Kindstötung

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  • mabelle
    Erfahrener Benutzer
    • 09.10.2017
    • 875

    #16
    Zitat von Geufke Beitrag anzeigen
    Meine Lieben,
    ich arbeite mich gerade durch das katholische KB von Groß Köllen etwa 2. Hälfte 18.Jh. und mir ist aufgefallen, dass wirklich hinter jedem unehelich geborenen Kind, bei dem nur die Mutter eingetragen war, ein Kreuz steht. Das kann doch kein Zufall sein. Ist Euch auch schon so etwas aufgefallen?
    Hallo,

    jetzt wollte ich mich auch noch zu dem Thema zu Wort melden. Nach meinen bisherigen Recherchen sollte unbedingt der historische und soziale Kontext sowie die Region berücksichtigt werden. Die Säuglingssterblichkeit war in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so hoch, dass dies von den offiziellen Stellen untersucht werden sollte. In der Sterbematrikeln ist bei Säuglingen häufig als Todesursache die "Fraiss" oder "Freissen" vermerkt. In diesen Fällen war es wohl so, dass die Neugeborenen nicht ausreichend mit Muttermilch versorgt werden konnten und deshalb einen Getreidebrei erhielten, der für den Organismus der Kleinen nicht geeignet war. Sie verhungerten unter schweren Krämpfen. Das geschah auch bei den verheirateten Müttern. Sie gebaren ein Kind nach dem anderen mit nur kurzen Intervallen, die für eine Regeneration der Mütter nicht ausreichend waren. Teilweise gab es 13 Kinder, von denen aber nur einige wenige die ersten Jahre überlebten. Die Bevölkerung litt nach mehreren Missernten unter Hungersnot, die Bauern hatten trotzdem hohe Abgaben zu leisten und kämpften mit weiteren schwierigen Lebensumständen. Wenn im Falle einer nichtehelichen Geburt die Väter sich der Verantwortung entzogen (soll ja auch heute noch vorkommen) und die Familie keinen Rückhalt geben konnte oder wollte, befand sich die junge Mutter in einer äußerst prekären Lage. Sie mussten für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen und unmittelbar nach der Entbindung wieder aufs Feld gehen oder in die Fabrik. Ich habe Bilder gesehen von Manufakturen in der Frühzeit der Industrialisierung, wo die Säuglinge der arbeitenden Mütter neben der Werkbank abgelegt wurden. Das scheint gängige Praxis gewesen zu sein.

    In meiner Familie gab es den Fall von Bauersleuten, die immer mehr Teile ihres Ackergrundes verloren hatten, Missernten erlebten und so in die Verarmung (vielleicht auch Verschuldung) gerieten. Von elf Kindern haben nur drei überlebt. Ein Sohn aus dieser Familie ging nach Nordamerika (New Jersey).

    Also mich überfiel angesichts des Schicksals dieser Frauen großes Mitleid. Nichts ist doch schmerzhafter als der Verlust eines Kindes. Da die Kenntnisse in Hygiene selbst bei den Medizinern zu der Zeit nicht sehr entwickelt waren, starben sehr viele Mütter auch im Kindsbett. Ich glaube auch nicht, dass es zu dieser ein großes Stigma war, ein Kind außerhalb der Ehe zur Welt zu bringen. Die Hürden für eine Heiratserlaubnis waren groß und auch das war ein Grund für viele, nach Nordamerika auszuwandern.

    Ich meine, dass man dem Thema nicht gerecht wird, wenn heutige Maßstäbe angelegt werden. Es war eine sehr, sehr schwierige Zeit. Es gab weder Schwangerschaftsverhütung noch soziale Leistungen oder Mutterschutz.

    Das wollte ich noch loswerden. Es lag mir sehr am Herzen.

    Viele Grüße
    mabelle

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    • Schlumpf
      Erfahrener Benutzer
      • 20.04.2007
      • 357

      #17
      Hallo
      Nun, ich denke, so einfach ist die Sache nicht.

      Ich habe in einem Brüchtenbuch 1620 ff einen Fall von Kindstötung gefunden, der an das
      höhrere Gericht nach Düsseldorf verwiesen wurde. Meines Wissens wurde die Mutter
      danach auch hingerichtet. Das war um 1710. Nur zweimal habe ich Findelkinder in den KB
      gesehen: 1710 und 1772. Beide sind vorder Kirchentüre abgegeben worden und offensicht-
      lich nicht alt geworden.
      Die uneheliche Mutter wurde vor etwa 1769 oder 1779 in den Geburtswehen gefragt, wer
      der Vater des Kindes sei. Das wurde per Erlass vom Kurfürsten verboten: Kurpfalz, Jülich-
      Berg eben 1769, Kurköln dito ab 1779. Das ist der Grund, warum plötzlich bei unehelichen
      Kindern nicht immer ein Vater angegeben wird.
      Ab 1773 regelte ein Erlass die Ausbildung von Hebammen. Das gab es längst nicht in allen
      Ecken. Vor 1773 erhielten die Wehfrauen gar keine Ausbildung. Ab da gab es Distriks-
      hebammen.

      Wenn die Mutter unterernährt ist, wird das Kind wohl auch nicht gerade sehr
      stark sein. In der Zeit ab 1815 (Ausbruch des Tambora) häufen sich Beerdigungen Kindern.
      Ganz besonders ab ca 1820 häufen sich Totgeburten und Säuglingssterblichkeit. Die Zeit
      der 1840er Jahre verzeichnet den traurigen Höhepunkt.
      Wenn man nun bedenkt, dass der Verdienst einer Erwachsenen Frau am Tage etwa den
      Gegenwert eines Pfundes Butter entsprach, dann kann man sich etwas mehr vorstellen. Das
      Pfund war übrigens bis ca. 1810 bei uns mit 467,4 g definiert, ab 1810 = 500 Gramm und ab
      1875 abgeschafft. Die Magd verdiente um 1770 im halben Jahr etwa 4 - 5 Reichstaler bei
      freier Kost und Logis, sowie Kleidung. Übrigens konnte die Magd ein Alter von 10 Jahren
      haben!

      Der Umgang mit unehelich geborenen Kindern war von Gebiet zu Gebiet verschieden. Wenn
      jemand wie in Neustrehlitz 1705 nicht als Handwerker zugelassen wurde, weil sein Vater
      unehelich geboren wurde, oder wie im Hzm Berg die Kinder der franz. Sodaten ab 1756 den
      Namen des bei Minden 1759 gefallenen unehelichen Vaters trugen, kann man sich kein
      abschließendes Urteil erlauben. Was ich aber sagen kann: Ab dem 17. Jahrhundert wurde in
      einer Herzoglichen Ordnung der Stolgebühren der doppelte Satz für die Taufe von unehelichen
      Kindern vorgeschrieben.
      Da aber Kirchenbücher auch zur Abrechnung der Einkünfte einer Pfarrgemeinde genommen
      wurden, so hat der hiesige Pastor diese Taufen doppelt unterstrichen, ein anderer führte
      ein eigenes Register. Nach der Durchsicht einiger Pfarrgemeinden (katholisch) kann ich sagen,
      dass meistens uneheliche Geburten bei Soldaten des kurfürstlichen Militärs vorkamen. Diese
      dienten meistens in Düsseldorf oder Jülich für 6 Jahre. Nach Absaluf der Dienstzeit haben die
      Paare meistens geheiratet und hinter der Taufe wurde dann vermerkt: "Per matrimonio sub
      sequenz legitimata(us) est."
      In dem Falle wurde dann der Name des Vaters nachgetragen. (Gibt es nämlich auch, dass
      im Kirchenbuch eine freie Stelle ist.)
      Bei etwa 200 Geburten pro Jahr habe ich etwa 1 - 2 Taufen von unehelichen Kindern
      gefunden. Auch deren Häufigkeit variiert von Gebiet zu Gebiet.

      Auch früher leibten die Menschen ihre Kinder. Kindsmord gab es bestimmt auch, aber längst nicht so häufig, wie man denkt. Aber Armut, mangelnde Hygiene, unzureichende Ausbildung der Hebammen Hunger und katastrophale Missernten - das gab es zu Hauf.

      Schlumpf
      Zuletzt geändert von Schlumpf; 24.12.2017, 12:58.
      Uns ist in alten mæren wunders vil geseit. von helden lobebæren, von grôzer arebeit,. von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,.

      Kommentar

      • Blubbermaus
        Erfahrener Benutzer
        • 24.12.2017
        • 106

        #18
        Ein Kreuz (katholisch) bedeutet nur, dass es früh gestorben ist.
        Todgeburten hätten ja eigentlich nicht getauft werden sollen. Scheint aber doch oft so gewesen zu sein. Schließlich durfte nur was getauft war auf dem Gottesacker beerdigt werden.

        Ich habe das Gefühl, dass ERSTE Kinder sehr oft auch gleich gestorben/Todgeburten waren. Damit ergibt sich dann eben bei einer unehelichen Geburt auch die höhere Wahrscheinlichkeit für die Säuglingssterblichkeit.
        Dies ist nur eine Beobachtung - ich habe es nicht statistisch ausgewertet.
        Ich habe (ja, katholisch!) sogar das Gefühl, dass trotz des Makels die Frauen durchaus eine Chance auf dem Heiratsmarkt hatten. Sie zeigten ja wenigstens, dass sie Nachkommen zur Welt bringen konnten. Also die Hälfte der unehelich gebärenden haben später (nach 3-5 Jahren) auch dann geheiratet. Und nicht unbedingt den Mann, der beim ersten Kind als unehelicher Vater eingetragen war.

        Also nein - keine Kindstötung ersichtlich. Vielleicht Nachlässigkeit in Hygiene und Nahrung.

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        • Gudrid
          Erfahrener Benutzer
          • 22.04.2020
          • 1303

          #19
          Hierzu habe ich gerade einen interessanten Artikel gefunden


          Viele ledige Kinder kamen zu Pflegefamilien, wenn die Großeltern oder die restliche Familie nicht für die Kinder sorgen konnte. Die ledige Mutter musste ja arbeiten, ob beim Bauern oder in der Fabrik, da konnte sie ihr Kind nicht brauchen. Ich glaube auch, dass gerade ledige Kinder nicht willkommen waren, die Mutter konnte ja oftmals gerade sich selbst durchbringen. Und wenn da eins starb, war ein Problem weniger.
          Liebe Grüße
          Gudrid
          Lieber barfuß als ohne Buch

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          • asd3
            Erfahrener Benutzer
            • 31.10.2015
            • 278

            #20
            Lieber Forschergemeinde,

            ich kann mich den Hinweisen von mabelle und Schlumpf nur anschließen, dass insbesondere die Region bei der Interpretation des KB-Eintrages berücksichtigt werden sollte. Ohne dies jetzt im Einzelnen belegen zu können/wollen, gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten für die Kreuze, die landesweise und regionsweise bis hin zum einzelnen Pfarrer unterschiedlich erfolgten. Für mich gab es bisher keine allgemeingültige Regel, was die Kreuze bedeuten. In Niederbayern/Oberpfalz zeigt das Kreuz meistens - aber eben nicht immer - den Tod im (frühen) Kindesalter an.

            Bis jetzt sind mir folgende Gründe für Kreuze in Kirchenbüchern untergekommen:
            • Kind ist früh/umgehend nach der Geburt verstorben (ggf. noch ergänzt mit einem Sternchen für geburtennahen Tod oder einer Klammer für Tod im Kindesalter)
            • Person ist normal verstorben, was dann in seinem Taufeintrag gekennzeichnet wird
            • Person in einer anderen Pfarre verstorben, so dass mangels Sterbeeintrag zumindest im Geburtseintrag ein Hinweis erteilt wurde
            • Kind ist unehelich geboren (ggf. auch kombiniert/alternativ mit Schreibweise des Taufeintrages auf dem Kopf)
            • Person war nicht redlich (Post #9, drei Kreuze, war mir persönlich neu)
            • Hinweis, dass Person zum Zeitpunkt des Eintrages bereits verstorben ist (in der Regel bei Heiratseinträgen und den Eltern des Paares)
            • Linie ist ausgestorben (dann als Doppelkreuz, kenne ich nur aus der Literatur)

            Für mich sind die Kreuze entweder als genealogisches Zeichen für Tod zu sehen (verstorben oder vorverstorben) oder als Kreuzchen, dass mit der Person etwas Besonderes verbunden war (unredliche Person oder uneheliche Geburt). Da sich die Pfarrer teilweise irrten oder Schreibgewohnheiten änderten, nehme ich die Angabe immer nur als Hinweis auf. Endgültig zeigt dann oft nur der Sterbeeintrag, was genau wann passiert ist.

            Viele Grüße
            Andreas
            Ahnenliste unter https://forum.ahnenforschung.net/sho...d.php?t=153579

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