende der Schwierigkeiten war nicht abzusehen, und so bleib uns nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen, auf eigene Faust bis zum russischen Grenzbahnhof Toroschino zu reisen und dort den Versuch zu machen, auf irgend eine Weise über die Grenze zu gelangen.

    Zunächst galt es, die Schwierigkeit der Fahrkartenbeschaffung zu lösen. Da damals so viele Menschen bestrebt waren, das kommunistische Rußland zu verlassen, bildeten sich vor den Bahnhofsschaltern lange Warteschlangen und man mußte in der Regel tagelang anstehen, um bis zum Schalter vorzudringen. Da erwies sich der uns sehr wohlgesinnte Portier unseres Hauses als Freund und Helfer. Durch die Vermittlung seines Schwagers, der als Schalterbeamter am Baltischen Bahnhof beschäftigt war, beschaffte er uns, natürlich gegen ein beträchtliches Aufgeld, acht Fahrkarten zweiter Klasse von Petrograd zum Grenzbahnhof Toroschino, und so verließen wir Petrograd. am Morgen des 7. Juni 1918 und bestiegen am Baltischen Bahnhof den fahrplanmäßigen Zug nach Toroschino.

    Bis dahin verlief die Reise glatt und reibungslos. Da wir acht Personen waren, hatten wir, zusammen mit Erlemanns, ein Abteil ganz für uns allein, betrachteten durch das Coupéfenster die vorbeifliegende Landschaft, verzehrten unseren mitgenommenen Reiseproviant, lasen und unterhielten uns und konnten uns einbilden, ganz normale Reisende zu sein.

    Gegen Abend langten wir in Toroschino an, uns als wir den Zug dort verließen, bot sich uns ein ganz unerwarteter Anblick, der die Illusion von einer normalen Reise wie eine Seifenblase zerplatzen ließ: In den Bahnhof konnte man gar nicht hinein, da er völlig von Flüchtlingen und ihrem Gepäck verstopft war. Und auf dem Gelände rings um das Stationsgebäude war ein ausgedehntes Flüchtlingslager aus Zelten und flüchtig zusammen genagelten Bretterbuden entstanden, in denen ganze Familien zu hausen schienen. Wir stellten unser Gepäck zunächst unter freiem Himmel an einem Zaun entlang auf, und wir Frauen setzten uns auf die Gepäckstücke, um sie zu überwachen, während die Männer versuchten, bis zum Schalter vorzudringen, um sich zu erkundigen, wie es nuun weitergehen könnte.

    Nach einiger Zeit kehrten sie mit einer guten und einer schlechten Nachricht zurück. Die gute war, daß man in dem 1 km entfernten Dorf Toroschino auf dem freien Markt jede Menge Brot, Butter und Wurst kaufen konnte, und daß auf dem Bahnhof rund um die Uhr abgekochtes heißes Wasser, russich "Kipjatok" genannt, ausgeschenkt wurde.

    Die schlimme Nachricht lautete dahin, daß wir zunächst die Nacht unter freiem Himmel verbringen müßten, da es hier keinerlei Unterkunft gäbe und daß am nächsten Morgen gegen 10 Uhr ein russischer Kommissar kommen würde, um unsere Ausreisedokumente zu überprüfen. Von seiner Entscheidung würde es abhängen, ob wir in Toroschino bleiben und auf eine Gelegenheit zum Grenzübertritt warten dürften oder nach Petrograd zurückreisen mußten. Das war allerdings eine niederschmetternde Nachricht, aber wir mußten uns damit abfinden.

    Zunächst begaben sich die Männer ins Dorf Toroschino, um auf dem freien Markt einzukaufen und kehrten bald darauf mit wunderbar duftendem Roggenbrot, Butter und Wurst zurück. Wir holten auf dem Bahnhof abgekochtes Wasser - zum Glück hatten Erlemanns eine Teekanne aus Blech mit - Tee hatten wir in unserem Reisegepäck dabei und so brühten wir uns Tee auf, schnitten dicke Scheiben von dem ausgezeichnet schmeckenden Roggenbrot ab, die wir mit Butter bestrichen, mit Wurst belegten und genossen es, uns nach langer Zeit einmal wieder richtig satt zu essen.

    Dann wickelten wir uns in Decken und versuchten, auf den Gepäckstücken sitzend, den Rücken an den Zaun gelehnt, zu schlafen. Aber davon konnte nicht die Rede sein. Auf dem Bahnhof herrschte ein Höllenlärm. Auf den Schienen rangierten Züge und pfiffen Lolomotiven und im Flüchtlingslager ging es nicht viel leiser zu. In den Notunterkünften wurde bei Kerzen- und Laternenschein gegessen und getrunken, gestritten, gelacht und gesungen und dazu Balaleika oder Akkordeon gespielt. Erst lange nach Mitternacht kehrte Ruhe ein, aber da hielt uns die Kälte wach.

    Ich hatte bis dahin gar nicht gewußt, daß eine Juninacht so kalt sein kann, besondes kurz vor Sonnenaufgang. Wir mußten immer wieder aufstehen, hin- und hergehen und uns Bewegung verschaffen, um uns einigermaßen warm zu halten. Erst als die Sonne aufgegangen war und die Luft erwärmt hatte, fühlten wir uns wieder wohler.

    Nachdem wir uns in der Bahnhofstoilette notdürftig gewaschen und etwas frisch gemacht hatten, folgte ein herzhaftes Frühstück mit Tee und Butterbroten und danach das nervenaufreibende Warten auf den russischen Kommissar.

    Um Punkt 10 Uhr erschien, ein junger Mann mit Lederjoppe und roter Kokarde an der Mütze, gefolgt von zwei Rotarmisten mit umgehängtem Gewehr. Zufällig wandte er sich an Herrn Erlemann und verlangte dessen Personalpapiere zu sehen. Er überprüfte sie sorgfältig, sah dann Herrn Erlemann an, grinste breit und und sagte zu unserem Erstaunen in perfektem Deutsch: "Soso, Sie sind also der Physiklehrer Erlemann aus der St. Petrischule? - Erinnern Sie sich an Ihren ehemaligen Schüler Dombrowsky? Und erinnern Sie sich auch daran, dass Sie mich einmal beinahe durch s Abitur haben rasseln lassen?" - "Dombrowsky? - Natürlich erinnere ich mich", sagte Erlemamm lachend. "Sie waren doch der notorische Faulpelz, der immer wieder neue Ausflüche erfand, um zu erklären, warum er gerade heute seine Hausaufgaben nicht präpariert hatte. Kein Wunder, dass Sie beim Abitur beinahe durchgefallen sind."

    Und nun vertieften sich die beiden Herren in alte Erinnerungen bis der Kommissar schließlich sagte: "Eigentlich könnte ich mich jetzt revanchieren und Sie nach Petrograd zurückschicken, aber ich will ja nicht so sein. Von mir aus können Sie hierbleiben. Aber weiterhelfen kann ich Ihnen nicht. Die einzige Verbindung mit der deutschen Besatzungsmacht in Pleskau ist ein kleiner Sonderzug, der täglich um 12 Uhr aus Pleskau herüberkommt und nur aus einer Lokomotive und einem Frachtwagen besteht, der von einigen deutschen Soldaten unter Führung eines Leutnants besetzt ist. Nur der Leutnant steigt hier aus, um einige Dokumente auszutauschen, dann führt der Zug wieder zurück. Der Leutnant spricht mit niemandem und hat auch noch nie jemanden mitgenommen. Nun liegt der Fall bei Ihnen anders, Sie sind Volksdeutsche und können mit ihm Deutsch sprechen. Ich kann ihnen nur den Rat geben, es zu versuchen. Ich wünsche Ihnen viel Glück."

    Dann sah er noch flüchtig unsere Personalpapiere durch, stempelte sie ab, unterschrieb sie und verabschiedete sich.

    Als er entschwunden war, sagte mein Vater: "Herr Erlemann, Sie haben uns bei dem russischen Kommissar so gut geholfen, nun lassen Sie mich mein Glück bei dem deutschen Leutnant probieren. Ich werde versuchen, mit ihm zu sprechen."

    Um Punkt 12 Uhr kam der angekündigte Sonderzug an, der Leutnant stieg aus, und mein Vater ging auf ihn zu, dann bleib er plötzlich wie vom Donner gerührt stehen und rief verwundert aus: "Herr Dettmann, sind Sie es wirklich?" Der Leutnant antwortete: "Herr Lehmann, wie kommen Sie nach Toroschino?"

    Leutnant Dettmann war der Schwiegersohn eines Direktors der AG Rigaer Papierfabriken, eines gewissen Herrn Goercke, der oft in Begleitung seines Schwiegersohns in Geschäften in Petersburg war. Dabei waren die beiden Herren auch häufig bei uns zu Besuch gewesen. Herr Dettmann hatte sogar ein paar Mal bei uns logiert. - Mein Vater erklärte ihm nun unsere Lage und schloss mit den Worten: "Und nun sitzen wir hier in Toroschino und wissen nicht, ob wir Aussicht haben, über die Grenze zu kommen."

    "Aber selbstverständlich", antwortete Herr Dettmann, "es ist doch klar, dass ich Sie mitnehme! Ich habe hier auf dem Bahnhof noch etwas zu erledigen, laden Sie ihr Gepäck inzwischen schon in den Frachtwagen, steigen Sie ein und warten Sie auf mich, ich komme bald wieder und dann fahren wir los."

    Als der Kommissar Dombrowsky sah, dass die Unterredung mit dem deutschen Leutnant positiv verlaufen war, winkte er seinen beiden Rotarmisten, die uns beim Tragen und Verladen des Gepäcks behilflich waren und uns auch beim Einsteigen in den Frachtwagen halfen, was mit einigen Schwierigkeiten verbunden war. Aber die deutschen Soldaten zogen von oben und die Rotarmisten schoben von unten nach, und so gelangten wir schließlich glücklich hinauf, zum fassungslosen Staunen der auf dem Bahnsteig im Flüchtlingslager Zurückbliebenden.

    Und wenn jemand behauptet, es gäbe heutzutage keine Wunder mehr, so irrt er sich: Wir hatten bei unserer Ausreise zwei echte Wunder hintereinander erlebt! Und es gibt heutzutage auch noch Engel, man muss sie nur erkennen - auch wenn sie möglicherweise in Gestalt eines kommunistischen Kommissars in Lederjoppe oder der feldgrauen Uniform eines deutschen Leutnants in Erscheinung treten. Nachdem der Leutnant zurückgekehrt war, setzte sich der Zug in Bewegung, um über die Grenze nach Pleskau zu fahren. Wir atmeten erstmal erleichtert auf: Wir hatten es geschafft! Froh und dankbar, dem kommunistischen Russland entkommen zu sein, fuhren wir der vertrauten Baltischen Heimat und - wie wir hofften - einer besseren Zukunft entgegen.

    Ich habe meine Geburtsstadt Petersburg am 7. Juni 1918 als 19jährige verlassen, um sie erst 1979, im Alter von 80 Jahren als westdeutsche Touristin wiederzusehen. - Damit endet das Petersburger Kapitel meiner Lebenserinnerungen.
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    Das waren die Erzählungen von zwei Zeitzeugen jener Zeit. Der eine erlebte Russland als deutscher Gefangener, während zu gleicher Zeit Frau Hoppe als Deutsche mit ihrer Familie in Petersburg lebte.

    VG Helen

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