Warum "dictus" vor dem Familiennamen?

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  • consanguineus
    Erfahrener Benutzer
    • 15.05.2018
    • 7250

    [ungelöst] Warum "dictus" vor dem Familiennamen?

    Jahr, aus dem der Begriff stammt: 14. Jahrhundert
    Region, aus der der Begriff stammt: Hildesheim



    Hallo zusammen!

    Aus welchem Grunde mag Thilemann Boetel (1366), ein Kleriker, im Jahre 1369 als Thilemannus dictus Boetel und 1373 als Thidericus dictus Botel bezeichnet worden sein? Es geht mir nur um das "dictus". Die genannte Person ist auch nur ein Beispiel, wengleich ein konkretes, für diese in jener Zeit nicht selten zu beobachtende Sitte. Da besagter Thilemann nun einmal seinen Familiennamen hatte und nutzte, war das "dictus" doch eigentlich überflüssig, zumal es ja nur seinem eigentlichen Familiennamen vorangestellt wurde und nicht einem alternativen Namen, unter dem man ihn vielleicht auch kannte.

    Hat jemand eine Idee, was hinter dem "dictus" stehen könnte? Nicht die Übersetzung, für die reicht mein Latinum noch aus, sondern die Idee dahinter. Warum machte man das damals so?

    Vielen Dank und viele Grüße
    consanguineus
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  • GiselaR
    Erfahrener Benutzer
    • 13.09.2006
    • 2254

    #2
    Hallo

    mein Vorschlag: weil die Idendifizierung der Personen über den FN zwar schon vorhanden war, aber die eigentliche Identifizierung damit noch nicht so gefestigt war wie schon 100 Jahre später. (auch dann gab es noch Änderungen oder Weglassen der FN)
    Grüße
    Gisela
    Grüße Gisela

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    • consanguineus
      Erfahrener Benutzer
      • 15.05.2018
      • 7250

      #3
      Hallo Gisela!

      Das ist ein interessanter Gedanke. Aber warum denkst Du, daß die Identifizierung über den Familiennamen, der ja vorhanden war und zudem bereits weit über ein Jahrhundert vorher auftaucht, nicht ausgereicht haben könnte? Zudem lautet der Familienname ja nicht Thilemann Müller "dictus Boetel", sondern tatsächlich nur Boetel. Der Zusatz "dictus" trägt ja in diesem Falle nun nicht zu einer exakteren Identifizierung bei.

      Viele Grüße
      consanguineus
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      • Xtine
        Administrator

        • 16.07.2006
        • 29674

        #4
        Hallo consanguineus,

        gab es vllt. 2 Herren des selben Namens? Vater und Sohn, oder Vettern?
        Dann diente es vermutlich zur Unterscheidung, wer gemeint war.
        Viele Grüße .................................. .
        Christine

        .. .............
        Wer sich das Alte noch einmal vor Augen führt, um das Neue zu erkennen, der kann anderen ein Lehrer sein.
        (Konfuzius)

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        • consanguineus
          Erfahrener Benutzer
          • 15.05.2018
          • 7250

          #5
          Hallo Christine,

          möglich und auch sehr wahrscheinlich, daß es zu der Zeit mehrere Boetels gab, deren Vorname Tile(mann) war, denn der Vorname war damals typisch für die Familie. Nur trugen die ja alle schon ihren Familiennamen. Das "dictus" trägt in diesem Falle also nicht zu einer besseren Unterscheidbarkeit bei. Dieser konkrete Tilemann tritt ja auch als Tilemann Boetel OHNE ein dictus auf.

          Viele Grüße
          consanguineus
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          • GiselaR
            Erfahrener Benutzer
            • 13.09.2006
            • 2254

            #6
            Zitat von consanguineus Beitrag anzeigen
            ..... Aber warum denkst Du, daß die Identifizierung über den Familiennamen, der ja vorhanden war und zudem bereits weit über ein Jahrhundert vorher auftaucht, nicht ausgereicht haben könnte? Zudem lautet der Familienname ja nicht Thilemann Müller "dictus Boetel", ....

            1. weil der Gebrauch Familiennamen - obwohl vorhanden und auch schon verbreitet - keineswegs standardisiert war. Z.B. habe ich schon u.a. in Bedelisten aus späteren Jahrhunderten Personennennungen gelesen wie "Henngen der Müller" o.ä. Was wir nicht wissen (du aber vielleicht schon): lebte dieser Thilemannus in seinem ursprünglichen (erweiterten) Umfeld, wo der FN als "normal" galt, oder war er ein Zugezogener (bei Klerikern nicht selten), wo er in 1. Linie über seine soziale/berfliche Funktion definiert wurde, seine Familie aber keine Rolle spielte, bzw. nicht geläufig war.



            2. Daß es der einzige FN war (nicht Thilemann X gen. Y) habe ich schon verstanden. Meine Argumentation/Vorschlag gilt für den vorliegenden Fall.

            Natürlich müßte man, um eine allgemeine Aussage zu treffen, jeden Einzelfall analysieren.
            Grüße
            Gisela
            Grüße Gisela

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            • Anna Sara Weingart
              Erfahrener Benutzer
              • 23.10.2012
              • 16683

              #7
              Zitate:

              "Man hat dieses Dictus in seiner Bedeutung ganz verschieden bewertet. Gottschald z.B. (S. 55) schreibt: „Gegen 1340 verschwindet dort (in Görlitz!) der Zusatz dictus = genannt, ein Zeichen, daß die Familiennamen fest geworden sind"."


              "Bei der Durchsicht der auf S. 154/55 genannten Beispiele komme ich zu der Ansicht, daß dem „genannt“ oder „dictus“ für die Entstehung und Weiterentwickelung der Familiennamen eine verschiedene Bedeutung beizulegen ist."


              "Wenn dictus vor einer Personenbezeichnung steht, so kann diese ohne weiteres für einen Familiennamen genommen werden.*) Es kann nun aber nicht genug betont werden, dass auch ohne dictus Familienname vorliegen kann."


              "Dies dictus beweist zwar, dass der Familienname ursprünglich den Charakter eines Beinamen hatte ..."


              "Erst nach und nach verschwindet der Zusatz „dictus" und gleichzeitig wird damit der Familienname zum bloßen Attribut,..."
              Zuletzt geändert von Anna Sara Weingart; 06.04.2019, 00:21.
              Viele Grüße

              Kommentar

              • consanguineus
                Erfahrener Benutzer
                • 15.05.2018
                • 7250

                #8
                Zitat von GiselaR Beitrag anzeigen
                Was wir nicht wissen (du aber vielleicht schon): lebte dieser Thilemannus in seinem ursprünglichen (erweiterten) Umfeld, wo der FN als "normal" galt, oder war er ein Zugezogener (bei Klerikern nicht selten), wo er in 1. Linie über seine soziale/berfliche Funktion definiert wurde, seine Familie aber keine Rolle spielte, bzw. nicht geläufig war.

                Guten Morgen Gisela!

                Der Mann lebte mitten im Kerngebiet seiner etablierten Sippe. Die Namensträger kommen in einem Gebiet vor, welches ungefähr im Westen von Herford, im Norden von Lüneburg, im Osten von Bernburg und im Süden vom Harz begrenzt wird, also im Wesentlichen das (süd-)östliche Niedersachsen, sowie am Rande Ostwestfalen und das westliche Sachsen-Anhalt. Ob und wie sämtliche Namensträger miteinander verwandtschaftlich zusammenhängen, kann ich nicht in jedem Falle sagen. Ich weiß nur, daß es sich zuallermeist um offenbar durch Handel und Wandel recht gut vernetzte Stadtbürger handelt. Der Name taucht in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erstmalig urkundlich auf, wird also um 1370 nicht mehr unbekannt sein. Thilemann ist nur einer von vielen Klerikern, die die Familie hervorgebracht hat. Erstaunlicherweise treten sie stets mit ihrem Familiennamen auf, auch die Klosterfrauen. Erstaunlich finde ich es deswegen, weil, wie Du ja auch angemerkt hast, der Familienname in diesem Umfeld keine große Rolle mehr spielte. Zumindest nicht, wenn sie erst einmal im kirchlichen und vor allem klösterlichen Umfeld angekommen waren.

                Viele Grüße
                consanguimeus
                Daten sortiert, formatiert und gespeichert!

                Kommentar

                • consanguineus
                  Erfahrener Benutzer
                  • 15.05.2018
                  • 7250

                  #9
                  Zitat von Anna Sara Weingart Beitrag anzeigen
                  Zitate:

                  "Man hat dieses Dictus in seiner Bedeutung ganz verschieden bewertet. Gottschald z.B. (S. 55) schreibt: „Gegen 1340 verschwindet dort (in Görlitz!) der Zusatz dictus = genannt, ein Zeichen, daß die Familiennamen fest geworden sind"."


                  "Bei der Durchsicht der auf S. 154/55 genannten Beispiele komme ich zu der Ansicht, daß dem „genannt“ oder „dictus“ für die Entstehung und Weiterentwickelung der Familiennamen eine verschiedene Bedeutung beizulegen ist."


                  "Wenn dictus vor einer Personenbezeichnung steht, so kann diese ohne weiteres für einen Familiennamen genommen werden.*) Es kann nun aber nicht genug betont werden, dass auch ohne dictus Familienname vorliegen kann."


                  "Dies dictus beweist zwar, dass der Familienname ursprünglich den Charakter eines Beinamen hatte ..."


                  "Erst nach und nach verschwindet der Zusatz „dictus" und gleichzeitig wird damit der Familienname zum bloßen Attribut,..."

                  Hallo Anna Sara!

                  Vielen Dank für die Arbeit, die Du Dir gemacht hast. Aus welchen Werken hast Du diese Zitate? Die Angelegenheit wird für mich sehr spannend und ich würde da gerne tiefer einsteigen.

                  Besagter Thilemann ist das einzige Mitglied seiner Familie, das dieses "dictus" im Namen führt, wenngleich auch nicht durchgehend. Mich macht es eben stutzig, da er bei weitem nicht der erste Namensträger ist, sein (möglicherweise ursprünglicher Bei-)Name Boetel also bereits zuvor zum festen Familiennamen geworden zu sein scheint.

                  Viele Grüße
                  consanguineus
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                  Kommentar

                  • Anna Sara Weingart
                    Erfahrener Benutzer
                    • 23.10.2012
                    • 16683

                    #10
                    Ich würde mir nicht so viel Gedanken machen. Es war damals etwas relativ Neues, das die Menschen mehr als ihren Rufnamen trugen.
                    Damit der Leser auch wirklich wusste, was mit diesm "Boetel" gemeint ist, hat man es so betont.
                    "Boetel" hätte ja auch eine Berufsbezeichnung sein können, siehe --> https://drw-www.adw.uni-heidelberg.d...a&term=buettel
                    => Thilemann Boetel = "Thilemann, der Gerichtsbote"
                    => Thilemann dictus Boetel = "Thilemann, der Boetel heißt"


                    Meine Quelle zu obigen Zitaten ist google-Suche Bücher mit den Suchworten "dictus Familienname". Leider bekommt man meist nur "Snippet-Ansichten" mit unvollständigen Sätzen.
                    Zuletzt geändert von Anna Sara Weingart; 06.04.2019, 13:05.
                    Viele Grüße

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                    • consanguineus
                      Erfahrener Benutzer
                      • 15.05.2018
                      • 7250

                      #11
                      Vielen Dank, Anna Sara! Den Gerichtsboten/Fronboten/Grafendiener hat schon einmal jemand herausgearbeitet, der sich mit dieser Familie beschäftigt hat. Und das erscheint auch einigermaßen plausibel, da in der Frühzeit Namensträger in der Ministerialität vorkommen.

                      Für einige wenige Namensträger mag auch die Herkunft aus einem gleichnamigen Ort in der Lüneburger Heide zutreffen, da sie sich "de Botel" nennen. Aber das sind nicht viele. Möglicherweise stammen ALLE ursprünglich aus diesem Ort und ließen später den Zusatz weg. Man weiß es nicht. Die Existenz der Variante "dictus Boetel" spricht meiner Ansicht nach gegen die Theorie.

                      Prof. Udolph hat eine ganz andere Idee, die aber maximal abwegig klingt. Wenn ich mich recht erinnere, führt er den Namen darauf zurück, daß das Leibgericht früherer Familienmitglieder Schweinshaxe war. Aber gut: er ist der Experte...
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                      • Sandby
                        Erfahrener Benutzer
                        • 21.03.2018
                        • 158

                        #12
                        Hallo,


                        In meinem Nachbarort Homburg gab es im 14. Jhdrt. einen Dietrich VI. von Hohenberg (=Homburg), genannt buman (als Berufsbezeichnung).


                        Schönes Wochenende
                        Sandby

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                        • Anna Sara Weingart
                          Erfahrener Benutzer
                          • 23.10.2012
                          • 16683

                          #13
                          Hier mal ein paar weitere mögliche Ursprünge für FN Boetel:

                          1) Boetel = kleiner Junge [vielleicht im Sinne von "Sohn von" gebraucht]
                          2) Boetel = Hammel [vielleicht als Schimpfwort gebraucht]
                          3) böten = büßen [Bötel = der für etwas büßen musste?]
                          4) böten = Krankheiten besprechen durch Zauberspruch [Bötel = Besprecher von Krankheiten?]


                          Zu 4) muss ich sagen, dass ich selber einen Vorfahren habe, der von Beruf Besprecher von Krankheiten war, also ein "Zauberer". Jedenfalls haben seine kranken Kunden ihn dafür gehalten. Er kam wegen Hexerei-Verdachts in Kerker. Wurde aber nicht verbrannt, weil man ihn "nur" als Hochstapler betrachtete.
                          Angehängte Dateien
                          Zuletzt geändert von Anna Sara Weingart; 06.04.2019, 14:35.
                          Viele Grüße

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                          • fps
                            Erfahrener Benutzer
                            • 07.01.2010
                            • 2336

                            #14
                            Zitat von consanguineus Beitrag anzeigen
                            Für einige wenige Namensträger mag auch die Herkunft aus einem gleichnamigen Ort in der Lüneburger Heide zutreffen, da sie sich "de Botel" nennen.
                            Moin,
                            nun ja, da es sich nicht um ein französisch sprechendes Gebiet handelt, würde ich beim "de" nicht unbedingt auf eine Herkunftsbezeichnung schließen, sondern eher auf ein regionales "der", also: "der Bote".

                            Und was Experten angeht: Irren ist nun einmal menschlich.
                            Gruß, fps
                            Fahndung nach: Riphan, Rheinland (vor 1700); Scheer / Schier, Rheinland (vor 1750); Bartolain / Bertulin, Nickoleit (und Schreibvarianten), Kammerowski / Kamerowski, Atrott /Atroth, Obrikat - alle Ostpreußen, Region Gumbinnen

                            Kommentar

                            • consanguineus
                              Erfahrener Benutzer
                              • 15.05.2018
                              • 7250

                              #15
                              Zitat von fps Beitrag anzeigen
                              Moin,
                              nun ja, da es sich nicht um ein französisch sprechendes Gebiet handelt, würde ich beim "de" nicht unbedingt auf eine Herkunftsbezeichnung schließen, sondern eher auf ein regionales "der", also: "der Bote".

                              Moin,

                              das ist auch ganz bestimmt kein Französisch, sondern Latein...

                              Viele Grüße
                              consanguineus
                              Daten sortiert, formatiert und gespeichert!

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