Leben in St. Petersburg zur Zarenzeit

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    Leben in St. Petersburg zur Zarenzeit

    von Lilly Hoppe, geb. 1898 in St. Petersburg.

    St. Petersburg, seit Peter dem Großen Hauptstadt des russischen Kaiserreiches, Sitz der Regierung und Residenz der Kaiserlichen Familie, mit seinem großartig in Granit gefassten Newakai, seinen zahlreichen Wasserwegen und Brücken, die ihm den Beinamen "Venedig des Nordens" eingebracht haben, seinen weiten Plätzen und breiten Straßen und seinen imposanten Kathedralen und Palästen, ist noch heute eine faszinierende Stadt und war zu seiner Glanzzeit eine der schönsten Haupstädte Europas. Da es auch noch eine blühende Handeslmetropole und ein wichtiges Industriezentrum war, war es kein Wunder, dass es viele Menschen aus dem In- und Ausland anzog, die hier Brot und Arbeit und ein berufliches Fortkommen suchten und auch fanden. So traf man auf den Straßen der Stadt neben der russischen Bevölkerung Vertreter aller europäischer Staaten, aber auch Kaukasier, Armenier, Sibiraken, Tataren und Chinesen.

    Die größte fremdländische Volksgruppe, die in Petersburg lebte, war aber ohne jeden Zweifel die deutsche. Anfang des 20 Jahrhunderts hatte St. Petersburg über 2 Mio. Einwohner, davon 75000 Deutsche.

    Da gab es zunächst die Reichsdeutschen, Untertanen des damaligen Deutschen Kaiserreiches. Sie hielten sich abseits, hatten ihre eigenen Vereine, ihre eigenen Feiertage, verkehrten fast nur untereinander und hielten Kontakt mit der russischen Bevölkerung nur soviel, wie unbedingt nötig war. Dann gab es noch eine größere Österreichische und eine kleine Schweizer Kolonie, aber die große Masse der Petersburger Deutschen kam aus dem Baltikum, und das aus guten Gründen.

    Nachdem Peter der Große Anfang des 18. Jahrhunderts den Nordischen Krieg gegen Schweden siegreich beendet hatte, gehörten die Baltischen Provinzen zum Russischen Kaiserreich und waren, wie alle russischen Gebiete, in Gouvernements eingeteilt, Livland mit der Hauptstadt Riga, Estland mit der Hauptstadt Reval und Kurland mit der Hauptstadt Mitau. Damals waren die Familien kinderreich, 8 - 10 Kinder waren keine Seltenheit und die enge baltische Heimat konnte nicht allen eine aussichtsreiche Zukunft bieten, und so wurde Russland für die Balten das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie für die Westeuropäer Amerika. Schon die großen Landgüter im Baltikum, die den baltischen Adeligen gehörten, waren meist Majorate, d. h. der älteste Sohn erbte das Gut und die jüngeren Söhne traten zum größten Teil in russische Dienste, entweder als Offiziere bei der russischen Armee oder als Beamte in der Verwaltung, in den MInisterien oder am russischen Hof. Manche von ihnen stiegen bis in die höchsten Ränge auf. Aber auch viele baltische Akademiker, Kaufleute und Handwerker gingen nach Russland, weil sich ihnen dort viel bessere Aufstiegschancen boten. Viele von ihnen besetzten leitende Posten, andere gründeten eigene Unternehmen.

    In Russland wurden die Deutschen damals mit offenen Armen aufgenommen. Der Russe spöttelte zwar gerne über den "akkuratnyi njemez", den akuraten, pingelig genauen Deutschen, andererseits schätze er dessen Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit, Organisationstalent und Know-how. Es gab damals in Russland ein Sprichwort: "Njemez chitryi, on dashe obesjanu wydumal!" Zu Deutsch: "Der Deutsche ist schlau, er hat sogar den Affen erfunden." was beweist, dass er dem Deutschen praktisch alles zutraute.

    Im Allgemeinen war das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen vor dem Ersten Weltkrieg ein ausgezeichnetes, da die beiden Nationen sich geradezu ideal ergänzten. Der Deutsche war gern bereit, Verantwortung zu übernehmen und gute und tüchtige Arbeit zu leisten, wenn er dafür anständig bezahlt wurde, während so mancher Russe froh war, wenn er die Verantwortung und die tägliche Plackerei einem zuverlässigen Mitarbeiter übertragen konnte und war gern bereit, ihn dafür großzügig zu bezahlen.
  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #2
    Auch mein Vater kam Ende des vorigen Jahrhunderts aus dem Baltikum nach Petersburg, weil sich ihm eine günstige Gelegenheit zum beruflichen Aufstieg bot. Er war in einer kinderreichen Familei in Kurland aufgewachsen, meine Großeltern hatten vier Söhne und vier Töchter. Mein Großvater ermöglichte zwar allen vier Söhnen den Besuch eines Gymnasiums mit Abiturabschluss, aber dann war auch Schluss. Ein Studium kam nicht in Frage. Damals gab es kein Bafög, die Kosten für ein Studium mussten ganz und gar von den Eltern getragen werden und das überstieg die finanziellen Möglichkeiten meines Großvaters. Mein Vater hätte zwar liebend gern studiert, aber da das nicht möglich war, ging er nach Riga und wurde Kaufmann. Er stand fast sein ganzes Leben lang in den Diensten der Aktiengesellschaft Rigaer Papierfabriken, einer großen Papierfabrik, die das russische Hinterland mit feinem Schreibpapier, Kunstdruckpapier, dem Zigarettenpapier für die russischen "Papyrossy" und in späteren Jahren auch dem Papier für die russischen Geldscheine belieferte. Letzteres war natürlich ein besonders wichtiges und einträgliches Geschäft.

    In Petersburg wurde eine neue Filiale mit großem Lager gegründet und mein Vater zum Direktor dieser Filiale ernannt aufgrund seiner vielseitigen kaufmännischen Ausbildung, der gründlichen Kenntnis der Papierfabrikation, die er sich inzwischen erworben hatte, seines Verhandlungssgeschicks und der perfekten Beherrschung der russischen Sprache in Wort und Schrift, was für den Verkehr mit den russischen Finanzbehörde besonders wichtig war. So kam es, dass mein Vater schon bald nach seiner Verheiratung mit meiner Mutter im Jahre 1897 mit seiner jungen Frau nach St. Petersburg zog.

    Die Umstellung war nicht einfach, besonders für meine Mutter, die die russische Sprache nur unvollständig beherrschtre und sich in der fremden großen Stadt oft einsam fühlte. Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten fingen meine Eltern doch allmählich an, sich in Petersburg einzuleben. Sie schlossen sich der ältesten und größten der vier in St. Petersburg existierenden deutschen evangelischen Gemeinden, der St. Petrigemeinde, an. Sie war von Peter dem Großen für die vielen Ausländer evangelsichen Glaubens gegründet worden, die er für den Bau seiner neuen Hauptstadt ins Land gerufen hatte: Architekten, Ingenieure, Handwerker aller Art. Er schenkte der Gemeinde ein großes Grundstück in bester Lage am Newski Prospekt gegenüber der Kasaner Kathedrale und ließ dort die St. Petri-Kirche mit ihren charakteristischen zwei viereckigen Türmen erbauen. Errichtet wurde sie 1833 - 1838 von Alexander Brüllo, der der in Petersburg ansässigen hugenottisch- deutschen Künstlerdynastie dieses Namens angehörte. In dieser Kirche bin ich getauft und konfirmiert worden. Mit der Zeit fanden meine Eltern gute Freunde und Bekannte, fast durchweg Deutsche aus dem Baltikum, mit denen sie einen regen Verkehr unterhielten, lebten sehr gesellig und fingen an, sich in Petersburg recht wohl zu fühlen.

    Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich an das viel rauhere Klima an ihrem neunen Wohnort gewöhnt hatten. Durch die Nähe des Meeres gab es oft heftige Winde und Stürme und die Winter waren kalt und hart mit viel Eis und Schnee. Der erste Schnee fiel meist schon im Oktober und blieb auch gleich liegen, und das Tauweter setzte erst im April ein. Besonders bedrückend war die Dunkelheit. Man darf nicht vergessen, dass Petersburg auf dem gleichen Breitengrad liegt wie Südgrönland. In jenen Breitengraden gibt es im Sommer die Zeit der "Weißen Nächte", wo es nachts kaum dunkel wird, dafür wird es im Winter wochenlang tagsüber kaum hell. Wenn wir morgens zur Schule gingen, war es draußen stockfinster und in den Klassenzimmern brannten die elektrischen Lampen bis gegen Mittag, dann konnten sie für kurze Zeit abgeschaltet werden, und wenn wir um 2 oder 3 Uhr nachmittags heimkamen, brannte über dem Esstisch schon wieder die Hängelampe.

    Gegen die Dunkelheit war kein Kraut gewachsen, die musste eben ertragen werden; gegen die Kälte wusste man sich in Petersburg sehr wohl zu schützen, schon durch die warme Winterkleidung. Reiche Leute trugen kostbare Pelze und dazu passende Kopfbedeckungen. Wer sich keinen Pelz leisten konnte, besaß zumindest einen wattierten Mantel mit Pelzkragen und eine Pelzkappe oder eine Pelzmütze und selbstverständlich warme gefütterte Winterstiefel. Damen und kleine Mädchen trugen Muffs, um die Hände warm zu halten. Aber auch der Mann aus dem Volke besaß einen Schafspelz oder eine warm gefütterte Joppe und eine Fellmütze und seine Beine steckten in sogenannten "Walenki", hohen Filzstiefeln, die bis ans Knie gingen, und die Frauen trugen lange wattierte Mäntel und banden sich dicke Wolltücher um den Kopf. In den Häusen hatte man Doppeltüren und Doppelfenster, deren Ritzen im Herbst noch dazu verkittet wurden, so dass in jedem Zimmer nur ein kleines Klappfenster zum Lüften übrig blieb. Und die Kachelöfen wurden tüchtig eingeheizt, und zwar mit Holz, das ja im Überfluss vorhanden und daher billig war.
    Ff

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    • saille
      Erfahrener Benutzer
      • 27.11.2009
      • 436

      #3
      Bin gespannt auf mehr liebe Helen. Sind das deine Ahnen?

      LG
      Petra
      Suche in Posen,Ost-und Westpreußen, Pommern:
      FN Joseph, Moser, Oschitzki, Hirsch, Salomon, Löwenthal, Silbermann, Zuehlsdorf, Voegler(Fegler,Vögler)

      Berlin:
      FN Wedemeyer, Köckeritz(Köckritz)Schießke, Spicker, Wenke(Wencke)

      Für den Rest der Welt:
      FN RICHTHERRund FN LANOCH

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      • Fiehn
        Erfahrener Benutzer
        • 16.09.2008
        • 800

        #4
        Fängt ja schon sehr gut an. Ich bin gespannt auf mehr. Endlich wieder was Interessantes zum lesen.

        Gruß Melanie
        Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
        Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

        FN meiner Forschung

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #5
          Liebe Petra, liebe Fiehn, na, da setze ich doch gleich den nächsten Teil rein. Nein, die Dame habe ich vor mehreren Jahren im WDR in "Erlebte Geschichte" gehört und da sie in unserer Nähe wohnte, haben wir uns ausgetauscht. Ich habe auch ihre Tochter kennen gelernt. Sie hat einen großen Schatz - sie hat langjährig ihre umfangreiche Familiengeschichte festgehalten, da können sich ihre Nachkommen freuen!
          Durch ihre Erzählung kann ich mich gut in die damaligen Verhältnisse in Petersburg hinein versetzen.

          Helen

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #6
            Ja, sogar das Pflaster der Haupt- und Prachtstraße Petersburg, des 4,5 km langen Newski Prospekts war aus Holz. Es bestand aus sechseckigen Holzplatten, die wabenförmig aneinandergefügt, ein glattes, ebenens Holzparkett ergaben, über das der Verkehr hinwegrollte. Nur die Straßenmitte, wo die Schienen für die Straßenbahn verlegt waren, war mit Steinen gepflastert. Diese Straße war anfangs eine Pferdestraßenbahn, die von zwei Pferden gezogen und "Konka" genannt wurde, abgeleiet von dem russischen Wort "Konj" das Ross. Ich erinnere mich noch gut daran, als Kind mit solch einer "Konka" gefahren zu sein. Auf der vorderen Plattform stand der uniformierte Straßenbahnbeamte, der die Zügel in den Händen hielt und die Pferde lenkte, während er mit dem Fuß eine in den Boden eingelassene Bimmelglocke bediente, als Warnsignal für die Fußgänger, die den Newski überqueren wollten. Diese Pferdestraßenbahn wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine elektrische ersetzt, die man nach dem engl. Wort "Tramway" - "Tramwai" nannte.

            Es gab in Petersburg noch ein zweites, sehr beliebtes und viel benutztes Verkehrsmittel, die Mietdroschken, die je nach Jahreszeit, Wagen oder Schlitten, an jeder Ecke auf Kunden warteten und einen für erstaunlich wenig Geld an jedes gewünschte Ziel der Hauptstadt brachten. Für diese Mietdroschken gab es einen offiziellen Tarif, der auch in jeder Mietdroschke angebracht war, aber kein Mensch kümmerte sich darum. Es war allgemein üblich, dass der Fahrpreis jedes Mal zwischen dem Kunden und dem Droschkenkutscher ausgehandelt wurde. Man nannte sein Ziel und den Betrag, den man zahlen wollte, also sagen wir 15 Kopeken, der Droschkenkutscher verlangte prompt das Doppelte, also 30 Kopeken. Man ging ruhig weiter, der Droschkenkutscher fuhr nebenher und ermäßigte den Fahrpreis auf 25 Kopeken. Man gab seinerseits 5 Kopeken zu, einigte sich auf 20 Kopeken, stieg ein und fuhr los.

            Reiche Leute, und derer gab es in Petersburg viele, besaßen natürlich eigene Equipagen, und wenn dann diese eleganten Ein- oder Zweispänner mit den stolzen Trabern davor auf ihren gummibereiften Räden fas lautlos über das Newskiparkett dahinrollten oder im Winter die genauso eleganten Schlitten darüberglitten, was das schon ein schöner Anblick.

            Das Pech war nur, dass der schöne Holzbelag unter dem vielen Schnee im Winter und dem Schmelzwasser und Regen im Frühjahr schwer zu leiden hatte. Dazu kam noch der Umstand, daß St. Petersburg auf Sumpfland gebaut ist und die ständig in das Holz eindringende Feuchtigkeit von oben und von unten hatte zur Folge, dass das ganze wunderbare Holzparkett zum Frühjahr hin hoffnungslos verfaulte und total erneuert werden musste. Das geschah regelmäßig im Sommer. In Russland dauerten die Ferien volle 3 Monate, vom 20. Mai bis zum 20. August - das ist übrigens auch heute noch so -, dann verließ jeder, der nur irgend konnte, die Stadt wegen des ungesunden Klimas; und während nun die Herrschaften entweder auf ihren Gütern im Innern des Landes weilten oder im Ausland im Kaukasus, auf der Halbinsel Krim oder an den Stränden des Schwarzen Meeres oder der Ostsee Erholung suchten oder die Minderbemittelten ein Sommerhaus, eine "Datscha", in einem der vielen Villenorte in der Umgebung Petersburgs mieteten und dort den Sommer verbrachten, war ein Heer von Straßenarbeitern damit beschäftigt, die verfaulten Holzplatten herauszureißen und durch Neue zu ersetzen. Wenn dann im Herbst alles wieder in die Stadt zurückströmte, war das Holzparkett des Newski Prospekts so glatt und schön wie eh und je. Eine solche Verschwendung von Material und menschlichen Arbeitskräften war auch nur in Russland möglich, wo beides im Überluss vorhanden und daher spottbillig war.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #7
              Kulturell hatte St. Petersburg außergewöhnlich viel zu bieten. Es gab eine Universität, eine Kunstakademie, ein berühmtes Konservatorium und die noch berühmtere Kaiserliche Ballettschule, aus der weltbekannte Primaballerinen wie die Pawlowa, die Karssawina und die Kscheskinskaja hervorgingen. Es gab großartige Museen, von denen die im Winterpalast untergebrachte Eremitage mit ihren sagenhaften Kunstschätzen wohl die bekannteste ist. In der Eremitage gibt es mehr Rembrandtgemälde als in ganz Holland, es gibt dort einen Leonardo-da-Vinci-Saal, einen Paul-Rubens-Saal, einen Raffael-Saal usw. Man hat einmal ausgerechnet, dass ein Mensch, der rein theoretisch Tag und Nacht ununterbrochen durch die Räume der Eremitage wandern und jeden, der dort ausgestellten Kunstgegenstände nur 1 Minute lang betrachtet, 11 Monate brauchen würde, um sich alles anzuschauen.

              Es gab noch zwei Kunstmuseen, das Alexandermuseum, in dem ausschließlich Werke russischer Künstler ausgestellt waren, es gab u. a. ein Zoologisches Museum, das auch etwas einmaliges zu bieten hatte, nämlich ein vollständig erhaltenes Mammut, das man im sibierischen Eis entdeckt und ausgegraben hatte. Sogar das dicke rostbraune Fell war zum großen Teil noch erhalten, und als man es entdeckte und ausgrub, soll das Fleisch noch so frisch gewesen sein, dass man die Schlittenhunde der Expedition nur mit großer Mühe davon abhalten konnte, sich darauf zu stürzen, um davon zu fressen.

              Es gab in Petersburg wunderbare Konzerte einheimischer und ausländischer Orchester und Solisten, und es gab mehrere ständige Theater, allen voran die beiden Kaiserlichen, das Marien- und das Alexandertheater. Das Marientheater bot Opern- und Ballettaufführungen in höchster Vollendung, es war das Lieblingstheater des Hofes und der oberen Zehntausend, hier versammelte sich alles, was Rang und Namen hatte. Schon der äußere Rahmen war beeindruckend. Es war ein prunkvoller Theaterraum ganz in dunkelblauem Samt und Gold gehalten. Von der Decke hingen riesige Kronleuchter und ergossen ihr Licht über die erlesenen Gesellschaft, die sich da versammelte: Zivilisten im Frack, Offiziere und Diplomaten in glänzenden Galauniformen, mit Schärpen und Orden geschmückt, die Damen in eleganten Damenroben, von glitzernden Juwelen übersät, die kostbare Pelzstola lässig um die Schulter gelegt, den dazu passenden Riesenmuff im Schoß und die damals so beliebte und moderne weiße Reiherfeder im hochfrisierten Haar.

              Es war das Lieblingstheater der oberen Zehntausend und entsprechend waren die Eintrittspreise. Dazu kam noch die Unsitte, dass eine große Zahl von Eintrittskarten von Zwischenhändlern aufgekauft und mit beträchtlichem Aufpreis uner der Hand weiterverkauft wurden, was die Preise noch höher trieb. So kam es, dass wir das Marientheater nur selten besuchten. Zum Glück war mein Vater ein leidenschaftlicher Theaterfreund und spendierte doch ab und zu eine Loge, um sich und seiner Familie diesen hohen Kunstgenuss zu verschaffen. So haben wir schon als Kinder mehrere wunderbare Ballettaufführungen gesehen, wie den "Schwanensee" und den "Nussknacker" von Tschaikowsky oder die "Coppelia" von Delibes. Später als wir herangewachsen waren, nahm er uns auch zu Opernaufführungen mit. Insbesondere ist mir eine unvergessliche Aufführung der Oper "Boris Godunow" von Mussorgsky mit dem berühmten Bassisten Schaljapin in Erinnerung geblieben, wahrscheinlich darum, weil ich dabei die Gelegenheit hatte, von unserer Loge aus die Kaiserliche Familie betrachten zu können, denn sie waren in der Kaiserlichen Loge anwesend: Nikolaus der Zweite, der letzte Zar aus der Romanowdynastie, seine Gemahlin Alexandra Fjodorowna, geborene Prinzessin Alice von Hessen und die beiden älteten Töchter, die Großfürstinnen Olga und Tatjana. Am Schluss der Vorstellung sangen alle Anwesenden stehend die russische Nationalhymne: "Boshe, Zarja chrani!" - "Gott schütze den Kaiser!" Wer hätte damals ahnen können, dass diese Familie einst so einne tragischen Tod finden würde?

              Viel öfter besuchten wir das zweite KaiserlicheTheater, das Alexandertheater, in dem ausschließlich Dramen und Komödien russischer Autoren aufgeführt wurden. Auch hier traten hervorragende Schauspieler auf und Bühnenausstattung und Kostüme standen denjenigen des Marientheaters keineswegs nach, auch hier gab es einen prunkvollen Theaterraum, in rotem Samt und Gold gehalten, aber es war nicht das Lieblingstheater der Oberschicht. Es gab auch keine Zwischenhändler und daher waren die Preise normal. Hier haben wir viele der klassischen russischen Dramen und Komödien gesehen, die wir schon vorher im Russischunterricht in der Schule mit verteilten Rollen gelesen und, wie es im Schülerjargon so schöne heißt, "durchgenommen" haben. Zum Glück für Leute mit nicht so prall gefülltem Portemonnaie und vor allem für Schüler und Studenten gab es in Petersburg noch ein zweites Operntheater, die "Musykalnaja Drama" - das musikalische Drama, das in keinem Prachtbau, sondern in einem großen Konzertsaal mit Empore untergebracht war und dessen Inneneinrichtung auch viel bescheidener war, dafür aber waren die Preise erschwinglich.

              Und wenn die Bühnenausstattung und die Kostüme auch nicht so aufwändig waren wie im Marientheater, so wurde das alles wettgemacht durch die wunderbaren Stimmen und das Engagement der jungen Sänger und Sängerinnen, die nach Absolvierung des Konservatoriums hier auftraten und ihre ersten Lorbeeren verdienten und das meist jugendliche Publikum zu brausenden Beifallsstürmen hinrissen.

              Hier war ich oft, da unsere Clique, ein Kreis meiner Mitschülerinnen und Studenten, eine Art Theaterclub gegründet hatten, als ich Abiturientin war. Wir pflegten ein- bis zweimal im Monat in die "Musykalnaja Drama" zu gehen, besetzten dort eine ganze Reihe im Parkett und genossen die schönen Aufführungen. Und diese Opernabende und die romantischen Heimfahrten im Schlitten über die verschneiten Straßen entweder bei Schneetreiben oder unter klarem Himmel bei Mondschein und Sternenlicht gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.

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              • Tantchen
                Erfahrener Benutzer
                • 14.05.2009
                • 618

                #8
                Liebe Helen,

                ich habe mir Deinen Bericht über die St. Petersburger Zarenzeit gleich abgespeichert, denn mein Großvater war einer von diesen 75.000 Deutschen, die dort lebten. Er wurde dort 1884 geboren.

                Seine Eltern wiederum stammen aus Memel, der damals nördlichsten Stadt Ostpreussens. Er selber ging mit 19 Jahren zurück "heim ins Reich", aber eigentlich nur, um sich Deutschland einmal anzuschauen, dann wollte er nach Amerika auswandern. Tja, da er aber einen deutschen Pass hatte, mußte er erst einmal seinen Wehrdienst in Deutschland ableisten. In dieser Zeit hat er dann meine Großmutter hier in Hamburg kennengelernt und na ja...der Rest ist Geschichte......Er blieb also und gründete eine Familie.

                Sein Leben lang konnte er sehr gut russisch sprechen, denn in der Schule wurde russisch unterrichtet (die ausschließlich deutsch sprechenden Schulen war damals schon nicht mehr erlaubt). Zu Hause sprachen sie natürlich deutsch und somit konnte er beide Sprachen ohne Akzent sprechen.
                Auch bin ich im Besitz von 16 Briefen, die er und sein noch in St. Petersburg zurückgebliebener Vater gewechselt hatten und somit im Besitz von so manchen Eindrücken, wie das tägliche Leben in St. Petersburg damals von statten ging.

                In Erinnerung sind mir so manche Sachen, die Großvater erzählt hatte, wie das Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Newa und die Öfen, die überall aufgestellt waren, um sich die Finger zu wärmen....Na ja...ich war Kind und hörte nur mit halbem Ohr zu.....Somit sind mir wohl viele Geschichten entgangen....


                Lieben Gruß
                Tantchen
                Zuletzt geändert von Tantchen; 28.11.2010, 19:52.

                Suche KUBRAT - Raum Pillkallen/ Ostpreussen

                Suche KÖHNKE, Greifenhagen - Pommern, insbesondere die Eltern von August Ferdinand Köhnke, geb. 1826 in Greifenhagen.
                Suche GOTZMANN, Greifenhagen - Pommern


                „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Pillkallen ist es umgekehrt.“

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #9
                  Hallo Tantchen, das ist interessant, was du aus deiner großväterlichen Seite erzählst. Die Briefe sind sicher interessant und könnten manches ergänzen. Jetzt erzählt L.H. von der Kehrseite der Medaille.

                  Helen

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #10
                    Wie Sie wohl aus allem bis jetzt Erzählten schon entnommen haben, ließ es sich in St. Petersburg zur Zarenzeit recht angenehm leben, wenn man das nötige Kleingeld hatte. Aber diese glänzende Seite der Medaille hatte eine sehr hässliche dunkle Kehrseite und das war die große Armut und die absolute Rechtlosigkeit der unteren Gesellschaftsschichten. Die Löhne waren extrem niederig und es gab weder eine Kranken- noch eine Rentenversicherung, keine Kündigungsfristen, keinen Anspruch auf Urlaub und keine Schulpflicht für Kinder, so dass die große Masse der Bevölkerung aus Analphabeten bestand. Wenn ein Arbeiter mit Frau und Kindern ernstlich erkrankte, bedeutete das für seien Familie eine Katastrophe: die Frau musste zusehen, wie sie sich und die Kinder durchbrachte und dabei noch, so gut sie es konnte, den kranken Mann gesund pflegen. Geld für einen Arzt hatte sie nicht. Wenn die Krankheit lange andauerte, geriet so manche Familie völlig schuldlos in tiefste Not, und es wurde in Petersburg viel gebettelt und viel getrunken. Es gab keine Kneipen, wie hierzulande, die staatlichen Monopolläden verkauften den Schnaps in Viertelliterflaschen, und es war noch gut, wenn die Kunden ihre Wodkaflaschen mit nach Hause nahmen und dort austranken, aber viele pflegten die Flasche Schnaps gleich auf der Straße in einem Zug leer zu trinken. Dann torkelten sie sinnlos betrunken auf den Straßen herum, bis sie endlich irgendwo liegen blieben und einschliefen. Wenn sie Glück hatten, wurden sie irgendwann von der Polizei entdeckt und zur Ausnüchterung auf die Wache mitgenommen, andernfalls drohte ihnen bei der scharfen Kälte im Winter der Erfrierungstod.

                    Das waren natürlich Extremfälle, aber auch im Alltag begegnete man überall den krassen sozialen Gegensätzen und de absoluten Gleichgültigkeit der Obrigkeit und Reichen und Besitzenden gegenüber dem Schicksal und den Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsklassen. Ich brauche da nur an die Verhältnisse in dem Haus denken, in dem ich geboren bin und in dem wir bis zu unserer Ausreise aus Petersburg im Juni 1918 zur Miete gelebt haben. Es gehörte zu den Häusern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die aufstrebende gut verdienende Mittelschicht, die sog. "Intelligenzija" gebaut wurden. Es stand am Ufer der Fontanka, eines breiten Kanals, der zur Newa floss und von mehreren Brücken überquert wurde. Auch unser Haus stand an einer solchen Brücke, die damalige Tschernischow- und heutigen Lomonossowbrücke mit ihren vier Steintürmen, die durch herabhängende Eisenketten miteinander verbunden werden.

                    Es war ein fünfstöckiges Haus mit abgerundeter Ecke, das mit der Forderfront zur Fontanka, mit der Seitenfront zur Tschernischow- heute Lomonossowstr. hinausging und im Viereck um einen großen holzgepflasterten Hof herum gebaut war, in dessen Mitte sich ein Garten mit Bäumen, Büschen und Bänken und einem Springbrunnen in der MItte befand, in dem die Kinder der Mieter unter Aufsicht ihrer Kindermädchen oder Bonnen spielen konnten. Der überdachte Haupt- oder Paradeeingang, wie man in Petersburg sagte, lag an der Fontanka und wurde von einem uniformierten Portier bewacht, der dafür zu sorgen hatte, dass keine unerwünschten Besucher wie Händler, Lieferanten oder gar Bettler in das Haus eindrangen.

                    Wir hatten ein sehr schönes Treppenaus mit Steinmosaikfußboden, schmiedeeisenem Treppengeländer, riesigen 2 Stockwerke hohen Fenstern, auf deren Simsen grüne Blattpflanzen standen und Wänden, die mit Stuckornamenten geschmückt und mit hellen Pastellfaben angemalt waren. Die Treppenstufen der beiden ersten Stockwerke waren mit einem roten Läufer ausgelegt. Für die Ordnung und Sauberkeit dieses pompösen Treppenhauses, sowie das geradezu lebensgefährliche Putzen der Riesenfenster waren der Portier und seine Frau zuständig, wie auch für die Bedienung des Aufzuges. Dieser Aufzug wurde nicht elektrisch, sondern hydraulisch angetrieben: der Portier musste an einer Art Steuerrad drehen, um ihn in Gang zu setzen und ihn an der gewünschten Etage anhalten. Wenn der Fahrstuhlbenutzer ausgestiegen war, drückte er auf einen am Treppengeländer angebrachten Klingelknopf, das war für den Portier das Zeichen, den Lift wieder herunter zu holen. Um 22 Uhr wurde die Haustür vom Portier verschlossen, und jeder, der nach dieser Zeit nach Hause kam, klingelte den Portier heraus, der ihn mit dem Aufzug hinauf transportieren und den Fahrstuhl wieder herunter holen musste, und das während der ganzen Nacht.

                    Der einzige Lichtblick daran war, dass die Spätheimkehrer ihm ein Trinkgeld zuzustecken pflegten, was er zur Aufbesserung seines sehr karg bemessenen Monatsgehalts auch dringend nötig hatte. Für all diese Tätigkeiten erhielt er von unserem Hauswirt, einem schwerreichen Millionär, ein sehr knappes Gehalt und als Dienstwohnung einen Kellerraum neben dem Aufzug, der höchstens 3 x 4 Meter groß war und in dem auch noch der Herd zum Kochen der Mahlzeiten stand. Wie unser Portier mit seiner Frau und vier Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen, in diesem Loch überhaupt leben konnten, ist für mich bis heute ein unaufgelöstes Rätsel geblieben.

                    Kommentar

                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #11
                      Zweites Beispiel: Unsere "Dworniki", die Hausknechte. Unser Hauswirt oder vielmehr sein Verwalter, beschäftigte sieben von ihnen, dazu als achten einen "Oberdwornik". Das war eine "Respektsperson", denn er konnte als einziger von ihnen lesen und schreiben, daher stand ihm auch als Dienstwohnung eine eigene Kellerstube zu, während die übrigen sieben einfache Burschen vom Lande waren, die alle zusammen einen Kellerraum im Hof bewohnten. Sie mussten vor allem den Hof, den Garten und die Straßen und Gehsteige entlang der Vorder- wie der Seitenfront des Hauses sauberhalten und im Winter von Schnee und Eis freihalten, außerdem fielen ihnen alle Arbeiten zu, die mit der Beheizung des Hauses zu tun hatten. Es gab damals noch keine Zentralheizung, und doch sorgte der Hausbesitzer für die gesamte Beheizung des Hauses. In der Monatsmiete für die Wohnung war bereits eine Pauschale für die Heizkosten enthalten. Sowohl die großen, weißen, fast bis zur Decke reichenden Kachelöfen in den Zimmern mit ihren Messingrosten, Messingtüren und Messingklappen wie auch der Küchenherd wurden mit Birkenholz geheizt. Der Hausverwalter kaufte den gesamten Jahresbedarf für ein ganzes Jahr im Frühjahr ein und ließ ihn anfahren. Im Laufe des Sommers wurden die Birkenstämme von den Hausknechten zersägt, gespalten und in einem Hinterhof aufgestapelt. In der Küche einer jeden Wohnung stand eine große Holzkiste, die mit Birkenscheiten gefüllt war. Wenn der Vorrat zu Ende ging, schickte man die Mascha, Ljena oder Anuschka hinunter in die Knechtsstube und ließ melden: "In der Wohnung Nr. 18 geht das Holz zu Ende!" und schon bald darauf kam einer der Hausknechte die schmale steile Hintertreppe, die vom Hof zum Kücheneingang führte, heruafgestapft und trug die Kiepe voller Birkenscheite auf seinem Rücken bis in die 5. Etage hinauf. Ich habe mich im nachhinein manchmal gefragt, warum eigentlich niemand auf die Idee gekommen ist, ihnen diese Knochenarbeit durch die Installation eines einfachen Flaschenzugs im Hof zu erleichtern, aber an so etwas dachte zu den Zeiten kein Mensch.

                      Und genauso wenig interessierte es jemanden, wie die Dienstmädchen untergebracht waren. Während uns beispielsweise eine ganze Flucht ineinandergehender heller, geräumiger und mit allem Komfort eingerichteter Zimmer zur Verfügung stand, schliefen die Köchin und das Stubenmädchen zu zweit in einer fensterlosen Kammer, die nur durch die daneben liegende Küche belüftet werden konnte und so eng war, dass nur zwei eiserne Bettgestelle über Eck hineinpassten. Außerdem befand sich darin nur noch ein kleiner Tisch, ein Stuhl, ein Wandspiegel, eine Hängelampe und eine Ikone. Für einen Schrank war kein Platz vorhanden, die Mädchen verwahrten ihre Wäsche und Kleider in Truhen, die sie unter die Betten schoben.

                      Ausgang hatten die Dienstboten nur jeden 2. Sonntagnachmittag, eines der Mädchen musste immer daheim bleiben, denn Gastfreundschaft wurde in Petersburg ganz groß geschrieben: wir bekamen sonntags oft schon zum Mittagessen unerwartet Besuch, der unter Umständen auch gleich zum Kaffee dablieb. Um die Kaffeestunden kamen noch weitere Gäste dazu, die eventuell auch noch zum Abendessen dablieben. Das bedeutete einerseits viel zusätzliche Arbeit, andererseits waren die Trinkgelder hoch willkommen.

                      Von all den vielen Mädchen, die im Laufe der Jahre in meinem Elternhaus in Petersburg gedient haben, konnten nur zwei lesen und schreiben, alle andern waren Analphabetinnen. Wenn sie an ihre Angehörigen in ihrem Heimatdorf schreiben wollten, dann wandten sie sich an uns Kinder, und wir schreiben nach ihrem Diktat den Brief, der immer gleich lautete: "Liebe Eltern" Ich bin gesund und hoffe, dass auch ihr gesund seid. Ich grüße meine Schwester Mascha und Wera und meine Brüder Pjotr, Sergej und Aljoscha, meine Schwägerinnen Natascha und Ljuba, meinen Schwager Semjon, meinen Onkel sowieso und meine Tante sowieso usw., bis der Bogen voll war, und dann kam die Unterschrift: Eure Tochter Anna." Der Brief war immer gleichlautend, nur die Namen wechselten. Dann musste der Brief nur noch adressiert werden und konnte abgehen.

                      Besonders gut erinnere ich mich noch an die Heimatadresse unserer Köchin Uljana, die in den letzten 7 Jahren bei uns diente. Sie lautete folgendermaßen: "Gouvernement Twer, Stadt Torshok, Dorf Malinowka, An den Ladenbesitzer Michail Matwejewitsch Saizew. Zur Übergabe an Archip Iwanowitsch." Wenn Uljanas Vater mal in den Laden kam, um Salz, Zucker, Tee oder Tabak einzukaufen, sagte der Händler zu ihm: "Du, Archip, ich habe hier einen Brief für dich von deiner Tochter Uljana aus Petersburg." "Na schön, dann lies mal vor!" Herr Saizew las den Brief vor und kassierte dafür eine Kopeke. Wenn dann eine Antwort geschrieben werden sollte, besorgte das wieder der Händler, das kostete dann schon zwei Kopeken. Schließlich wurde das Uljanas Vater zu dumm und er beschloss, seinen jüngsten Sohn Aljoscha zur Schule zu schicken. Das kostete zwar ein paar Rubel Schulgeld, aber dann hatte man doch wenigstens ein für allemal jemanden im Haus, der lesen und schreiben konnte.

                      Als Aljoscha in die Schule kam, fragte ihn der Lehrer: "Wie heißt du?" "Alexsej." "Und weiter?" "Archipowitsch." "Das ist dein Vatername, wie ist denn dein Familienname?" "Familienname? Haben wir nicht!" "Na, du bist doch der junge, der auf dem Marktplatz immer die Tauben füttert, nennen wir dich einfach 'Taube'!" Da das russische Wort für Taube "Golub" heißt, kamen Archip und die Seinen auf diese Weise zu ihrem Familiennamen Golubew, den sie alle übernahmen. Dies ist eine eher heitere Episode, aber auch sie beweist die Rückständigkeit des ländlichen Lebens.

                      Im Allgemeinen war der Gegensatz zwischen dem luxuriösen, oft in sinnlose Verschwendung ausartenden Lebensstil der oberen Zehntausend und der Armut und absoluten Rechtlosigkeit der unteren Gesellschaftsklassen so krass, dass vorauszusehen war, dass es über kurz oder lang zu einer Revolution kommen würde. Obwohl viele russische Dichter wie Turgenew, Gontscharow, Tschechow und vor allem Dostojewski diese unhaltbaren Zustände in ihren Werken schilderten und anprangerten, änderte sich nichts, und so kam es, wie es kommen musste.

                      Als durch Russlands Eintritt in den Ersten Weltkrieg noch weiteres schweres Leid, Hunger, Entbehrungen auf die Bevölkerung zukam, war das Maß voll: es kam zum Volksaufstand vom Februar 1917, zur Abdankung des Kaisers und schließlich zur Ermordung der Zarenfamilie. Damit war die Ära der Zarenzeit zu Ende und es begann die Ära der UdSSR. Und da mein Thema lautete: Leben in St. Petersburg zur Zarenzeit, möchte ich mit einem Zitat eines Gedichts des großen russischen Dichters Alexander Puschkin abschließen, das er zum Lobe dieser Stadt geschreiben hat. Ich habe den Versuch gemacht, es ins Deutsche zu übertragen, und da lautet es etwa so:

                      Ich liebe dich, du Schöpfung Peters,
                      ich lieb' dein strenges, stolzes Bild,
                      der Newa, majestätisch Strömen
                      in ihren Ufern von Granit,
                      der Gärten Schmiedeeisengitter
                      mit ihrem kunstvollen Dekor,
                      das Licht der mondlos hellen Nächte,
                      wenn ich in meinem Zimmer sitze
                      und lese ohne Lampenlicht.
                      Und draußen ruh'n die breiten Straßen,
                      so menschenleer und still und öd...
                      Von fern her schimmert hell die Spitze
                      des Turms de Admiralität.

                      (Okt. 1997)
                      ----

                      Es folgt noch ihr Leben in Petrograd von 1914-18 und abenteuerliche Ausreise in wenigen Kapiteln.

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                      • Fiehn
                        Erfahrener Benutzer
                        • 16.09.2008
                        • 800

                        #12
                        Sehr interessant. Schade, dass dieser Abschnitt schon vorbei ist. Aber es kommt ja noch was anderes nach. Bin mal auf diese Berichte gespannt.
                        Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                        Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                        FN meiner Forschung

                        Meine Orte

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #13
                          Leben in Petrograd von 1914 - 1918

                          Der Eintritt Russlands in den ersten Weltkrieg brachte für St. Petersburg eine ganze Reihe von Veränderungen. Die erste war die Namensänderung. Die Hauptstadt des russischen Kaiserreiches hieß ab sofort nicht mehr Petersburg, weil das zu deutsch klang, sondern Petrograd. Die Nachsilbe "grad" ist die slawische Urform des russischen Wortes "górod" - die Stadt - und kommt in vielen russischen und slawischen Städtenamen vor, z.B in Jekatarinograd, Leningrad, Kaliningrad für das ostpreußische Königsberg oder in dem Namen der serbischen Hauptstadt Belgrad. In Deutschland spöttelte man damals über die Namensänderung "Petrograd, Petrograd, wenn's nur nicht Petroschief geht!"

                          Nun, diese Namensänderung war nur eine Äußerlichkeit und war für uns deutschstämmige Petersburger nur von geringer Bedeutung. Viel schmerzlicher war für uns das jähe Ende der seit Jahrzehnten bestehenden traditionell guten deutsch-russichen Beziehungen. Plörtzlich waren wir die "protkljátyje njemzy", die verfluchten Deutschen, die man beargwöhnte und denen man alles Böse zutraute. Geschäfte, die Petersburger Deutschen gehörten, und in denen man jahrelang gerne eingekauft hatte, wurden nicht nur boykottiert, sondern teilweise geplündert und demoliert und die Polizei sah tatenlos zu, obgleich die Besitzer, oft schon seit drei Generationen, russische Staatsangehörige waren; es genügte, dass sie deutschklingende Namen hatten.

                          Der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache wurde bei schweren Strafen strengstens verboten, wir durften also nur noch innerhalb unserer Wohnungen deutsch miteinander sprechen und nicht mehr deutsch korrespondieren, weder untereinander, noch mit unseren Verwandten in der baltischen Heimat, dafür sorgte schon die allgegenwärtige Zensur. Und in den vier deutschsprachigen Kirchenschulen wurde eine rigorose Russifizierung durchgeführt. In deutscher Sprache durfte ab August 1914 nur noch in zwei Fächern unterrichtet wrden: Deutsch und Religion. Der Unterricht in allen übrigen Fächern musste in russischer Sprache durchgeführt werden.

                          Nun war das für uns in St. Petersburg und sonstwo in Rußland geborene und aufgewachsene Schüler und Schülerinnen nicht weiter tragisch, da wir damals die russische Sprache genauso beherrschten wie unsere eigene Muttersprache. Wir mussten uns also nur die nötigen technischen Ausdrücke aneignen, und das Problem war für uns gelöst, dassselbe galt auch für unsere in Petersburg oder sonstwo in Rußland geborenen und aufgewachsenen Lehrer. Schwieriger war die Situation für diejenigen unserer Lehrer, die im Baltikum aufgewachsen waren, und in der Landesuniversität Dorpat studiert hatten, wo die Vorlesungen jahrzehntelang in deutscher Sprache gehalten wurden. Zwar sprachen auch diese Lehrer nach jahrzehntelangem Aufenthalt in St. Petersburg inzwischen geläufig russisch, aber fragen Sie nur nicht, wie! Mit der russischen Grammatik standen sie seit eh und je auf Kriegsfuß, und so bekamen wir unmittelbar nach der Russifizierung zu unserem heimlichen Vergnügen so manche kuriosen Wortendungen und höchst originelle und unerwartete Satzkonstruktionen zu hören.

                          Der Krieg ging unterdessen weiter und brachte - wie in aller Welt - der Bevölkerung schweres Leid. In unzähligen Familien trauerte man um gefallene Söhne, Enkel, Väter oder Ehegatten, weite Landstriche waren durch den Krieg verwüstet, zerstört oder von feindlichen Truppen besetzt, und dazu kam nun auch noch der totale Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung. Es war geradezu grotesk: Im Agrarland Rußland, der Kornkammer Europas, das jahrzehntelang sämtliche europäischen Länder mit Getreide beliefert hatte, war kaum noch Brot aufzutreiben, auch die übrigen Nahrungsmittel wurden knapp und auf unsere Fleischmarken bekamen wir schon längst kein Fleisch mehr, sondern nur noch Fisch und zwar Sorten, von denen wir früher nie etwas gehört oder gesehen hatten. Diese Fische wurden in gesalzenem Zustande waggonweise aus Sibirien angeliefert. Es gab nur zwei Sorten, den "Kjet" und die "Wobla". Wenn wir mit "Kjet" versorgt wruden, waren wir schon froh. Wenn man diesen dorschartigen Fisch 24 Stunden gewässert hatte, ergab das Fleisch eine genügende Menge, um davon eine sättigende Mahlzeit bereiten zu können. Man konnte es kochen, braten und durch den Fleischwolf drehen. Auf alle Fälle wurde man satt.

                          Die "Wobla" dagegen war ein fleischiger Buttfisch. Aber wenn man das Fleisch nach dem Wässern auch noch so sorgfältig von den Gräten schabte, war es immer zu wenig, um davon satt zu werden. Besonders schlimm war das für die schwer arbeitende Bevölkerung.

                          Als die russischen Truppen weiter zurückgedrängt wurden, und es ganz nach einer Niederlage aussah, begann es in der Bevölkerung zu gären, es kam zu Streiks und Unruhen. Nach bewährtem Rezept gab der Kaiser dem Militär den Befehl, diese Unruhen gewaltsam niederzuschlagen, aber diesmal verweigerte ihm die Truppe den Gehorsam und stellte sich auf die Seite der Bevölkerung.

                          Schließlich - Anfang 1917 - war der Kaiser gezwungen, abzudanken, nachdem er eine provisorische Regierung unter dem liberalen Fürsten Lwow ernannt hatte.
                          Das weitere Schicksal der kaiserlichen Familie ist bekannt. Sie wurde nach Jekaterinenburg deportiert und dort am 16.07.1918 ermordet. - Das war das tragische Ende der acht Jahrhunderte währenden absoluten Monarchie in Rußland, es begann eine ganz neue Ära.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #14
                            Die Volkserhebung vom Febr. 1917 ging nicht ohne Gewalttätigkeiten ab. Eines morgens wachten wir durch eine wüste Schießerei auf. Als wir zum Fenster liefen, sahen wir, daß am gegenüberliegenden Ufer der Fontanka auf dem Platz vor dem Gebäude des Ministeriums des Innern Armeelaster aufgefahren waren, die von bewaffneten Rotarmisten besetzt waren.Sie schossen zunächst wahllos von außen durch die Fensterscheiben, dann sprangen sie von dem Wagen und stürmten in das Gebäude hinein, um die ganze Inneneinrichtung zu demolieren. - Mit der gleichen Zerstörungswut fielen sie dann über das ganz in der Nähe gelegene staatliche Branntweinlager her, um den gesamten Vorrat kurz und klein zu schlagen, so daß die ganze Umgebung mit Glasscherben übersät war und der Schnaps auf die Straße in den Rinnstein floß. Und dann konnten wir beobachten, wie die gleichen Leute bäuchlings auf der Straße lagen und den Schnaps aus der Gosse tranken.

                            Die geballte Wut der Menge richtete sich hauptsächlich gegen die bis dahin gehaßte und gefürchtete Polizei. Die hatte allerdings in der Vergangenheit das Volk und insbesondere die Randgruppen der Gesellschaft wie Straßenmusikanten, Bettler und Betrunkene mit großer Brutalistät behandelt. - Wenn die Menge eines einzelnen Polizeibeamten habhaft wurde, so wurde er erbarmungslos gelyncht. Kein Wunder also, daß sich die Polizeibeamten in Trupps zusammentaten, in die Bürgerhäuser flüchteten und sich, bis an die Zähne bewaffnet, auf den Hausböden verschanzten, um sich bis zum Schluß zu wehren, da sie genau wußten, was ihnen bevorstand, wenn sie sich ergaben. Auch auf unserem Hausboden hatte sich ein Polizeitrupp verschanzt und die Schanzerei hörte erst auf, als keiner von ihnen mehr am Leben war. Dieser ganze Kampf spielte sich unsere Hintertreppe hinauf ab, also genau hinter unserer Küchentür.

                            Mehrere Tage wagten wir uns nicht aus dem Haus, da die entfesselte Menge unberechenbar war.

                            Erst als sich die erste Wut ausgetobt hatte, trat eine gewisse Entspannung ein. Anstelle der nun nicht mehr existierenden Polizei wurde als Ordnungsmacht eine Rote Miliz gegründet, die sich aus Rotarmisten rekrutierte. In den Häusern wurden Hauskomitees gegründet, die für eine gewisse Ordnung sorgten und allmählich normalisierte sich die Lage. Schließlich wurden Wahlen abgehalten, aus denen eine Volksvertretung, die Duma und eine provisorische Regierung unter Kerensky hervorgingen.

                            In den ersten Monaten zwischen Volkserhebung vom Februar 1917 bis zur sog. "Großen Oktoberrevolution" erlebte Rußland eine Zeit geistiger Freiheit, wie es sie noch nie in seiner Geschichte gekannt hatte. Es herrschte eine vollkommene Presse- und Meinungsfreiheit. Es gab eine Menge Zeitungen der verschiedensten Richtungen und jeder konnte völlig ungehindert seiner Meinung Ausdruck geben, ohne irgendwelche Repressalien befürchten zu müssen. Im Parlament gab es neben einer Reihe kleiner Splitterparteien mehrere große Parteien, darunter die Liberalen, die Sozialdemokraten, die den Adel und große Teile der Bürgerschaft vertraten, und die Kommunisten, die damals in zwei Lager zerfielen: die Gemäßigten, die sog. "Menschewiki" und die Radikalen, die "Bolschewiki".

                            Deren strategischer Kopf, Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, war inzwischen mit Hilfe der deutschen Regierung aus seinem Exil nach Rußland zurückgekehrt. Die Deutschen hatten ihn aus seinem Schweizer Exil geholt, im plombierten Waggon durch Deutschland durchgeschleust und ihn nach Rußland gebracht, um dort möglichst viel Unruhe zu stiften und die Lage zu destabilisieren, was ihm auch mit Hilfe seines Kampfgefährten Lew Bronstein Trotzki, außerordentlich gründlich gelungen ist.

                            Als er noch am Anfang seiner Karriere stand und keineswegs überall bekannt war, bin ich ihm übrigens einmal unversehens über den Weg gelaufen. Ich war eines nachmittags von der Violinstunde kommend, mit meinem Geigenkasten nach Hause unterwegs, als mir einen Menschenmenge auffiel, die sich vor einem Haus versammelt hatte. Die Leute reckten die Arme mit geballter Faust in die Höhe und riefen etwas, was ich aus der Ferne nicht verstehen konnte. Neugierig, wie Teeenager nun einmal sind, kam ich näher, um zu sehen, was da los war. Da sah ich, daß die Menschenmenge zum zweiten Stock des Hauses hinaufblickte. Dort oben stand auf dem Balkon ein schmächtiger Mann mit hoher Pelzmütze. Er hatte mongolische Gesichtszüge und ein Spitzbärtchen. Er hielt eine zündende Rede und rief zur Revolution auf. Seine Zuhörer antworteten mit dem Ruf: "Da sdráwstwujet Revoluzija!" (Es lebe die Revolution!) Ich fragte einen neben mir stehenden Mann: "Können Sie mir sagen, wer der Mann da oben ist?" Er antwortete mir: "Aber sicher! Das ist doch Wladimir Iljitsch Lenin, der Führer der Bolschewiki!" In der aufgeheitzten Atmosphäre wurde mir bald mulmig und ich machte, daß ich nach Hause kam, ohne zu ahnen, welcher bedeutenden historischen Persönlichkeit ich soeben begegnet war.

                            Kommentar

                            • Helen
                              Erfahrener Benutzer
                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #15
                              Bezeichnend jener Zeit ist ein persönliches Ergebnis, das ich im Zirkus Tschiniselli hatte, der sich in Petersburg eines ausgezeichneten Rufes und einer großen Beliebtheit erfreute. Wir erlebten als Zuschauer folgende Szene: In der Menge saß ein Clown auf einem Stuhl und las die Zeitung. Ein zweiter Clown kam herein, ein gerahmtes Bild unter dem Arm. "Was bringst du denn da an, Brüderchen?" fragte der Clown. "Na, wie du siehst, zwei Bilder." "Und wen stellen sie denn dar?" "Der erste ist Lenin, der andere ist Trotzki." - Und was sollen wir mit den beiden machen?" "Na, ich schlage vor, den einen hängen wir auf und den andern stellen wir an die Wand!" - Das Publikum brüllte vor Lachen und klatschte begeistert Beifall.

                              Eine so freie politische Meinungsäußerung wäre in der Zarenzeit ganz undenkbar, ja in manchen Fällen sogar lebensgefährlich gewesen.
                              Lenin agierte sehr geschickt und verstand es, in verhältnismäß kurzer Zeit die beiden zahlenmäßig stärksten und wichtigsten Bevölkerungsgruppen, die Soldaten und die Bauern auf seine Seite zu bringen: die kriegsmüden Soldaten durch das Versprechen, sofort nach der Machtübernahme einen Sonderfrieden mit Deutschland abzuschließen und die Bauern durch das Versprechen, den adligen Grundbesitzern das Land wegzunehmen und es unter sie, die Bauern zu verteilen.

                              Als sich Lenin dieser beiden großen Bevölkerungsgruppen sicher war, inszenierte er in der Nacht vom 25. auf den 26. Okt. 1917 seinen "Sturm auf das Winterpalais", den Sitz der provisorischen Regierung. Der vielbesungene Panzerkreuzer Aurora gab einen einzigen Signalschuss ab und die Rote Armee marschierte praktisch ungehindert in das Winterpalais ein, da die provisorische Regierung schon längst von dem geplanten Staatsstreich Wind bekommen und sich in Sicherheit gebracht hatte. Die einzigen Verteidiger waren ein paar blutjunge Offiziersanwärter aus der Kadettenschule, darunter auch der Bruder einer meiner Klassenkameradinnen, Boris Wiese. Ihm gelang als einzigem die Flucht über die Dächer. Die meisten seiner Kameraden kamen um, wie mir meine Klassenkameradin Irma Wiese 30 Jahre später berichtete, als wir 1946 in Dänemark zusammentrafen.

                              Nachdem Lenin die Macht ergriffen hatte, erfüllte er seine beiden Versprechen: er schloß am 3. März 1918 umgehend einen Sonderfrieden mit Deutschland, der als "Friede von Brest-Litowsk" in die Geschichte eingegangen ist, und er enteignete das Land der adligen Gutsbesitzer, verteilte es allerdings nicht unter die Bauern sondern errichtete überall Kollektiv-Wirtschaften.

                              Danach wandte er sich seinem nächstem Gegner zu, der bürgerlichen Mitte. Eines Tages erhielten alle Tresorbesitzer, darunter auch mein Vater, die Order, sich mit einem Safeschlüssel an einem bestimmten Tag in ihrer Bank einzufinden. Hier mussten sie ihre Safes aufschließen und dann kamen Rote Milizionäre mit großen Säcken herein, und der Inhalt der Safes wurde unsortiert und unregistriert in diese hinein geschüttet, ob es nun Wertpapiere, Juwelen, Tafelsilber oder persönliche Dokumente waren. Auf diese Weise sah mein Vater in einer Minute die Ersparnisse seines zwanzigjährigen Arbeitslebens in St. Petersburg vor seinen Augen verschwinden.

                              In dem gleichen Sack verschwanden auch mein Taufschein, mein Konfirmationsschein und mein Reifezeugnis auf Nimmerwiedersehen.

                              Mein Vater bat die Milizionäre: "Lassen Sie mich doch wenigstens die persönlichen Dokumente heraus nehmen, damit können Sie doch nichts anfangen!" Aber es half nichts. Sie antworteten ihm: "Ach, das werden wir schon später sortieren", was natürlich nie geschah.

                              Als mein Vater nach Hause kam, besaß er nur noch sein Girokonto, von dem er monatlich 200 Rbl. abheben durfte, und sonst nichts.

                              Da er Leiter der Fabrikfiliale, in den Augen der Kommunisten also ein "Erzkapitalist" war, hatte er auch keinerlei Aussicht, je irgend einen andere Arbeit zu erhalten. Damit war unsere Existenzbasis verloren und wir standen vor der Frage, was nun aus uns werden sollte.

                              Es blieb nur ein einziger Ausweg: Die Auswanderung in die alte baltische Heimat meiner Eltern, die auch uns Kindern sehr vertraut war.

                              Diese Auswanderung wurde uns durch den Frieden von Brest-Litowsk ermöglicht, denn eine der Bedingungen des Vertrages war die Gründung der drei selbständigen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die als Pufferstaaten zwischen Deutschland und Rußland gedacht waren. Wer nun die Herkunft einer dieser Länder nachweisen konnte, durfte dorthin zurückkehren. Die Prozedur erschien verhältnismäßig einfach: man musste sich an das deutsche Konsulat in in Petrograd wenden und seine Herkunft von dort nachweisen, woraufhin man eine entsprechende Bestätigung erhielt und in die Liste der Ausreisewilligen eingetragen wurde. Nach einiger Zeit erhielt man vom Konsulat eine Benachrichtigung über das vorgesehene Ausreisedatum, denn inzwischen gingen regelmäßig alle 14 Tage Umsiedlungstransporte nach dem Baltikum. Mein Vater hatte keine Schwierigkeiten, seine Herkunft nachzuweisen, da er immerhin noch im Besitz seines Personalausweises war, in dem vermerkt war, daß er aus Lettland stammte.
                              Zuletzt geändert von Helen; 08.12.2010, 20:49.

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