Hallo allerseits,
zufällig stieß ich auf einen Text über die Berliner Einwohnermeldekartei im Kaiserreich: "
Wart Ihr schon einmal im Zimmer 361 auf dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz? Es ist eine der merkwürdigsten Stätten in dieser an eindrucksvollen Örtlichkeiten gewiß nicht armen Stadt. Hoch über den Dächern der Großstadt gelegen, befindet sich dieser Raum inmitten einer Flucht von Zimmern, in denen alphabetisch geordnet zehn Millionen Blätter aufgestapelt sind. Jedes Blatt bedeutet ein Menschenleben. Die noch leben, liegen in blauen, die Verstorbenen ruhen in weißen Pappkartons. Jedes Blatt enthält Namen, Geburtsort und Geburtstag von jeder Person, die seit dem Jahre 1836 in einem Berliner Hause eine Wohnung oder ein Zimmer innehatte. Alle Um- und Abmeldungen, jeder Wechsel der Wohnungen wird sorgsam verzeichnet. Es gibt Bogen, die dreißig Wohnungen und mehr enthalten, andere, auf denen nur eine steht; es sind Personen darunter, die ihre Berliner Laufbahn in einem Keller des Ostens begannen und im Tiergartenviertel endeten, und andere, die anfangs vorn im ersten Stock wohnten und im Hof vier Treppen ihre Tage beschlossen. Nach Zimmer 361 werden alle diejenigen verwiesen, die in Berlin jemanden suchen. Von morgens 8 bis abends 7 Uhr wandern Hunderte und Hunderte, im Jahre viele Tausende die hohen steinernen Treppen empor. Jede Auskunft kostet 25 Pfennig. Es kommen nicht nur solche, die Geld zu fordern haben, Leute, für die ein Mensch erst dann Wert bekommt, wenn er ihnen etwas schuldet, nein, so mancher klimmt hinauf, der aus fernen Landen heimgekehrt ist und nun nachforscht, ob und wo noch einer seiner Verwandten und Jugendgefährten lebt. Die ersten Jahre schrieben sie einander noch, dann schlief der Briefwechsel ein, und nun hat der Fremdling noch einmal die alte Heimat aufgesucht. Bangen Herzens schreibt er den Namen und die letzte ihm bekannte Wohnung seiner Mutter auf den Auskunftszettel – sie ist lange verstorben; er fragt nach Brüdern, Schwestern und Freunden, alles, alles dahin, und tief bekümmert wandert der Vereinsamte die schmalen Treppen wieder hinunter.
Wie viele erkundigen sich da oben vergebens, Eltern, die verlorene Söhne suchen, Schwestern, die nach ihren Brüdern fragen, und Mädchen, die nach dem Vater des Kindes forschen, dessen Zukunft in ihrem Schoße ruht. »Ist nicht gemeldet«, »unbekannt verzogen«, »ausgewandert«, »verstorben«, meldet der stets gleichmütige Beamte, wenn er nach einer halben Stunde wiederkehrt und die Wartenden aufruft, welche still, ernst und verzagt, nur selten frohen Mutes herabsteigen, um wieder unterzutauchen in das Häuser- und Menschenmeer des gewaltigen Berlin."
von Magnus Hirschfeld in "Berlins drittes Geschlecht"
zufällig stieß ich auf einen Text über die Berliner Einwohnermeldekartei im Kaiserreich: "
Wart Ihr schon einmal im Zimmer 361 auf dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz? Es ist eine der merkwürdigsten Stätten in dieser an eindrucksvollen Örtlichkeiten gewiß nicht armen Stadt. Hoch über den Dächern der Großstadt gelegen, befindet sich dieser Raum inmitten einer Flucht von Zimmern, in denen alphabetisch geordnet zehn Millionen Blätter aufgestapelt sind. Jedes Blatt bedeutet ein Menschenleben. Die noch leben, liegen in blauen, die Verstorbenen ruhen in weißen Pappkartons. Jedes Blatt enthält Namen, Geburtsort und Geburtstag von jeder Person, die seit dem Jahre 1836 in einem Berliner Hause eine Wohnung oder ein Zimmer innehatte. Alle Um- und Abmeldungen, jeder Wechsel der Wohnungen wird sorgsam verzeichnet. Es gibt Bogen, die dreißig Wohnungen und mehr enthalten, andere, auf denen nur eine steht; es sind Personen darunter, die ihre Berliner Laufbahn in einem Keller des Ostens begannen und im Tiergartenviertel endeten, und andere, die anfangs vorn im ersten Stock wohnten und im Hof vier Treppen ihre Tage beschlossen. Nach Zimmer 361 werden alle diejenigen verwiesen, die in Berlin jemanden suchen. Von morgens 8 bis abends 7 Uhr wandern Hunderte und Hunderte, im Jahre viele Tausende die hohen steinernen Treppen empor. Jede Auskunft kostet 25 Pfennig. Es kommen nicht nur solche, die Geld zu fordern haben, Leute, für die ein Mensch erst dann Wert bekommt, wenn er ihnen etwas schuldet, nein, so mancher klimmt hinauf, der aus fernen Landen heimgekehrt ist und nun nachforscht, ob und wo noch einer seiner Verwandten und Jugendgefährten lebt. Die ersten Jahre schrieben sie einander noch, dann schlief der Briefwechsel ein, und nun hat der Fremdling noch einmal die alte Heimat aufgesucht. Bangen Herzens schreibt er den Namen und die letzte ihm bekannte Wohnung seiner Mutter auf den Auskunftszettel – sie ist lange verstorben; er fragt nach Brüdern, Schwestern und Freunden, alles, alles dahin, und tief bekümmert wandert der Vereinsamte die schmalen Treppen wieder hinunter.
Wie viele erkundigen sich da oben vergebens, Eltern, die verlorene Söhne suchen, Schwestern, die nach ihren Brüdern fragen, und Mädchen, die nach dem Vater des Kindes forschen, dessen Zukunft in ihrem Schoße ruht. »Ist nicht gemeldet«, »unbekannt verzogen«, »ausgewandert«, »verstorben«, meldet der stets gleichmütige Beamte, wenn er nach einer halben Stunde wiederkehrt und die Wartenden aufruft, welche still, ernst und verzagt, nur selten frohen Mutes herabsteigen, um wieder unterzutauchen in das Häuser- und Menschenmeer des gewaltigen Berlin."
von Magnus Hirschfeld in "Berlins drittes Geschlecht"