Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1321

    #76
    Dokument 65: Riga, Donnerstag im April 1907:
    Liebe Florrie,
    wieder ist ein langer Brief von Dir gekommen, bevor ich Deinen letzten beantworten konnte. Ich dachte, daß Ihr noch alle in Eccles seid. Du hast mir niemals etwas über Bertie oder ihr Haus berichtet, obwohl ich dachte, daß Du es würdest. Ich habe jetzt nicht viel Zeit zu schreiben, weil ich so viel Näharbeit wie möglich fertig haben möchte, bevor ich krank werde. Ich habe jetzt nur noch sechs oder sieben Wochen bis dorthin und werde schnell müde. Wir hatten auch wieder schrecklich kalten Ostwind, der meine Erkältung und den Husten wieder aufleben lies, so daß ich wenig herauskomme. Auf dem Fluß und auf dem Kanal haben wir auch noch immer dickes Eis.
    Tante Frieda und Dachsa kamen zu Besuch und brachten Babs ein herrliches Schaukelpferd (und viele andere Sachen) mit. Ich habe noch nicht daran gedacht ihm einen Namen als "Doddin" zu geben, aber Dorothy liebt diesen Namen. Sie geht zu ihm und wünscht ihm "Guten Morgen" und "Gute Nacht", schüttelt seinen Fuß und küßt seine Nase.
    Frieda sagt, daß sie ihrem Alter entsprechend (zwischen 2 1/2 und 3) aussieht, aber wenn man sie, ohne sie zu sehen, sprechen hört, dann könnte man denken, daß ein fünf- oder sechsjähriges Kind spricht. Sie spricht klar und deutlich. Dr. Berg sagt, daß sie nicht zu früh zur Schule gehen soll, bevor sie 7 Jahre alt ist. Ich freue mich, daß sie sich mit Frieda angefreundet hat, obwohl sie die ersten Tage nicht mit ihr sprechen wollte.
    Wegen dem Fisch tut es mir sehr leid. Warum um Himmels Willen habt Ihr ihn nicht mit Butter vermischt und aus ihm Anchovis-Paste gemacht, oder einen oder zwei als Gewürz dazu gelegt? Ich habe doch geschrieben, daß sie sich (geöffnet) monatelang halten. Ich hoffe, daß Ihr der armen Katze nach diesem salzigen Mahl genug zu trinken gegeben habt. Ich denke, daß Ihr sie wie Sardinen essen wolltet, aber man darf nur ein Anchovis auf ein hart gekochtes Ei legen und eine Scheibe Brot mit Butter dazu essen. Dann sind sie wirklich köstlich! Sie sind auch nicht gekocht. Es ist nicht schlimm, wenn Ihr die verschiedenen Dinge nicht kennt. Hier kann man fast alles bekommen (, wenn man dafür bezahlen kann). Ich habe wirklich heute morgen echten englischen Räucherlachs gefunden. Ich gab vor, ihn nicht zu kennen und fragte, was das sei. Die Marktfrau konnte mir alles genau erzählen, auch wie man ihn zubereiten muß. Ich hoffe, eines Tages echten "Melton Mombray pork pie" (dann würde ich mich wirklich freuen!) zu finden. Letztes Jahr hatten sie hier "Crosse & Blackwell´s plum puddings" zu verkaufen. Ich habe "The World and his Wife" sehr gern und kann es immer ansehen, ohne daß es mir langweilig wird. Viele der Magazine verschwenden so viel Platz mit Berichten über Gesellschaft, Menschen usw. usw., die ich nie lese. Mrs. Whittle aber liebt das sehr und hat "The Lady´s Realm". "The W & his W" hat auch ein gutes Format und bleibt leicht aufgeschlagen. Ich schaue auch jeden Tag nach den G.O.P.s, weiß aber, daß es beschwerlich ist, sie regelmäßig zu schicken. Du bist solch ein hervorragender Korrespondent, daß Du regelmäßig Vater beschämst und ihn schrecklich faul werden läßt. Ich habe seit über einem Jahr keinen "Brief" von ihm bekommen, außer diesen gelegentlichen halben Blättern. Ich nehme an, daß er niemals hört, wie die Bewohner von Salford ihren Bürgermeister mögen. Das frage ich mich oft! Bitte Vater, daß er 5/-, oder was es kostet, für das Buch "The Garden of a Soul", das vor etwa drei Monaten herausgekommen ist, besorgt. Vielleicht kann er es bekommen, wenn er einmal bei Heywood oder wo anders ist, wo sie es mit Rabatt verkaufen. Es kostet 6/- und wurde von einer amerikanischen Autorin von "Lovely "Heary" oder anderen Büchern geschrieben, die diese neuen englischen Geschichten schreibt. Ich kann mich jetzt nicht an ihren Namen erinnern, aber er wird ihn kennen. Ich würde es gerne haben, wenn es mir wieder besser geht, da es hier eine schwere Zeit wird, wenn man flach liegt und nichts nähen kann. Es ist dann auch schlimm, wenn ich liegen muß und nichts zu lesen habe. Ich mache mir Gedanken, beunruhige mich und werde nervös, wenn ich nicht mehr schlafen kann. Heute habe ich keinen Mittagsschlaf halten können, weil Babs wie üblich nicht schlafen wollte. Normalerweise schläft sie etwa eine Stunde und wacht steht schon um 6.30Uhr auf. Ich mußte schnell aus dem Büro herausgehen, weil ein Fräulein hereingekommen ist. Da kann man sehen, wie wenig Platz wir hier haben und wie mein Papier dadurch durcheinanderkommt. Sag Mutter, daß ich mich über einen Brief von ihr freuen würde, wenn sie einmal Zeit dafür hat. Was habt ihr alle zu Ostern gemacht? Ich habe dieses Jahr ganz vergessen, Karten zu verschicken, da dieses Jahr das Ostern außerhalb schon lange vor unserem gewesen ist. Unseres ist erst in einem Monat und wir denken noch nicht einmal daran. Letztes Jahr waren beide auf einmal. Ich würde auch gerne bei der Konfirmation dabei sein. Hat sich James schon an den Gedanken gewöhnt?
    Ich habe noch viel zu berichten, aber keine Zeit mehr. Also auf Wiedersehen und liebe Grüße an alle. Deine liebe Tante Lily- Die Bescheinigung liegt bei.
    P.S. Ich habe vergessen zu erzählen, daß Onkel Rudolf so ein wunderbaren Bücherschrank aus Eiche nach eigenen Plänen mit geschliffenen Kanten, Glastüren und darüber einen offenes Brett zur Dekoration gemacht hat. Jetzt habe ich den alten Bücherschrank (auch aus Eiche) als Wäscheschrank.
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1321

      #77
      Dokument 66 Riga, Sonntag im Mai 1907:
      Lieber Arthur,
      Dein Brief mit dem Scheck ist zur Mittagszeit angekommen. Vielen Dank für beides, besonders aber für den Brief. Es ist schon Ewigkeiten her, seitdem Du Zeit hattest, mir zu schreiben. Es stimmt, daß 6/- große Verschwendung für Romane sind. Wenn ich in England wäre, könnte ich mir selbst meine 6 Pence Bücher suchen. Ich würde nicht davon träumen, soviel auszugeben (Ich würde auch nicht träumen soviel für Mrs. H. Ward auszugeben, wenn ich auch nicht denke, daß es zuerst für sie ist). Ich dachte zuerst daran, daß ich es haben wollte, besonders deshalb, weil der Guardian schrieb, daß es ein sehr ausführliches Buch sei. Ich liebe doch diese Geschichten aus Neu England so sehr. Holzarbeiten sind hier nicht sehr gut. Sie betreiben keinen großen Aufwand beim hobeln und schleifen usw. Sie belassen das Holz so dick und klobig wie möglich, so daß an der einen Stelle das Holz zwei oder dreimal so stark ist. Die Schubladen und Schränke usw. halten aber sehr wenig aus. Sie sind oft sehr schön geschnitzt und mit Verzierungen versehen, aber die Teile sind aufgeleimt. Griffe, Schlösser und andere Metallarbeiten sind sehr gewöhnlich gemacht. Aber dieser Mann ist eine Ausnahme und arbeitet wunderbar. Er ist nur ein Arbeiter und macht diese zusätzlichen Sachen in seiner Freizeit. Verglichen mit unserem Sideboard und unserer Garderobe sieht unser Bücherschrank wie ein Rennpferd neben einem Zugpferd aus. Ich würde am liebsten alles neu möblieren lassen, außer dem Schlafzimmer. Das gefällt mir sehr, da wir den schönsten Waschtisch mit einem Marmoraufsatz und in der gleichen Art so zwei Nachttische haben. Unsere Betten (ebenfalls aus Eiche) versetzen jeden Engländer in Erstaunen und jeden Deutschen, die sie zu sehen bekommen, in Entsetzen. Die einen fragen uns immer, ob wir diese wunderbaren, komfortablen Betten hier bekommen haben. Die anderen meinen: "Was für scheußliche große Betten, die so viel Platz verschlingen! Warum habt Ihr sie so breit machen lassen?" Ein deutsches Bett muß eng und hart und nicht so komfortabel wie eine Koje sein, in der man sich kaum umzudrehen wagt.
      Jetzt ist es 10Uhr abends. Ich habe diesen Brief am Nachmittag angefangen, habe ihn aber liegen lassen, weil ich ausging. Wir fuhren mit zwei Straßenbahnen so weit es ging und gingen entlang der Petersburger Chaussee spazieren und fuhren dann wieder nach Hause. Bis jetzt gibt es noch keine Anzeichen dafür, daß der Frühling kommt. Das Eis ist endlich auf dem Fluß aufgebrochen und strömt in großen Massen vorbei. Einige Dampfer haben es schon geschafft hereinzukommen. Wir hoffen, daß bald bessere Tage kommen werden. Babs hat sich so gefreut, heute den ersten Fuß auf etwas Gras stellen zu können (Für die Kinder in der Stadt ist es schwer, weil sie es in den Anlagen und im Schützen Garten nur ansehen dürfen) und war sehr aufgeregt. Frieda ist noch immer hier, aber leider muß sie am Dienstag wieder fahren. Wenn sie doch nur noch bleiben könnte! Ich werde sie vermissen und Baby auch, weil sie und "Tantie Frieda" große Freundinnen geworden sind, obwohl es zwei Wochen gedauert hatte, bis es so weit war. Ich fürchte, daß es wieder genau so anfangen wird, wenn Tante Frieda wieder kommt. Ich möchte doch noch ein Photo von ihr haben, denke aber, daß wir schon so lange gewartet haben und noch etwas warten können, bis wir ein Familienbild machen können, weil auch Rudolf wünscht, daß ein Bild mit mir zusammen aufgenommen wird. Sie hat sich jetzt von einer Erkältung erholt und sieht sehr gut aus. Sie hat solch eine Freude, weil alles sehen kann und jedes neue Wort,das sie hört, in sich aufnimmt. Ich befürchte nur, daß sie, wenn wir nicht zu sehr aufpassen, frühreif wird, auch wenn sie jetzt noch sehr kindisch ist. Mr. Smith aus Sassenhof, auf der anderen Flußseite, kam am Montag und brachte ihre zwei Jungen Viktor (4 1/2) und Bertie, der 5 oder 6 Wochen jünger als Dorothy ist, mit und die drei hatten zusammen eine schöne Zeit. Es ist wirklich schlecht, daß sie so wenig andere Kinder trifft, aber wir kennen so wenige andere (da wir nur wenige Bekannte haben), außer Edith Schultz, die so grob ist und Baby Angst macht. Ist es Olive und James nicht langweilig. Du hast nichts darüber berichtet, wie sie ihre Arbeit finden, obwohl es mich interessiert.
      Das mit Ted ist zu schlimm, aber ich denke, daß er sich nicht mehr verändern kann, weil er schon zu alt ist. Ich wundere mich, daß er die Frechheit besessen hat, Dich um Geld zu bitten. Alf meinte in seinem letzten Brief, daß er sich auch wieder an ihn gewandt hat. Hast Du seine Frau wieder gesehen? Ich dachte eigentlich, daß er jetzt vielleicht versuchen würde, ein neues Kapitel anzufangen und sich zu ändern, aber es scheint mit ihm doch hoffnungslos zu sein und ich bin sicher, daß er es besser machen würde, wenn er es versuchen würde.
      Mrs. Drapper ist jetzt in Jersey und geht nächsten Monat nach Frankreich in ein Kloster, um sich in aller Stille auf den Sommer vorzubereiten, da sie den nächsten Winter an der Riviera verbringen will. Sie lobt den Winter im Norden - aber es ist schon lustig, Jersey als "nördlich" zu bezeichnen - Ich frage mich, was sie zur Dunkelheit von Riga sagen würde. Sie hatte eine nette Abwechslung als Anstandsdame bei einem Mädchen einer amerikanischen Gesellschaft, die sie bei einer zehntägigen Reise nach Paris begleitete. Sie traf auch Sara Bernhardt und ihr ging es überhaupt ausgezeichnet. Jetzt geht sie zur Christian Science. Weißt Du etwas darüber? Ist es das Gleiche wie Gesundbeten? Sie hat mir "Other People´s Children" und eine Detektiv-Geschichte geschickt, die ich lesen werde, wenn ich krank bin! Das ist von ihr sehr nett und ich bin für die Literatur auch dankbar. Sie sollte aber wissen, daß ich es zum ersten Mal gelesen habe, als ich 12 Jahre alt war, so wie jeder andere auch und es schade ist, dafür das Porto zu verschwenden. Aber das kann ich jetzt nicht mehr ändern.
      Es ist fast 11Uhr abends und ich muß jetzt aufhören. Viele liebe Grüße an Jennie und alle anderen. Ich hoffe, daß Ihr Vera jetzt wieder zu ihrer alten Stärke aufgepäppelt habt.
      Deine liebe Schwester Lily.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • Frank K.
        Erfahrener Benutzer
        • 22.11.2009
        • 1321

        #78
        Dokument 67: Riga, Gr. König St. 21, P.O.Box 257, Sonntag im Juli 1907:
        Lieber Arthur,
        Ich weiß nicht, ob ich Dir, Jennie oder Florrie schreiben soll. Ich schulde Florrie eine Antwort für ihren langen Brief in der Zeitschrift, aber es muß für Euch drei reichen. Nächstes Mal schreibe ich wieder an Florrie. Du hast mir einen Schrecken eingejagt, weil Du den Brief an Rudolf andressiert hast und ich dachte, daß jemand gestorben sei und Du wolltest, daß er es mir erzählt.
        Frieda, Rudolf und die Babies schlafen und ich bin so eine unruhige Person und schaffe es nicht. Ich bin zwar müde genug, aber der Junge hat noch nicht gelernt, die Nacht durchzuschlafen, ohne daß er gefüttert werden muß. Am Tag ist er gut und schläft normalerweise von einer Mahlzeit zur anderen. Das ist in der Hitze auch gut. In unserem kühlsten Raum haben wir hier 72° Fahrenheit. Es ist herrliches Wetter, bei dem man in einem Garten herum faulenzen kann, wenn man einen hat. Aber es ist furchtbar, wenn man alles nur ansehen kann und sich um die Kinder kümmern muß.
        Jennie würde den Jungen bewundern - Johann Heinrich (oder wie Mrs. Whittle es in Lancashire bemerkte "our John ´Ennery"). Er ist so lieb, besonders im Bad, wo er planscht, mit den Füßen strampelt und sich streckt, so daß ich es manchmal schwer habe, ihn zu halten. Ich bin von Babies nicht sehr begeistert und werde froh sein, wenn er drei oder vier Jahre alt ist. Babs wird jeden Tag schöner und es geht ihr so gut, daß sie groß und fett wird, nur macht es mir sorgen, daß es mit ihr zu schnell geht. Wenn sie ein Wort einmal hört, oder halb hört, wie es Rudolf sagt, dann kennt sie es und benutzt es. Wir zogen uns an und fuhren am Freitag zum Photographen. Als wir dort ankamen, stellten wir fest, daß wir zu spät dran waren, weil er um 6 Uhr sein Geschäft schließt. Ich war sehr enttäuscht. So wie es scheint, hast Du eine schöne Rundreise gehabt. Ich denke, James und Olive würde es besser gefallen, als die übliche Seereise. Der Junge wachte auf und verlangte nach seiner Flasche. Jetzt muß ich mich beeilen, sonst weckt er noch das ganze Haus und die Nachbarn auf, weil er sehr starke Lungen hat und sie ausnutzt, wenn man sich nicht sofort um ihn kümmert.
        Es ist jetzt 8.30Uhr und ich schreibe in der Küche (Katta ist ausgegangen und es ist hier hell). Im Büro ist ein Jude. Ihre größte Freude ist es am Sonntag zu kommen und müde Leute zu stören. Wir waren auf der anderen Flußseite im Park von Thorensberg und ließen Katta zurück, damit sie sich um den Jungen kümmert. Jetzt sind beide Babies gefüttert und weggelegt. Wir haben auch schon Abendbrot gegessen und haben jetzt etwas Ruhe. Ich denke, daß Du mich für leichtsinnig hältst, aber ich möchte gerne, daß Du mir lieber gute Geschichten schickst (wo man viel lesen kann), als etwas anderes, bis Du mir eine günstige Ausgabe von "The Breakfast Table Series" von O.W. Holmes schicken kannst. Vater gab sie mir alle zusammen gebunden für 1/6 und es tut mir leid, daß ich sie zurückgelassen habe. Ich weiß nicht, wie es war, aber ich war sehr in Eile. Wir haben uns überlegt, an den Strand zu gehen, aber haben dort noch keine Villa gefunden. Ich würde nicht davon träumen, wenn wir nur einen kleinen Garten hätten, in den die Kinder gehen können. Für den Jungen ist es so schlecht, die ganze Zeit in der Hitze zu sein, wo man seine Kinder hier nicht herausbringen kann. Mit einem Mädchen hat man die Zeit nicht. Wenn es möglich ist, werde ich es ohne Amme schaffen. Weil ich schon zu viel davon gesehen habe, wie sie die Kinder behandeln, wenn die Mütter nicht da sind. Es wäre für sie besser, so lange zu warten, bis sie groß genug für ein besser ausgebildetes Kindermädchen oder "Bonne", wie man sie hier nennt, sind.
        Wir denken, daß es uns in ein paar Jahren so gut gehen wird, daß wir ein eigenes Haus und einen eigenen Garten haben werden. Dann erst wird es schön sein. Es ist so lästig, wenn man sich immer anziehen muß, um auszugehen, besonders bei dieser Hitze. Ich gehe nicht oft aus, außer zum Markt, da Frieda ausgezeichnet ist und mit Babs herausgeht. Sie versklavt sich wirklich und Babs ist ganz verrückt nach ihr. Ich habe den Markt, auch wenn es auf ihm grob zugeht, sehr gerne, weil er so voll von Leben ist.
        Ich habe das, was ich über die Bücher angefangen habe, nicht beendet, weil Frieda hereingekommen ist und wir uns zu unterhalten anfingen, so daß ich es vergessen habe. Du weißt, daß ich nur lese, wenn ich liege, um nach dem Mittagessen, dem Abendessen und wenn ich so müde oder faul bin, auszuruhen, weil die Kinder so ermüden. Das muß auch Jennie genau wissen. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, daß wir jetzt zwei Kinder haben und fühle mich auch nicht anders als vorher.
        Danke, daß Du den Brief an Sallie weitergeschickt hast. Sie hat mir auch wieder einen langen Brief geschickt. Bald ist Edies Hochzeit. Ich nehme an, daß sie ihre Schwester und ihren Onkel als Trauzeugen nehmen wird.
        Es hat mir so leid getan, von Geoffrey Kay zu hören, weil ich immer dachte, daß er als Kind geistig schwach war und war überrascht, als Du schriebst und ihn so lobtest. Ich hoffe, daß Willie gesund wird. Ich hätte es mir gewünscht, wenn Nellie Stanley Collinson genommen hätte. Er war so ein netter Geselle.
        Es ist jetzt zu dunkel, um noch mehr zu sehen. Also auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an Euch alle. Deine Lily.
        Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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        • Frank K.
          Erfahrener Benutzer
          • 22.11.2009
          • 1321

          #79
          Dokument 68 /1 : Riga, Gr. König St. 21, Sonntag Ende Juli oder Anfang August 1907
          Ich habe Deinen Brief heute nachmittag bekommen. Wir sitzen in den Anlagen in der Nähe und das neue Baby ist auch dabei. Rudolf brachte den Brief von der Post mit und wir lesen ihn jetzt. Es war so schön, so schnell zu schreiben, da niemand weiß, wann ich wieder von Alf hören werde. Er ist solch ein furchtbarer Schreibpartner. Bertie schickte mir von ihrer Hochzeitsreise eine Ansichtskarte und seitdem nichts mehr. Ich hoffe, daß Du Deine alte Tante nicht auch so behandeln wirst, wenn Du heiratest. Es freut mich, daß Dir das Geschenk für Edie auch gefallen hat. Wir schickten ihr das Geld, damit sie sich kaufen konnte, was ihr gefällt, wie es Bertie dann gemacht hat. Es freut mich, daß Du das Bild bekommen hast, daß Deine Großmutter gemacht hat. Ich habe es auch gern gehabt und in meinem Schlafzimmer hängen gehabt. Ich habe das Tuch, das sie gestickt hat, als sie ein kleines Mädchen war. Wenn wir ein eigenes Haus haben werden, hoffe ich, daß es für Dorothy gerahmt wird. Wir werden schließlich doch nicht umziehen und ich bin froh, weil unsere Wohnung so sonnig, hell und sauber ist. Unsere Tapeten sind auch so schön. Wir haben eine nette Wohnung in einer besseren Nachbarschaft, die allerdings zwei Stockwerke hoch liegt, aber wenig Licht bekommt und scheußliche Tapeten hat. Die Küche ist auch sehr schmutzig und der Vermieter will auch nur in einem Zimmer neu tapezieren. Eigentlich wollten wir die Wohnung nehmen. Aber Rudolf, Frieda und ich gingen noch einmal in die Wohnung zu einer letzten Besichtigung, bevor wir uns entschieden. Als wir zurückkamen, fanden wir unsere Wohnung so sauber und "heimelig", daß wir doch besser bleiben werden, besonders deshalb, weil man die Möbel so viele Treppenstufen in Teilen herunter- und herauftragen müßte. Unser Vermieter ist auch scheußlich. Der Regen kommt in solchen Mengen durch das Dach in unser Schlafzimmer, daß wir in einer Nacht unsere Galoschen anziehen und zum Bett paddeln mußten. Man hat hier immer Galoschen in der Nähe und die echten Russen tragen Galoschen und Pelze sogar noch im Juli! Im Winter ist es zugig, aber ich hoffe, daß wir nicht noch einmal einen solchen Winter wie den letzten haben werden. Aber es werden schlimmstenfalls fünf Monate sein, in denen das Junge nicht heraus kann. Es geht ihm jetzt gut und wir geben ihm jetzt seit einer Woche "Nestles " Nahrung, die ihm Ia zu bekommen scheint. Babs ist auch sehr lustig. Du erinnerst Dich doch daran, daß die kleine Marquise bei Dickens immer so machte, die mit einer Orangenschale zu spielen vorgab. Babs kann es ohne irgend etwas. Sie bringt eine Tasse Tee und alle verschiedenen Sachen, ohne daß sie diese hat und macht so, als würde sie den Tee eingießen usw. Heute spielte sie, daß sie einen kleinen Hund im Park mit hatte, setzte ihn auf ihr Knie und ich durfte ihn streicheln.
          Montag: Ich schreibe jetzt fertig, nachdem der Junge aufgewacht ist und ich ihn gefüttert habe. Eben ist die Zeitschrift gekommen - Liest Du sie eigentlich nie? Es ist solch eine schöne Zeitschrift. Ich dachte eigentlich, daß die Kinder sich über den "Playboy" freuen würden, der jetzt jeden Monat kommt und so aussieht, als hätte ihn niemand geöffnet. Danke Vater für die letzten beiden Bücher und sage ihm, daß es noch zwei von der "Daily Mail" gibt, falls das Geld noch nicht verbraucht ist. Ich möchte gerne "A 9 Days Wonder" von B.M. Crocker. Ich mag diese altertümlich geschrieben Bücher, wie die von Stanley Weyman nicht. Ich denke, daß sie gerade richtig für Jungen sind. Ich bin jetzt auch in die Zeitung gekommen (auf deutsch!). Ich schrieb es auf englisch und Rudolf übersetzte es für mich ins Deutsche und schickte es an die Zeitung. Es war ein Leserbrief, der damit beginnt, daß etwas für die armen Pferde hier getan werden müsse. In der ganzen Stadt gibt es für die Pferde nicht eine einzige Tränke. Kannst Du Dir so etwas überhaupt vorstellen! Ich hoffe, daß es etwas bewirken wird, obwohl bis jetzt erst eine Antwort kam, die von der Sekretärin des Tierschutzvereins war, die in einem weiteren Leserbrief antwortete und schrieb, daß es viel kosten würde, wenn jeder Fuhrmann einen Eimer dabei hat! Rudolf sagt, daß sie am besten den ganzen Stall auf einmal mitnehmen sollten. Heute morgen gingen Frieda, ich, Babs und Harry in Wöhrmanns Park. Es ist so ein schöner Park und nur fünf Minuten zu Fuß von uns entfernt. Am Nachmittag nahm ich Babs nach Sassenhof zu Mrs. Schultz mit, während Frieda den Jungen hütete.
          Letzte Woche hatten wir auch Besuch. Rudolfs verheiratete Schwester kam mit ihrem Mann, zwei großen Jungen und einem kleinen Mädchen auf ihrem Weg nach Finnland zum Sommerurlaub durch Riga und verbrachten hier einen Tag bei uns. Sei brachten Babs wunderschön gemachtes Spielzeug mit. Ein Holzhaus mit zwei Zimmern und einem Dachboden. Unten sind zwei schöne Schweine, ein Schaf und eine Ziege und oben ein Hahn und zwei Hennen. Ihre größte Freude ist jetzt, im Sand zu graben - wenn sie dazu Gelegenheit hat - das arme Ding! Wir waren schon vier- oder fünfmal auf der Jagd nach einer Villa, aber konnten noch keine bekommen. Der ganze Strand scheint dieses Jahr besetzt zu sein.
          Mir geht es auch schon wie Dir. Als ich meinen letzten Brief abgeschickt hatte, fielen mir noch so viele Dinge ein, die ich schreiben wollte, aber jetzt ist es auch wieder so weit, daß ich aufhören muß. Was macht eigentlich Onkel Ted? Hast Du jemals Deine neue Tante gesehen? Kannst Du eigentlich Mutter nie dazu überreden, daß sie Dich zu einem Besuch herkommen läßt? Du hast mir auch nie davon berichtet, was Du, Mutter und Bertie zur Hochzeit getragen habt. Nun aber auf Wiedersehen und liebe Grüße an Euch alle und liebe Grüße von Onkel Rudolf. Deine Dich immer liebende Tante Lily.
          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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          • Frank K.
            Erfahrener Benutzer
            • 22.11.2009
            • 1321

            #80
            Dokument 68 / 2 : Edinburg II, 04.09.1907

            Liebe Florrie,
            entschuldige den Bleistift, aber wir sind hier am Strand und ich habe keine geeignete Füllfeder und kann mir hier erst wieder einen kaufen, wenn die Saison vorüber ist, weil jetzt alle unwichtigen Geschäfte geschlossen sind. Rudolf brachte mir gestern Deinen langen Wilkommensbrief mit heraus. Ich habe heute Abend etwas Zeit nach dem Abendessen, um den Brief anzufangen. Ich wünschte, daß Mutter Dich herüberkommen lassen würde. Man kann die Gegend hier nicht Rußland nennen, weil hier alles deutsch ist und die Leute, die weggehen, davon sprechen, "nach Rußland" zu gehen. Wir könnten für Dich sorgen und Du würdest auch keinen fremden jungen Mann als Liebling kennenlernen, da wir keinen kennen. Ich erwarte, daß das Mutters eigentliche Befürchtung ist, aber berichte ihr von meinem Urteil und meinen Erfahrungen, daß sie gute Ehemänner sind. Wir wären glücklich, wenn Du kommen könntest, auch wenn Du weißt, daß wir ein sehr ruhiges Leben führen und nichts als Babies den ganzen Tag von Morgen bis Abend um uns herum haben, jeden Tag spazieren gehen und alle zwei Wochen eine Einladung bei Mrs. Whittle, Mrs. Schultz oder Mrs. Ball haben. Unser ganzes Leben ist nur Heiterkeit. Solange die Babies aufwachsen, können wir sie nicht verlassen. Du würdest alles fremd und neu finden, und würdest es auch nur einige Wochen oder Monate lang lieben.
            Donnerstag: Vergangene Nacht bin ich doch nicht weiter gekommen, da ich ins Bett gehen mußte. Ins Bett zu gehen ist hier, seitdem dieser junge Kerl angekommen ist ein sinnloses Geschäft, da er nicht lernen kann, die ganze Nacht durchzuschlafen. Ich hoffe, daß er es bald lernen wird, da er jetzt zwei Menschen beschäftigt. Es geht ihm wirklich gut, aber er ist die ganze Zeit hungrig. Wir sind beim Photographen gewesen und Du wirst bald ein Familienaufnahme bekommen, auf der Harry aber noch nicht mit drauf ist, weil es keinen Sinn macht, ihn jetzt mit aufzunehmen, da alle Babies gleich aussehen. Es hat die ganze Nacht hindurch heftig geregnet und ist viel kühler geworden. Ich habe für Babs ein pfauenblaues Flanellkleid für den Winter gemacht. Der Kragen ist mit Grätenmuster und die Ärmel und Säume sind weiß mit Laschen, um einen braunen Gürtel durch zu ziehen. Sie ist furchtbar stolz und liebt auch die Socken, von denen sie sagt, daß sie "wie die von Mammie" sind. Man kann über sie lachen. Alles, was wir mit dem Baby machen, macht sie bei ihrer Puppe und bevormundet jeden. Frieda sagt, daß sie besser befehlen kann, als ich.
            Unser Garten liegt an einem Nadelwald mit Pilzen und es wachsen allerlei Sachen darin. Er würde Dir auch gefallen. Wir sind hier so nah am Bahnhof, daß wir den Bahnsteig sehen können.
            Die Villa wurde für den ganzen Sommer an "millionenschwere" Moskauer für 550 Rubel vermietet. Es ist schon lustig, für drei Monate £55 zu zahlen und all die Kochsachen, Bettücher und Kissen mitzunehmen. Wir haben sie dann bis Ende September für 50 Rubel gemietet. Ab 1. Oktober hat sie dann ein Gentleman für den ganzen Winter für 120 Rubel gemietet, so daß der Besitzer, ein Tuchhändler aus Riga, dieses Jahr zufrieden sein kann. Er hat die Villa gebaut und zahlt der Krone 100 Rubel im Jahr für das Land. Die Villa ist so gut eingerichtet (welch Wunder!), daß man sich vorkommt, wie wenn man in einem Möbelgeschäft wohnt. Normalerweise sind nur die notwendigsten Dinge in diesen kleinen Strandvillen und das gefällt mir dann auch mehr. Es ist wie eine Abwechslung vom Stadtleben. Wir haben eine herrliche massiv bronzene Lampe, von der er sagte, daß sie 75 Rubel kosten sollte. Da sie etwas altmodisch ist, bekam er sie für 15 Rubel. Er bekommt solche Sachen, weil er überall herumkommt. Solche Gelegenheiten bekommen wir nie. Solch eine Sache kann niemals zu altmodisch aussehen, wenn sie so schön ist.
            Gestern war mein Geburtstag und Frieda schenkte mir eine herrliche Pflanze und eine Glasschale für Marmelade mit einem Geburtstagskringel (wir essen ihn zum Kaffee. Er ist so groß, daß er drei oder vier Tage reicht) darin. Sie hat meinen Stuhl mit einer Girlande geschmückt, so daß ich einen richtigen deutschen Geburtstag feiern konnte.
            Wenn Mutter Dich kommen lassen würde, könntest Du dich daran freuen, das andere Leben hier zu sehen. Es unterscheidet sich bei weitem vom englischen Leben und beides ist gleich gemütlich. Es gibt nichts gemütliches und heimeliges, woran ich denke. Im Eßzimmer liegt ein Wachstuch auf dem Tisch. Die Stühle sind aus flachem Rohr oder aus Holz und werden nur zum Essen verwendet, da man einen Saal als Suite hat, wovon man nur träumen kann, weil alles so großzügig eingerichtet ist. Unser Haus ist nicht derart eingerichtet und wir benutzen das Eßzimmer auch als Wohnzimmer. Ich habe über dem Wachstuch noch eine Tischdecke. Unsere einfachen Stühle überraschen unsere wenigen Besucher, obwohl doch unser Saal sehr eng ist. Diesen Winter wird es das Kinderzimmer, weil das kleine Zimmer, das wir jetzt dafür verwenden, von den anderen Zimmern durch einen kalten Korridor getrennt liegt.
            Babs schreibt eifrig und sagt, daß sie auch an Dich schreibt!
            Eigentlich wollte ich Dir noch etwas anderes berichten, aber ich kann mich nicht konzentrieren, da Babs die ganze Zeit schwätzt, der Junge nicht schlafen will und ich deshalb nicht zu meiner kleinen Mittagsruhe kommen kann. Gestern war es genauso, weil ich die Gelegenheit nutzen mußte, einkaufen zu gehen, solange die Kinder schliefen. Ich habe einen Haufen zu nähen, aber habe keine Zeit dafür. Das Strümpfe Stopfen nimmt so viel Zeit in Anspruch, daß ich meine freie Zeit nur dafür verwenden kann. Grüße Vater und Mutter und alle die anderen von mir. Deine liebe Tante Lily.
            P.S. Die Bücher sind angekommen - vielen Dank
            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1321

              #81
              Dokument 69: Riga 1.10.1907 (alter Stil)
              Lieber Arthur,
              heute Abend sind wir von unserem sechs Wochen langen Urlaub wieder in die Stadt zurückgekehrt und haben gerade Deinen Brief bekommen. Sobald ich einen Umschlag bekomme, der etwas aushält, werde ich Dir das Photo schicken, da ich befürchte, daß Ihr es sonst nicht bekommen werdet. Es freut mich, daß Dir Babs gefällt. Sie ist sehr lieb und klug. Als wir zurückkamen, zeigte sie auf die Post, rannte dann weiter und hielt an unserem Haus an. Es ist doch komisch nach sechs Wochen Abwesenheit.
              Es tut uns allen Leid zurückzukommen, außer Rudolf, der sich freut. Der Ärmste hatte eine schwere Zeit, weil er immer zurückfahren mußte und dann alleine mit nur einer Sekretärin war. Er hat oft keine Zeit, um Essen zu gehen. Aber die Freiheit, die frische Luft und der Garten sind solch eine Wohltat und ein Gottesgeschenk für die Kinder. Harry sieht schon ganz anders aus, hat etwas Farbe bekommen und ist dick und groß. Er ruft und strampelt nicht wie ein vier Monate alter, sondern wie ein 18 Monate alter Junge und hebt seinen Kopf und Rücken, um sich irgendwie aufzurichten. Wenn er Fremde sieht, lacht er niemals, sondern sucht jemand, der ihn tröstet und fängt dann sehr komisch an herum zu schimpfen. Ich befürchte nur, daß er mager werden wird. Jetzt sind wir wieder zurück in der Stadt und unsere Gegend kann mit der Bridge St. oder Baily St. in Manchester (nur etwas dreckiger) verglichen werden.
              Wir hatten einige Hühner und Enten und aßen sie zuletzt zu Mittag auf, da es hier unmöglich ist, sie zu halten. Und hier kann man auch keine richtig gefütterten bekommen, außer man zahlt dafür viel. Frisch gelegte Eier sind eine Wonne für kranke Augen, weil es hier viele gibt, die ihre Eier "frisch" nennen.
              Das Land ist für uns eine richtige Wohltat, aber es ist für uns schlimm hinzugehen und sich dort zu freuen, wenn Rudolf es so schwer hat. Dieses Jahr war es nur kurz, um den Kindern mehr Kraft für den schrecklich langen Winter zu geben.
              Ich bin vom auspacken schrecklich müde und werde in der Nacht wegen der Kinder auch nicht viel Ruhe bekommen, da sie nicht gut schlafen und Babs noch vom nach Hause kommen aufgeregt ist. Frieda nimmt fast nur den Jungen. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde. Sie will den Winter bei uns bleiben. Dascha war etwa zwei Wochen bei uns und brachte ihr ihre Wintersachen mit. Sie ist so von Kindern begeistert, daß es schade ist, daß sie nicht verheiratet ist. Sie ist älter als Rudolf und die älteste von den Geschwistern, ist groß und schlank und trägt einen Kneifer, so daß sie sehr gebildet aussieht. Gestern hatten wir Besuch zu Mittag und zum Kaffee: einen Herrn Müller und seine Gefährtin. Sie wollen bald heiraten und er scheint sehr verliebt zu sein. Er ist ein nett aussehender, geschwätziger, kleiner Jüngling. Ich denke nicht, daß das Mädchen schon über 20 ist (wenn sie schon so alt ist), obwohl diese Mädchen in Riga älter scheinen, aber sie ist sehr selbstsicher. Ich sehe gerne Verliebte und finde es schön, weil ich solche Sympathie für sie empfinde und ich weiß, wie schön es ist. Rudolf hat mir einen schönen Opal, einen Diamantring und eine kleine Amethyst Brosche zum Geburtstag geschenkt. Habe ich es Dir schon erzählt?
              Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jennie Maschinen liebt. Nach alledem werde ich nicht mehr glauben, daß sie Angst vor Dampfschiffen hat und erwarte daher, daß Ihr einmal herkommt. Berichtet mir doch über die Expedition. Ich habe davon noch nichts gehört.
              Ich bin einmal mit Rudolf um den Hyde Park gefahren, als wir gerade geheiratet hatten (der Mann dachte, daß wir den Motorwagen kaufen wollten, weil wir so oft anhielten, alles ansahen und eine Lustfahrt machten. Er war sehr luxuriös). Ich hasse aber diese Dinge. Solange es Pferde (oder Esel) geben wird, will ich keine haben. Ich bin ganz zufrieden mit diesen lieben kleinen Droschken. Ich kann vom Markt für 2 1/2 Pence nach Hause fahren und bin zufrieden (an einem Tag stellte ich meinen Korb in eine dreckige Droschke und sagte dem Fuhrmann, wo er hinfahren soll. Dann erst bemerkte ich, daß es eine private Droschke war! Ich denke nicht, daß ich morgen weiter schreiben kann, da jetzt wieder die Arbeit beginnt, mit den Babies in unserer freien Zeit spazieren zu gehen. Ich habe die vergangenen sechs Wochen neue Wintersachen genäht und Dascha machte mir einen Mantel für Babs. Auch der Junge will einige neue Kleider haben. Er ist schon so groß, daß er nach der deutschen Mode angezogen ist, in der er es bequemer hat, wenn er in einer kurzen Jacke ist, als wenn er in einen Quadratmeter Decken eingewickelt ist. Und es stören ihn auch keine Röcke.
              Ich wollte Dich schon so oft fragen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, den Besitz zu verkaufen. Dann könnte ich das Geld irgendwo anders anlegen oder einen günstigen Zinssatz und das Kapital bekommen, wenn ich es haben will. Ihr scheint alle eine lebhaft Zeit zu haben. Ich bin froh, daß Du ein "Variety" in der Nähe bekommen hast, daß Du auch hingehen kannst. Es ist auch für die Kinder gut genug, um hinzugehen. Hier ist das nicht der Fall, da sie auch viel zu lange dauern.
              Liebe Grüße an alle. Ich muß jetzt wirklich aufhören, da es schon spät ist. Wenn Du mir die Anschrift von Ted mitteilst, kann ich ihm auch ein Photo von Dorothy schicken, auch wenn er es nicht verdient hat, sonst kann ich es an Dich schicken und Du kannst es ansehen und ihm dann weitergeben, wenn Du willst. Sie sind anders als unsere. Sie steht an einem Stuhl. Ich liebe Deines mehr, weil es größer ist und man sie in ihrer vollen Größe im Studio sieht. Ich möchte bald ein Bild mit dem Jungen zusammen haben - nur ein billiges, damit Du ihn sehen kannst.
              Deine Lily K.
              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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              • Frank K.
                Erfahrener Benutzer
                • 22.11.2009
                • 1321

                #82
                Dokument 70: Riga im November 1907

                Lieber Arthur,
                Vielen Dank für das Magazin, das gerade angekommen ist. Wer hat Dir eigentlich gesagt, daß Du über den jährlichen Kontrakt schreiben sollst? (Babs zerriß Deinen letzten Brief letzthin). Natürlich ist es richtig, was Du über das Geld sagst, daß es sicher ist und niemand weiß, was kommt. Aber ist es nicht möglich, das Geld irgendwo anders anzulegen, wo es sicher ist und sich verzinst, wo man es doch jetzt für die eigenen Kinder brauchen könnte. Wie würde es Dir gefallen wenn Hunderte verschmissen werden? Ich dachte immer, es sei eine Schande, aber Du weißt doch wie mich Vater und Mutter bevormundeten, weil sie dachten, daß jeder unter 50 Jahren noch ein Kind ist. Aber jetzt würde ich gerne, wenn es möglich ist, das Geld für Babs und den Jungen haben, falls ich sterben sollte.
                Johann Harry wurde am Sonntag nach der Frühmesse getauft. Rudolfs Vetter John war Taufpate. Er kam aus Libau und brachte ihm einen silbernen Löffel. Wir machten keine Umstände und fuhren mit drei Droschken zur Kirche. Frieda (seine Taufpatin) Katta und das Baby in einer, Babs Rudolf, John und ich in der anderen. Wir hatten am Nachmittag niemand anderes als Mr. und Mrs. Bergfried eingeladen, die mit ihrem jüngsten Jungen, der 19 Monate alt ist, kamen.
                Harry ist ein Modellbaby. Ein großer, dicker, gutmütiger Junge, der auf seinem Rücken liegt, mit seinen Füßen in der Luft strampelt und versucht, den ganzen langen Tag aufzustehen, wenn er nicht schläft. Frieda meint, daß er morgen oder an einem der nächsten Tage seine ersten Zähne bekommen wird. Aber ich bezweifle es, weil er letzten Sonntag erst 5 Monate alt wurde.
                Babs ging es letzte Woche schlecht. An einem Morgen wachte sie um 4Uhr mit Durchfall krank auf. Ich denke, daß sie sich bei diesem scheußlichen Klima erkältet hat. Dr. Berg meint, daß es ein leichter Grippeanfall war. Ich denke nicht, daß sie etwas schlechtes gegessen hat, da sie doch ein so lustiges Baby ist, das keinen Kuchen anfaßt und Butterbrot mehr als andere liebt.
                Alice Robertson hat "Gamble Gold" von Judge Perry geschickt. Es ist für sie noch zu schwer, scheint aber eher ein Kinderbuch zu sein, das auch Erwachsenen Spaß macht. Darin sind auch Wortspiele wie bei Lewis Carolls und die schönen Geschichten für Kinder, die, wie ich denke, George Mc Donald geschrieben hat. Kannst Du Dich an einige erinnern? Hast Du auch schon "At the Back of North Wind" gelesen? Ich habe es noch nicht als 6 Pence Ausgabe bekommen.
                Es ist richtig unangenehm nebelig und regnet, so daß die Kinder auch nicht herausgehen können. Es war wieder Backtag. Harry schläft wieder und Babs und Frieda sehen "The World & his Wife" an. Bis gerade eben saß Dorothy auf meinen Füßen und schrieb auch Briefe an Onkel Arthur und Tante Jenny, in denen sie fragte, wann sie kommen, um das Baby anzusehen. Ich habe auch keine Zeit mehr, um an Florrie zu schreiben. Schicke mir ihre Anschrift. Weiß sie denn niemand bei Euch in der Post? Viele liebe Grüße an Dich und Jennie und Euch alle und liebe Grüße auch von Rudolf.
                Deine Liebe Schwester Lily
                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                • Frank K.
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                  • 22.11.2009
                  • 1321

                  #83
                  Dokument 71: Gr. Königstrasse 21, 15.11.1907:
                  Liebe Florrie,
                  Es scheint, daß wir beide am Sonntag fühlten, daß es Zeit ist, wieder einmal einander zu schreiben. Es tut mir wirklich leid, daß ich den Geburtstag von Dir, meinem Liebling, vergessen habe. Ich dachte wirklich, daß Du dieses Jahr 20 Jahre alt würdest, aber anscheinend bist Du dieses Jahr schon volljährig geworden! Ich hoffe, daß Du auch jetzt noch meine Glückwünsche entgegen nimmst. Ich hätte Dir auch gerne ein Geschenk geschickt, aber das ist leider unmöglich. Bitte Vater, daß er Dir 5/- von meinem nächsten Scheck gibt. Es ist nicht richtig, aber es ist das Beste, was ich für Dich tun kann. Ich denke, daß es Dir nichts ausmacht, wenn Vater andauernd neue Bücher nach Hause bringt. Ich würde mich darüber freuen. Ich denke doch, daß die 6 Pence Ausgaben die besten sind und ich mag G. Gissings nicht. Mrs. Drapper schickte mir eines von ihm, das ihr jemand geschickt hatte. Ich werde es an Mutter weiterschicken, wenn sie "My Friend the Charlaten" haben will, aber vielleicht kennt sie es schon. "The Golden Butterfly" ist ein altes Lieblingsbuch von mir. An einem Abend brach um 7.30Uhr ein großes Feuer aus. Ich mußte Dorothy ins Bett bringen. Anstatt uns zum Abendessen hinzusetzen, eilten Onkel Rudolf und ich neugierig weg, um es auch zu sehen. Ein großes, aus Holz gebautes Warenhaus in einiger Entfernung brannte. Sogar die Straße, in der wir wohnen, war voll von dickem Rauch, weil Felle, Öl und Handballen und andere Sachen brannten. Wir kamen auch ziemlich nah heran, weil der Wind von der anderen Seite kam und blieben eine ganze Weile dort. Danach gingen wir völlig durchfroren nach Hause und hatten großen Hunger. Frieda wartete schon unruhig mit dem Abendessen, weil sie es verabscheute, an solch einer wilden Expedition teilzunehmen. Ich glaube, daß die Feuerwehrleute die ganze Nacht hindurch arbeiteten. Der Schaden beträgt etwa 200.000 Rubel. Ich denke, daß wir zu einem Abendessen und dann den Abend zum Kaufmannsverein gehen werden, weil dort ein Tanz sein wird. Wir werden dort aber nicht bleiben, weil wir nicht tanzen. Dienstagabend um 7.30Uhr sind wir sind wir zu einer Hochzeit in der Dom Kirche eingeladen, haben aber keine Lust hin zu gehen. Man muß sich wie für einen Ball anziehen, nur damit man in der Kirche sitzen und sehen kann, wie sie heiraten und dann direkt nach Hause gehen. Es hat aber keinen Wert, sich derart anzuziehen und einen gemütlichen Abend dafür zu verschwenden. Wir wollen eigentlich schon hingehen und werden diese Woche ein Hochzeitsgeschenk kaufen. Es ist ein nettes Paar. Sie verbrachten einen Sonntag mit uns am Strand (ich habe Dir davon berichtet) und schienen so verliebt zu sein, daß es eine Freude für mich war, sie kennen zu lernen, da hier so viele Männer nur immer daran denken, wieviel Geld ein Mädchen hat. Ich denke, daß hier kein Mädchen ohne Geld die Möglichkeit hat, weil die Brauteltern die ganze Wohnung möblieren müssen. Hätte Vater dieser Gesichtspunkt gefallen?
                  Es hat die letzten zwei Tage getaut und die Kinder waren etwas draußen, aber es ist sehr diesig, dreckig und ungesünder als bei Frostwetter. Jetzt fangen die Leute langsam an, sich Motorwagen zu kaufen. Es gibt bisher nur ein paar motorisierte Droschken, aber man sieht kaum jemand damit fahren und ich hoffe, daß sie boykottiert werden.
                  Freitag: Als ich zurück war, kam der Doktor zufällig herein, um nach den Kindern zu sehen. Du hättest gelacht wenn Du ihn "Donnerwetter!" sagen gehört hättest, als ich ihm erzählte, daß der Junge schon zwei Zähne bekommen hat. Er sagte, wenn er sein Alter nicht kennen würde, dann würde er ihn für ein 10 Monate altes Baby halten (und er ist erst in einer Woche 6 Monate alt!). Du hättest sehen sollen, wie er sich heute morgen auf dem Diwan herumgewälzt und geschrien hat. Heute hat es den ganzen Tag geregnet und es ist 7° Grad warm. Innerhalb einer Woche hatten wir einen Temperaturunterschied von 17° Grad. Einige Nächte hatten wir 10° und 12° Grad Frost. Es sind diese plötzlichen Unterschiede, die hier alles so ungesund machen. Babs hat mich jetzt entdeckt und bettelt darum, auf meine Knie zu klettern, so daß ich nicht weiter schreiben kann. Ich dachte, daß sie im Kinderzimmer in Sicherheit ist.
                  Ich hoffe, daß die Zeitschrift bald kommen wird. Ich stricke für "Brüderchen", wie Babs ihn nennt, eine wollene Jacke, und habe jetzt nach dem Abendessen etwas mehr Zeit zu lesen und zum stricken. Bis die Kinder ins Bett gesteckt werden, haben Frieda und ich keine Ruhe. Heute habe ich meine Eichenmöbel mit Öl und Terpentin abgerieben. Erzähle Vater, daß unser Bücherschrank ein kleiner Schatz ist, der es wert ist, nach Riga zu kommen, um ihn anzusehen. Dieses Dienstpersonal ist in ihrer Arbeit mit dem englischen nicht zu vergleichen. Ich sehne mich nach der Zeit, wenn unsere Kinder groß genug sind, daß es reicht, wenn jeden Tag eine Putzfrau kommt. Wir haben eine sehr gute Frau, die zweimal in der Woche für einen halben Tag kommt und den Fußboden usw. aufwischt. Es ist dieses ewige Fußboden-Waschen, das hier so viel Arbeit macht und es ist so kalt und ungemütlich, diese gestrichenen Fußböden zu haben. Es ist jetzt 3.15Uhr mittags und ich schreibe schon bei Licht. Weißt Du, daß ich mich nach einer richtig netten englischen "Tea-Time" sehne, die wir haben werden, wenn ich kommen werde.
                  Liebe Grüße an Euch alle. Dein liebe Tante Lily.
                  Sag Vater bitte, daß ich das Magazin nächstes Jahr auch haben möchte.
                  Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                  • Frank K.
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                    • 22.11.2009
                    • 1321

                    #84
                    Dokument 72: Riga, Sonntag, im November 1907:
                    Liebe Florrie,
                    es ist so lange her, seit ich das letzte Mal von Dir etwas gehört habe und frage mich, was passiert ist. Ich denke, daß Du jetzt viel tanzen und zu Winterfesten jeglicher Art gehst. Mutter muß jetzt eine schöne Zeit haben, wenn ihr Mädchen alle heranwachst. Das Nächste wird sein, daß von Euch jemand sich verlieben wird. Dann wird sie auch mehr um sich haben.
                    Heute kam bei uns der erste Schnee. Die letzten 8 Tage aber hatten wir ekelhaftes Frostwetter mit einem Ostwind, scharf wie ein Rasiermesser. Die Kinder können nicht herausgehen und ich will nicht! Gestern bin ich fast erfroren, als ich zum Markt ging, obwohl ich eine Pelzmütze, einen dicken wattierten Mantel, hohe Galoschen, Wollhandschuhe und eine dicke Pelz-Boa trug - man ist hier im Winter ein richtiges wandelndes Paket. Ich habe meinen Pelzmantel schon einige Zeit getragen, aber er ist zu gut, um ihn auf diesem schmutzigen Markt zu tragen. Dafür habe ich ja meinen alten wattierten Mantel. Er ist genau so warm, aber nicht so gemütlich.
                    Harry wird ein blendendes Baby. Habe ich Dir berichtet, daß er drei Tage, nachdem er drei Monate alt war, zwei Zähne bekommen hat? Bald kommen auch die ersten oberen Zähne heraus. Er ist ein gewaltiger Junge, der sehr lebhaft, aber gutmütig ist. Er bemerkt alles, was um ihn herum geschieht und ist besonders an Babs und allem, was sie macht interessiert. Ich möchte gerne ein Photo aufgenommen haben, um Dir zu zeigen, groß er schon geworden ist, aber bei diesem Wetter können wir mit ihm nicht herausgehen.
                    Ich denke nicht, daß ich für Euch Neuigkeiten habe. Es ist nichts passiert und wir sind nirgends gewesen, Rudolf hat eine schwere Erkältung bekommen und ich denke, daß es Babs auch schon leicht hat.
                    Frieda und ich sind den ganzen Tag mit dem Haushalt und den Kindern beschäftigt. Mrs. George Beckmann ist vergangene Woche nach Sunderland gesegelt und wird im Februar zurückkommen. Das wäre wieder für jemand von Euch die Gelegenheit, mit zu uns zu kommen. Frage doch bitte Vater, wann der Bezug des Guardian ausläuft. Ich habe es vergessen. Dorothy wird solch ein großes Mädchen, daß wir unser Baby verlieren werden. Ich bedauere, daß niemand von Euch sie in ihrem Babyalter gesehen hat. Sie ist sehr spaßig. Gerade tanzt sie mit Rudolf und sieht neben ihm wie ein Zwerg aus. Sie streckt ihren Finger zu ihm aus und sagt: "Tanze jetzt! Nur ein paar Minuten, dann reicht es!" Als ich sie gestern Abend wusch, bevor sie ins Bett ging, spielte sie mit dem Wasser und sagte: "Komm jetzt Baby! Beeile Dich!" Dann antwortete sie: "I´m quicking" anstatt "I´m being quick" (ich beeile mich). Das hörte sich spaßig an. Es ist schon so dunkel, daß ich nicht mehr genug sehen kann, um noch mehr zu schreiben, obwohl es jetzt noch nicht einmal 4Uhr ist.
                    Heute nachmittag ist hier in der Nähe ein Basar für die "Poor Children´s Nursery". Dort wollte ich auch hingehen, bin aber hier nicht losgekommen. Frieda und Harry schlafen und Rudolf ist zur Post gegangen. Es ist Kattas freier Sonntag. Wir vergnügen uns mit Babs im Büro.
                    Wir haben jetzt im Büro einen Kanarienvogel und einen im Eßzimmer, die beide schön singen. Baby spricht schon die ganze Zeit vom Weihnachtsbaum und vom Weihnachtsmann, wo sie doch bis dorthin noch sechs Wochen warten muß. Ich muß diese Woche noch meine Puddings usw. vorbereiten. Katta hat mir schon die ganzen Früchte sauber gemacht. Ich muß aber jetzt wirklich aufhören, weil mir nichts mehr einfällt.
                    Liebe Grüße an Euch alle von Deiner lieben Tante Lily.
                    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                    • Frank K.
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                      • 1321

                      #85
                      1908
                      Dokument 73: Neujahrstag 1908

                      Lieber Arthur,
                      diesmal ist es spät geworden, aber die Feiertage kamen dazwischen. Wir gingen gestern zum Konsul, aber er ist bis Mittwoch nicht da. Der Vieze-Konsul starb letzthin und der neue Vize Konsul war auch schon da, aber ist unglücklicherweise noch nicht ernannt und konnte deshalb nicht unterschreiben.
                      Es hat auch wieder zu tauen angefangen und gestern schien die Sonne herrlich. Die Luft war wie im Frühling, aber heute friert es wieder und es ist dicker Nebel. Heute nachmittag werden wir für einige Stunden zu Familie Schultz gehen, um ihren Baum anzusehen, werden aber den Jungen zu Hause lassen. Er ist so schwer, und ungestüm, daß man ihn nicht lange hüten kann.
                      Am Sonntag war es sehr schön, aber Bergfrieds blieben bis nach 11 Uhr abends und ermüdeten uns (die Schulzens gingen schon um 7 Uhr - das ist für die Kinder spät genug. Danach werden sie nur mißmutig).
                      Beide Vögel sind jetzt draußen und freuen sich über die Feiertage, an denen sie ihre Freiheit haben.
                      Liebe Grüße und alles Gute für das Neue Jahr. Was hältst Du von den Weihnachtskarte hier? Sie unterscheiden sich doch von den englischen Karten! Deine Liebe Schwester Lily K.
                      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                      • Frank K.
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                        • 22.11.2009
                        • 1321

                        #86
                        Dokument 74: Donnerstag im Januar 1908.
                        Liebe Florrie,
                        Weihnachten war letzten Dienstag und ist nun auch wieder vorbei. Ich wünschte, Ihr könntet alle am Montag hier gewesen sein, um den Baum anzusehen. Rudolf und ich brachten ihn am Sonntag mit und ließen ihn im Eingang stehen. Montag Nachmittag brachten wir ihn in das Büro, verschlossen die Türen und schmückten ihn. Er war um 7 Uhr fertig. Wir zündeten ihn dann an und läuteten die Glocke, um die anderen herein zu bitten. Wir machten die Lampen alle aus und er sah herrlich aus. Er ist sehr groß, reicht bis zur Zimmerdecke und hat viele Zapfen. Du solltest Dorothys Begeisterung gesehen haben. Wir hatten alle Geschenke auf einem kleinen Tisch unter dem Baum gelegt. Als wir uns alle an den Händen nahmen und um den Baum gingen, bemerkte sie alles erst nach der zweiten Umrundung. Sie sah alles und sah bei der dritten Umrundung immer zu den Sachen. Dann blieben wir stehen und nahmen uns die Geschenke. Du solltest ihre Freude gesehen haben!
                        Freitag: Sie hat zwei Puppen, eine Kiste Bausteine, einen Ball eine Eisenbahn und verschiedene Bücher aus England bekommen. Harry bekam eine Rassel, eine Pierrot Puppe auf einem Stock und ein wollenes gehäkeltes Kleid. Rudolf gab mir drei herrliche Flaschen Parfüm, einen Topf mit Lilien, die in einem dunklem purpurfarbenen Topf eingepflanzt waren und einige Rosen. Ich schenkte ihm Handschuhe und einen Korkenzieher, Frieda 12 Taschentücher und ein Kleid. Sie schenkte mir eine hohe (in den verschiedensten Farbtönen getönte) Glasschüssel auf einem Metallfuß für Obst oder Bonbons oder Visitenkarten). Rudolf schenkte ihr eine Flasche Parfüm. Ich schenkte Katta sechs Taschentücher mit einem K darauf, eine weiße und eine bunte Schürze, einen Kalender und eine Schachtel Konfekt. Von Rudolf bekam sie ein Monatsgehalt. Am nächsten Morgen fuhr sie um 11Uhr nach Hause und blieb dort bis zum nächsten Abend. Das war doch nicht schlecht für sie? Mrs. Whittle kam zum Abendessen (ihr Mann war in Petersburg). Sie brachte Dora noch eine Puppe mit und brachte mir eine Flasche Florida Wasser (Parfüm) mit.
                        Wir luden einige Freunde am Sonntag Nachmittag zum Kaffee ein und konnte sie vorher nicht einladen, weil Katta nicht da war. Ich lud auch Victor und Bertie Smith ein, unseren Baum anzusehen, aber es war sinnlos, weil sie auf der anderen Dünaseite wohnen und ihre Kinder bei dieser Kälte nicht herausgehen können. Nur Edith Schultz kommt manchmal für ein oder zwei Stunden, da sie in unserer Nähe wohnt. Das Thermometer ist noch immer so weit unter Null Grad und es will nicht aufhören zu schneien. Dieser Winter ist furchtbar und dauert noch drei Monate. Dann werden wir wahrscheinlich im Sommer wieder in der Hitze ersticken. Ich habe die Kälte lieber als die Hitze, aber es ist hier immer solch ein schrecklicher, schneidender Wind. Er kommt von Norden, Osten oder Nordosten, läßt die Ohren einfrieren und bringt Kopfschmerzen.
                        Sonnabend: Harry geht es ausgezeichnet - er ist so ein großer, dicker, lebhafter Junge. Er ist erst 7 1/2 Monate alt, aber faßt Sachen an, als wäre er schon 18 Monate alt und setzte uns alle in Erstaunen, als er am anderen Tag in eine Pfeife blies.
                        Ich habe die Brief von Vater heute früh bekommen und war sehr enttäuscht, weil er so kurz war. Er schreibt mir sonst immer lustigere Briefe. Es muß schon toll sein, daß Ihr alle erwachsen seid und soviel Spaß miteinander habt. Wenn morgen alle unsere Freunde kommen, werden wir zusammen 15 sein. Ich habe sie nur zum "Kaffee" eingeladen und hoffe, daß sie alle den Wink verstehen und nicht zum Abendessen bleiben werden, weil wir die Kinder zu einer zivilen Zeit ins Bett bringen und noch etwas Ruhe haben wollen. Aber Bergfrieds haben die Angewohnheit, daß sie immer bis Mitternacht bleiben, auch mit den Babies und allen. Das ist eine deutsche Angewohnheit, an die ich mich nicht gewöhnen kann.
                        Es ist sehr schön, eine Schwester zu haben, die alles für einen macht und Du solltest stolz darauf sein. Ich hoffe, daß Jessie die Stelle bei "Vulcan" bekommen wird - es ist so schön nah.
                        Ich schreibe schon die ganze Zeit an diesem Brief und versuche meinen Anteil los zu werden. Es ist so eine schreckliche Sache, wenn man zum Konsul gehen muß. Man fühlt sich wie ein Bettler. Hier würde man für das Geld auch eine viel höhere Verzinsung bekommen und Vater hätte das Geschäft damit nicht mehr. Aber es wäre dann ein Umstand, wenn ich eine Kleinigkeit haben wollte und Euch das Geld dafür schicken müßte. Das erinnert mich daran, Vater zu bitten, den "Guardian" für weitere sechs Monate zu bezahlen. Bitte ihn auch, wenn er dazu kommt, "The Wickenhhauses" Pett Ridge Daily Mail 6 Pence Ausgabe zu besorgen und mir zu schicken.
                        Dorothy hat es sich jetzt in den Kopf gesetzt, nicht mehr "Babs" oder "Baby" genannt zu werden. Wir machen immer wieder Fehler, die sie bei uns korrigiert, bevor sie uns antwortet. Sie sagt immer, daß sie Dorothy ist und das Baby im Kinderbett liegt.
                        Am Weihnachtsabend konnte sie nicht einschlafen, weil sie Angst hatte, daß der Weihnachtsbaum verschwindet. Sie fragte mich immer wieder: "Mammie, wo ist der Weihnachtsbaum"? Das Schlafzimmer liegt am Eßzimmer, so wie auch das Kinderzimmer und das Büro. Wir schließen die Türe niemals. Es ist doch viel schöner, wenn man die Kinder in der Nähe hört. Es ist aber schrecklich, wenn eines krank ist, da man dann keine Ruhe hat. Die Türen usw. sind hier so laut und schlecht gemacht. Wenn ich krank bin und schlafen möchte, werde ich fast wahnsinnig.
                        Ich habe schöne Weihnachtskuchen gebacken. Hier sind Pflaumenkuchen unbekannt und Frieda hat noch niemals einen probiert, ebenso auch Mince Pies oder Plumpuddings. Ich habe zwei große Pork Pies für Weihnachten gebacken, die hier ebenso unbekannt sind. Für Montag Nacht werde ich Berliner Pfannkuchen backen, das ist eine deutsche Tradition. Jetzt aber auf Wiedersehen und liebe Grüße an alle. Ich möchte Dich gerne im Ballkleid sehen. Du solltest Dich darin photographieren lassen.
                        Deine liebe Tante Lily.
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                          • 22.11.2009
                          • 1321

                          #87
                          Dokument 75: Riga, Freitag, 11./24.01.1908

                          Lieber Arthur,
                          Dein Brief vom 21. mit dem Scheck darin kam heute an. Ich bin überrascht, daß mein letzter Brief so spät angekommen ist. Es war hier mildes Wetter und der Frost sollte ihn dann nicht verzögern, da er von hier aus mit dem Zug nach Hook von Holland, Antwerpen oder Calais geht. Ich denke, daß Du ihn noch hast und auf dem Poststempel sehen kannst, wann er Riga verlassen hat. Die Sekretärin bringt alle Briefe zur Post und ist eine äußerst zuverlässige Dame, die besonders an den Dingen Interesse zeigt, die sie nichts angehen. Sie hat ihn vielleicht zuerst nach Hause mitgenommen und den Inhalt überprüft. Vielleicht wurde er aber auch wegen der Feiertage zurückgehalten - dann sind sie bei uns schrecklich nachlässig. Hier muß man aber jedem mißtrauen. So etwas wie ihre Vorliebe, andere auszufragen, habe ich noch nie erlebt. Es ist so perfekt und stört mich jetzt nicht mehr, sondern amüsiert mich. Zuerst hat es mich ganz verrückt gemacht.
                          Wir haben unseren großen Baum bis Epiphanias stehen lassen und oft angezündet. Als wir ihn dann heraus schmeißen wollten, war Dorothy so traurig, daß Rudolf die Spitze abschnitt, in einen kleinen Topf steckte, für sie einen kleinen Baum machte und einige Kerzen darauf befestigte. Er sieht schon ziemlich trocken aus, aber macht ihr Freude. Morgen müssen wir zu Bergfrieds gehen und ihren Baum ansehen. Sie behalten ihn immer bis zum 12. Januar, an dem Thanias Namenstag ist. Sonst ist hier der 6.Januar (Epiphanias) der letzte Tag. Am Sonntag waren wir zu Herrn Müller eingeladen, aber Frieda und der Junge blieben zu Hause. Er ist erst sechs Wochen verheiratet und wir wollten deshalb auch nicht ein Baby zum ersten Besuch zu einem neu vermählten Paar mitnehmen, wo alles perfekt geordnet ist und die Bedürfnisse der Babies nicht befriedigt werden. Für Dorothy war es langweilig, da dort nichts war, mit dem ein Kind spielen kann. Er hat einen süßen Foxterrier, den seine Frau streng in der Küche hält, weil sie sagt, daß seine Haare herausfallen und sich überall auf den Möbeln verteilen. Er und seine Mutter hatten schon immer ein Haustier. Armes Ding! Dort waren noch drei andere Paare, von denen eines erst vier Monate verheiratet war und das andere 15 Monate. Sie hatten auch einen großen Baum, aber nur Kerzen und lange Lametta-Fäden darauf, die sie hier "Engelshaar" nennen. Er sag auch schön aus, aber unserer war schöner. Wir kamen schon um 7Uhr nach Hause, weil es dort langweilig war. Wir hörten, daß die anderen bis 12 Uhr blieben. Die Nacht davor waren sie alle bis 5 Uhr morgens wach! Ich denke, daß ich Dir berichtet habe, daß wir am Neujahrstag bei Schulzens waren. Sie hatten einen großen Baum und Edith und Dorothy hatten große Freude. Harry wird immer dicker und immer größer. Er sieht wie 12 Monate alt aus und ist ein wirklich lebhafter Junge. Er schreit, kickt mit den Füßen um sich und lacht die ganze Zeit. Er hat den ganzen Tag einen ausgezeichneten Appetit und schläft dann die ganze Nacht durch. Er ist normalerweise 10 Stunden, manchmal sogar 12 Stunden ohne Essen. Wenn er dann aufwacht, ist er immer so fröhlich, daß es Spaß macht, ihn anzusehen. Er liegt da und beobachtet mich und spielt mit einem Holzlöffel, seinem Lieblingsspielzeug oder mit anderen Sachen, da er auch immer Spaß an einer Gummiziege hat, die quiekt, wenn er sie drückt. Er hat ein süßes Grübchen auf seiner linken Backe, die er aber wahrscheinlich verlieren wird, wenn er älter wird.
                          Sie führten am Dienstag und Mittwoch "Miss Hook of Holland" auf. Ich wollte gerne hingehen, aber Rudolf konnte keine Karten dafür bekommen. Sie werden es am Sonntag noch einmal aufführen. Ich weiß aber noch nicht, ob wir gehen werden. Ich möchte gerne etwas Heiteres und Lebhaftes ansehen. Sie führen hier so viele alte langweilige und auch eindrucksvolle Opern wie "Il Travatore" usw. auf.
                          Ich denke, daß die "Daily News" viel interessanter sind, als der "Guardian" und nur die Hälfte kostet. Rudolf meint aber, daß der "Guardian" die beste Zeitung zu diesem Preis ist. Du solltest für "The Wrickhamses" 8 oder 9 Pence zurückbehalten. Hast Du es vergessen? Kennst Du einen Schriftsteller, der "Horace Stacpoole" heißt? Es gibt von ihm eine Erzählung, die "Hanny Lambert" heißt und jetzt in der "Rigasche Zeitung" als "Feuilleton" abgedruckt ist. Ich lese es mit großer Freude. Natürlich verstehe ich nicht viele Wörter, aber ich verstehe genug, um den Sinn zu verstehen. Es kommt jeden Tag gerade so viel, daß es mir nicht langweilig dabei wird. Ich denke auch, daß Sachen, die aus dem Englischen übersetzt sind, leichter zu verstehen sind, als richtiges deutsch. Rudolf hat zwei Ausgaben von "Little Lord Hanntleroy" (in deutsch) für zwei seiner Nichten Gerda und Irma gekauft. Es ist solch ein nettes Buch und bin froh, daß man es auf deutsch bekommt. Frieda gefiel es auch. Mir tut nur Ted leid. Was meinst Du mit "down at the very bottom" (vollkommen am Boden zerstört)? Was macht er jetzt? Und wo lebt er jetzt? Ich wollte Dich immer schon fragen, aber habe vergessen zu fragen, ob Onkel Pile noch immer lebt. Ich denke, daß es kaum noch möglich ist, aber ich habe noch nicht gehört, daß er gestorben ist. Ich denke immer, daß es jemand von Euch erwähnt hätte, wenn er gestorben wäre. Die Mädchen werden traurig sein, wenn die Tanzsaison vorbei ist, aber sie werden schon die ersten Picknicks usw. erwarten. Spielt eigentlich jemand von Euch Tennis? Wir sehnen uns nach dem Sommer. Wenn man dann einen Garten hat, ist alles viel schöner. Hier ist es jetzt sehr mild, aber wir wissen nicht, wie lange es so bleiben wird. Manchmal dauert hier der Winter bis in den Mai. Letztes Jahr aber kam der Frühling herrlich früh. Ich frage mich noch, wann es mir gelingen wird, einmal einen Sommer in England zu verbringen und Euch diese zwei Babies zeigen kann. Dein Neger lebt noch immer und Dorothy sagt immer: "Onkel Arthur kommt, wenn es nicht mehr so kalt ist." Sie spricht auch von "Frollie", "Florrie" und "Vera."
                          Liebe Grüße an Jennie und Euch alle. Deine liebe Schwester Lily K. -
                          10 Uhr abends: Der Vermieter hat die Miete wieder um mehr als £5 angehoben, so daß sie jetzt mehr als £80 beträgt. Ist es nicht eine Schande, daß die Vormieter sie vorher für £70 hatten? Da sie so einen schlechten Eingang hat und so teuer ist, werden wir uns bald nach einem anderen Haus umsehen. Die Häuser sind hier aber so furchtbar teuer, daß wir wahrscheinlich keine andere finden werden Diese Wohnung ist ja so furchtbar teuer und es ist hier so ungemütlich und gibt keinen Komfort!
                          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                          • Frank K.
                            Erfahrener Benutzer
                            • 22.11.2009
                            • 1321

                            #88
                            Dokument 76: Riga, Sonnabend, im April 1908

                            Lieber Arthur,
                            ich lege die Bestätigung bei. Jetzt habe ich das unbequeme Geschäft wieder für die nächsten drei Monate erledigt. Es ist so lästig! Frage doch bei Eurem Postamt nach, ob man es nicht so regeln kann, daß man nur einmal im Jahr das Geld ausbezahlt bekommt.
                            Jetzt ist bei uns wieder Eisgang und wie immer furchtbar kalt. Der Eisgang ist dann, wenn das Eis auf dem Fluß weiter oben aufzubrechen beginnt und in großen Massen den Fluß hinunter strömt. Es wird dann immer die Pontonbrücke für ein oder zwei Wochen herausgenommen und man muß den Fluß auf der großen Eisenbahnbrücke überqueren. Der Hafen ist auch noch geschlossen und bei Domesuas blockiert. Bei Rudolf nehmen die Scherereien und folglich Verluste kein Ende. Für das Geschäft war es ein anstrengender Winter. Wenn Nordwind ist, wird der Hafen und der enge Kanal schnell blockiert.
                            Wir sind alle außer Rudolf erkältet. Ich bin mehr als einen Monat lang heiser gewesen und Dorothy sieht nach dem Winter richtig müde aus. Sie ist dürr, bleich und hat unter ihren Augen Schatten. Alle Kinder hier sehen, wenn der Frühling wieder kommt, wie kleine Geister aus. Wir haben Harry den Namen "The Britisch Bulldog" gegeben. Er ist so groß, breit und kräftig. Obwohl er erst 10 Monate alt ist, zerbricht er alles und hämmert mit seinen Fäusten auf alles, was er erreichen kann. Er kann noch nicht gehen. Seine größte Freude ist es, wenn er in den Armen hoch und nieder geschaukelt wird. Wenn man will, daß er im Bett liegt, heult er und hat eine Stimme wie ein Löwe. Man kann sich selbst nicht mehr sprechen hören, wenn er los brüllt. Ich kann ihn nicht bändigen aber Frieda schafft es, so wie auch Pauline, unser neues Mädchen, das Kinder zu lieben scheint. Wir haben sie jetzt zwei Wochen und sie scheint zu bleiben. Ich versuche einige lettische Wörter zu lernen, aber Dorothy schafft es schneller. Sie wird natürlich auch bald deutsch lernen. Sie ist jetzt 28 Jahre alt und hat vorher Kühe gehütet, nachdem sie in einer Bäckerei in Wenden gearbeitet hatte und war dort über ein Jahr lang. Dann kam sie hierher und ist seit einem Monat bei uns. Sie sieht zuverlässig und ländlich aus, deshalb gefiel sie mir und ich hoffe, daß es gut gehen wird. Sie stammt aus einer Familie mit 11 Kindern (8 leben noch). Ihre jüngsten Geschwister sind zwei und drei Jahre alt. Sie kann einigermaßen gut Fleisch, Gemüse und Suppe kochen. Natürlich haben wir Brot und Puddings nicht mehr so oft und ich vermisse es, aber wenn man mit Suppe beginnt, dann kann man nicht mehr viel Pudding essen. Rudolf liebt am meisten seinen Kaffee. Hier trinkt man normalerweise Kaffee und ißt dazu Kuchen oder "Kaffeebrot" um 4 oder 5Uhr, aber wir trinken ihn nach dem Essen und trinken später eine Tasse Tee, aber es ist trotzdem nicht schön. Ich habe keinen Appetit darauf und finde die englischen Mahlzeiten besser, obwohl ich jetzt schon fünf Jahre hier lebe. Ich befürchte, daß Ihr die Hoffnung aufgeben müßt, mich vor meinem 50. Geburtstag wieder zu sehen, da es bei uns genau so gehen wird, wie bei Dir und Jennie, so wie es die Familie erfordert, aber die Kinder werden erst angenehm, wenn sie größer sind. Babies sind ein schreckliches Hindernis und eine Belastung, besonders in diesen Wohnungen, wo alles so eng zusammen gestopft ist und die Kinder einen dann so verrückt machen, daß ich manchmal nicht weiß, was ich machen soll.
                            Wir werden dann im Sommer wieder an den Strand gehen und das wird erholsam sein! Wir haben bis jetzt noch keine Villa, obwohl schon viele ihre haben. Letztes Jahr haben wir Ende August für £5 eine schöne Villa bekommen, weil die Leute, an die sie vermietet war, schon abgezogen waren (da kann man sehen, was für einen kurzen Sommer und langen Winter wir doch haben!). Für diesen Sommer verlangen sie jedoch £50! Vielleicht könnten wir sie auch für £45 haben. Sind die Mieten hier nicht furchtbar hoch?
                            Wenn Du unsere Wohnung sehen könntest, für die wir etwa £80 zahlen! Im Schlafzimmer haben gerade unsere beiden Betten und Doras Kinderbett Platz. Die Garderobe hat kein Fenster und wird durch die Glastür vom Eßzimmer her erhellt. Meine Garderobe hat die Größe von Deinem kleinen Zimmer. Das Kinderzimmer, in dem Frieda und das Baby schlafen, ist etwas größer als unser Schlafzimmer und im Eßzimmer sind vier Türen. Der einzige große Raum ist das Büro. Bevor der Junge kam, hatten wir genügend Platz, da das Kinderzimmer die Garderobe war und wir auch ein kleines Nähzimmer hatten. Jetzt mußte ich schon das Klavier ins Büro stellen. Dorothy läuft gerade mit dem Kinderwagen umher. Sie saß bei mir, als ich Rudolfs Socken seit dem Essen bis jetzt stopfte und hat auch ihrem Schaukelpferd einen Kuß gegeben. Sie sagt oft zu Rudolf: "Pappy, Du darfst keine so großen Löcher machen!" Sie macht alles nach, was ich mache und backt, wischt Staub und näht. Harry schläft und Frieda ist ausgegangen. Draußen pfeift wieder ein schrecklicher Nord-Ost-Wind. Ich war schon beim Fleischer und beim Konsul und das reichte mir. Es war so ekelhaft, daß ich nicht einmal zum Markt gehen wollte, obwohl ich sonst dort immer einkaufe. Gestern bekam ich Kalbsbrust für 2 Pence pro Pfund. Heute kostet Roast Beef 4 1/2 Pence, aber es gibt viel weniger Fleisch und mehr Knochen darin als in englischem Fleisch, so daß es etwa gleich viel kostet. Butter war sehr teuer, ist aber wieder billiger geworden und kostet 9Pence (und das Pfund wiegt auch weniger).
                            Ich werde mich sehr darüber freuen, wenn ich etwas zu lesen bekomme, da ich gar nichts mehr habe. Aber bitte besorge mir Bücher, in denen es viel zu lesen gibt. Bitte keine von Stanley Weyman oder in diesem Stil. Kannst Du nicht "At the Back of the North Wind" von George Mac Donald in einer billigen Ausgaben bekommen. Hast Du "The Wrickhamses" bestellt?
                            Hast Du jemals Nellie Hunter gesehen. Sie hat doch noch geheiratet, ist in ihr Holzhaus in Kanada umgezogen und ist im siebten Himmel. Sie sagt, daß sie noch nie zuvor soviel Sonnenschein in ihrem Leben gesehen hat, wie in diesem Winter. Es tut mir leid, daß die Mädchen nichts Passendes finden, aber es wird zur rechten Zeit klappen. Jennie würde es hassen, hier leben zu müssen. Ein Vermieter putzt und malt nicht und will auch nichts anderes machen, außer, wenn man einzieht. In unserer Wohnung lebten die Leute vorher 17 Jahre lang, ohne daß etwas gemacht wurde. Daher wollten wir in das eine Haus auch nicht einziehen. Es war muffig und roch richtig dreckig und sie verlangten dafür £75 pro Jahr!
                            Im September ist doch Eure Silberhochzeit? Ich wünschte, ich könnte dann kommen, aber es ist unmöglich. Rudolf fragt immer, warum nicht jemand von Euch herüberkommen will, um uns zu besuchen. Befolgt den Rat: kommt herüber und überprüft die Lage außerhalb. Das wäre schön für uns, für Dich und Jennie. Sie könnte eine nette kleine Reise machen. Ich wünsche mir so, Euch alle zu sehen. Rudolf versichert mir, daß England noch immer nicht vergessen ist, aber wir noch einige Zeit warten müssen.
                            Liebe Grüße an alle. Deine liebe Schwester Lily.
                            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                            • Frank K.
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                              • 22.11.2009
                              • 1321

                              #89
                              Dokument 77: Gr. Königstrasse 21, Sonntag. 04.05.1908 (Poststempel)
                              Liebe Jennie,
                              ich fange gleich richtig an zu schreiben, nachdem ich gefrühstückt habe, da ich jetzt etwas Zeit habe, bevor der Küchenherd angezündet wird. Rudolf schläft noch immer, Frieda frühstückt (noch immer im Morgenmantel. Das ist eine deutsche Gewohnheit, die ich mir nicht angewöhnen kann, weil man sich dabei so unordentlich fühlt) und Pauline ist im Büro, da Harry nicht ruhig sitzen will und einen Moment lang allein spielt. Er versucht schon die ganze Zeit zu gehen, aber wird erst in drei Wochen ein Jahr alt. Er trägt ein Kleid, das Dorothy noch zu Weihnachten paßte und für ihn jetzt gerade richtig ist. Mrs Whittle war am Freitag hier und meint, daß er eher wie zwei Jahre und nicht wie ein Jahr alt aussieht. Er ist so schwer und stürmisch, daß ich ihn kaum noch hüten kann. Vielleicht vermutest Du schon, daß Nr. 3 unterwegs ist und ich fühle mich nicht so wohl und hätte heute zur Kirche gehen sollen, da ich genügend Zeit hatte. Dorothy steht immer so früh nach 7Uhr, oftmals schon nach 6.30Uhr auf. Das ist lästig, da ich immer ein oder zweimal in der Nacht wegen ihr auf bin. Sie ist nach Rudolfs Familie und ist sehr nervös. Harry wird, so schätze ich, ein richtiger Bowes werden, obwohl er manchmal die typischen Anzeichen des russischen Temperaments zeigt, wenn er geärgert wird. Es ist schrecklich unangenehm, wenn man sich denkt, daß in diesem Jahr noch eines kommt, wenn er 18 Monate alt ist, wo ich doch kein Weiteres haben wollte. In dieser Wohnung ist ein solches Durcheinander und ich war mit einer Tochter zufrieden. Es war so schön - nur Rudolf, ich und Dorothy.
                              Dieses Mal fühle ich mich leicht müde und bin wieder schrecklich erkältet. Das Wetter ist noch scheußlich kalt und düster. Und auf dem Golf ist noch immer Eis.
                              Für den Sommer haben wir wieder eine Villa gemietet und wollten eigentlich nächste Woche schon gehen, werden aber noch nicht gehen, wenn sich das Wetter nicht ändert. Es ist in diesen kleinen Holzhäusern doch sehr kalt, da sie wie Hühnerställe aus einfachen Wänden gebaut sind. Es ist die eine Villa in Majorenhof nahe am Meer mit dem schönen Garten, aber leider weit vom Wald weg, die wir schon vor zwei Jahren hatten. Ich hoffe daß es das Richtige für die Kinder sein wird und ihnen genügend Kraft für die nächsten Winter geben wird. Alle schönen Villen in den Wäldern sind vermietet, außer denen, die mehr als £40 kosten, so daß es für eine Barmiete für nur 8 oder 10 Wochen zu viel war. Wir zahlen hier £28 und das ist meiner Meinung nach unverschämt teuer, aber sie ist schön eingerichtet und außerordentlich sauber (hier ist es wirklich herrlich). Die meisten Kochtöpfe und Geschirre, sowie eine Trinkwasser Quelle und ein ausgezeichneter Eiskeller sind auch vorhanden. Ich hoffe, daß der Sommer wieder so schön werden wird wie das letzte Mal, als wir hier waren. Wir hatten es hier sehr bequem und die Räume wurden niemals so heiß, wie in einigen anderen Villen, da ein großer Dachboden darüber gebaut ist. Einige andere bestehen nur aus Wänden und einer Haut aus geteerter Dachpappe. Der Teer kocht dann im Sommer und sie werden zu Öfen. Wir haben dort auch einen Ofen, daß wir auch heizen können, wenn es ungemütlich wird.
                              Wir wollen dann so viel Zeit wie möglich nach diesem Winter draußen in der frischen Luft verbringen, aber auch Rudolf braucht einen freien Tag genau so, wie jeder, weil das tägliche Fahren für ihn eine gräßliche Plage ist und hier machen sie es für einen so unbequem wie nur möglich. Es gibt nur wenige langsame Züge, in denen zu wenig Platz ist. Und die Fahrkarten kosten auch mehr als gewöhnliche Fahrkarten (daran kann man sehen, daß man für die Bequemlichkeit viel erträgt, wenn man ewig am Fahrkartenschalter warten muß und weil sie so langsam sind. Letztes Jahr fuhr Katta an einem Sonntag nach Hause und wartete zwei Stunden lang in der Schlange, um eine III. Klasse Fahrkarte zu bekommen und sah dabei, wie zwei oder drei Züge in der Zeit abfuhren. Schließlich kaufte sie doch eine II. Klasse Fahrkarte, um schneller zu sein. Oh! Was ist es doch für diese Regierungsbeamten für ein glückliches Land).
                              Cooke´s Zirkus kam zu Ostern und wurde von einem richtigen englischen Cooke geleitet. Wir gingen am Ostermontag hin und dachten, daß es gut wäre, was dort geboten würde, aber das Programm war viel zu kurz. Truzzi´s Zirkus, der jeden Winter hier ist, bietet eine viel längere Vorstellung.
                              Ich sehne mich schon nach einem Urlaub. Ich hoffe so sehr, daß Rudolf und ich es, weil diese immer wieder kommenden Kinder dazwischenkommen, in ein oder zwei Jahren es schaffen werden. Wenn wir es dann schaffen sollten zu kommen, werden wir Dorothy mitnehmen und Frieda mit dem Rest hier lassen. Ich würde gerne auch Frieda und die Babies mitnehmen und Rudolf dann nachkommen lassen. Ich möchte so gerne, daß sie England sieht. So ein armes Ding! Sie hat keine Ahnung vom Wohlstand, in dem man leben kann. Sie ist auch so gut zu den Kindern, daß ich nicht weiß, was ich ohne sie machen würde, aber sie ist sehr langsam. Es ist jetzt nach 11Uhr und sie ist noch immer nicht angezogen, obwohl sie schon um 9Uhr aufgestanden ist. Das ist die deutsche Art und es ist für die Kinder so ein schlechtes Vorbild. Es macht mich manchmal so verrückt, da das Frühstück bis zur Mittagszeit dauert.
                              Wenn ich es schaffe zu kommen, dann muß Dorothy mitkommen. Ich kann sie nicht allein zu Hause lassen. Ich frage mich immer, ob man eigentlich sonst über das erste Kind anders denkt. Ich könnte Harry mit Frieda ganz gut alleine zurücklassen, aber nicht Dorothy. Ich denke, daß es daher kommt, weil ich die ganze Zeit mit ihr zusammen war und alles für sie getan habe und Frieda alles für ihn macht. Außerdem ist er auch ein Junge - und das ist ein Unterschied! Frieda hat Jungen am liebsten und macht für ihn alles, was doch auch ein Segen ist. Mrs. Jones wird auch am Mittwoch nach England segeln und wir schicken Dir und Arthur ein kleines Geschenk zur Silberhochzeit mit. Es ist noch früh, liebe Jennie, aber im September werden wir keine Gelegenheit dazu haben. Wir wußten nicht, wofür wir uns entscheiden sollten, weil wir nichts aussuchen wollten, was Ihr nur ein Jahr lang benutzen würdet, entschieden uns aber dann für ein Käse- und Buttermesser, die zusammengehören. Rudolf brachte sie mir im Frühling mit. Die Griffe sind aus schwerem Silber und unterscheiden sich von den englischen Messern und ich dachte, da Ihr sie gerne haben und gerne benutzen werdet. Bitte benutzt sie immer, dann könnt ihr an uns beim Essen denken.
                              Ich werde sie bitten, daß sie sie mit eingeschriebener Post schickt, da ich annehme, daß das der sicherste Weg sein wird. Sie kommt nach Bolton und ist das netteste Wesen mit einem süßen kleinen 18 Monate alten Jungen. Ich denke, daß Ihr sie in zwei Wochen bekommen werdet. Ich bin jetzt zu müde, um noch mehr zu schreiben. Ich habe zwei Wochen lang versucht, mehr zu schreiben, aber hatte immer erst nach dem Abendessen Zeit und hatte dann solche Rückenschmerzen, daß ich immer gleich ins Bett gegangen bin. Ich möchte diesen Sommer so sehr faulenzen. Es ist aber komisch, im November krank zu werden. Das arme kleine Baby wird dann bis zum April oder Mai nicht herauskommen und wir werden dann einen schrecklichen Winter haben. Was ist aus meinem guten kleinen Korrespondenten Florrie geworden?
                              Liebe Grüße an Euch alle. Deine liebe Schwester Lily
                              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                              • Frank K.
                                Erfahrener Benutzer
                                • 22.11.2009
                                • 1321

                                #90
                                Dokument 78: Majorenhof, Freitag im August 1908

                                Liebe Florrie,
                                es war so schön, Deinen Brief so versteckt in "Weldon´s" zu finden. Ich habe mich schon gefragt, wann mir wieder einmal jemand schreiben wird, da ich bisher noch immer nichts von der Reise nach Kopenhagen gehört habe.
                                Danke Mutter und Vater für das Bild. Sie haben sich nicht viel verändert, außer daß Vater ziemlich grau geworden ist und sie besser aussehen, als sie der Photograph aufgenommen hat. Was wirst Du wegen der Silberhochzeit machen? Ich hoffe, daß von Euch wirklich jemand nächstes Jahr kommen wird und nicht nur davon gesprochen wird. Weißt Du, daß Tante Minnie und ihr Mann fast gekommen wären? Sie haben tatsächlich in Hull am 4. September Station an Bord gehen wollen. Weil aber Onkel Alf einen dummen Fehler machte und ihnen davon erzählte, daß ich Ende September krank werden würde. Bevor sie noch meinen Brief daraufhin erhielten, buchten sie eine Schottlandreise und haben jetzt versprochen, nächstes Jahr zu Pfingsten zu kommen. Ich bin sehr enttäuscht darüber, weil man niemals weiß, was als Nächstes passieren wird und wünsche mir, nicht zu sterben, bevor ich nicht wieder jemand aus England gesehen habe. Ich habe noch nicht ganz geschafft, Hather und James hierher zu bringen, obwohl sie in der Nähe waren. Wenn wir es nur rechtzeitig gewußt hätten, hätten es Onkel Rudolf und ich vielleicht geschafft, sie hier zu treffen. Wir sind heute drei Monate hier und ich denke, daß wir nächste Woche wieder zurückfahren müssen. Pauline ging schon gestern, nahm alle Markisen und Jalousien ab und nahm sie mit. Heute hat sie alle gewaschen und muß sie dann an einem Tag auch wieder zurückbringen und aufhängen, ebenso auch die Portieren. Es ist einfacher, wenn wir nicht da sind, weil auch noch viele andere Dinge gemacht werden müssen. Alle Bilder, Gläser usw. sind in Papier eingewickelt, weil hier die Fliegen solch eine Plage sind. Sogar hier in der Küche sind so viele, daß man davon verrückt wird, wenn man hineingeht. Wir haben alles in der offenen Veranda vorbereitet, aber sie schaffen es doch immer wieder, trotz aller Vorsicht, ins Essen zu kommen. Auch das gekaufte Brot ist eine Schande. Ich wundere mich, warum sich die Bäcker nicht schämen, weil immer ein Fremdkörper darin ist. Ich muß wieder anfangen zu backen, sobald ich dafür einen geeigneten Ofen habe. Wenn wir solch ein Haus wie Eures bekommen könnten, würde ich nicht für solange weggehen. Es ist auch alles so dreckig, unordentlich und furchtbar teuer. Wir müssen dafür im Jahr über £100 an Miete zahlen und haben dort trotzdem keinen Komfort.
                                Onkel Rudolf hat jetzt auch wieder viel Ärger. Ihm wurde Blei im Wert von über £180 aus dem Zollhaus gestohlen und die Detektive können bisher noch keine Spur von den wirklichen Dieben finden, haben aber die Käufer ermittelt, die es dann immer so hervorragend schaffen, nicht belangt zu werden.
                                Es freut mich, daß Du einen Gefährten gefunden hast, der das Leben nicht mehr so eintönig machen wird. Ist er auch etwas fürs weitere Leben? Ich hoffe es doch so, liebe Florrie, daß Du mir einmal mehr über ihn berichten kannst. Du bist noch eine kleine Gans und machst Dir Sorgen, weil Du 21 Jahre alt bist. Warte nur, bis Du so alt wie ich bist. Dann wirst Du jubeln, wenn man Dir erzählt, daß Du jünger aussiehst, als Du bist. Hier sehen alle Mädchen und Jungen älter aus (und verhalten sich auch so), als die englischen.
                                Harry geht es nicht besonders gut, da er Durchfall hat und nur Grütze essen kann. Ich hoffe, daß er es bald überstanden hat, sonst wird er noch dünn werden, wo wir doch so stolz auf seine Figur und sein Aussehen sind. Es hat in der letzten Zeit sehr viel geregnet. Diese offenen Häuser sind sehr feucht und die Kinder und auch die anderen Leute sind dem im frühen Herbst stark ausgesetzt. Wenn es natürlich überhaupt keine Hygiene gibt und die Häuser vollgestopft sind, darf man sich darüber nicht wundern. Es ist schon komisch, jetzt schon über den Herbst zu sprechen, aber unser Sommer ist sehr kurz und der Winter ist schrecklich lang und ermüdend. Wenn Du Dorothy noch als kleines Mädchen sehen willst, mußt Du Dich beeilen und schnell kommen. Sie fängt jetzt schon mit "Als ich klein war..." an, wenn Sie etwas erzählt. Rudolf machte zu ihrem Geburtstag eine Schaukel worüber sie sich sehr gefreut hat. Wenn sie Harry sieht, ruft er "shoo, shoo", aber er muß noch in der Hängematte schaukeln. Im kommenden Jahr wird er groß genug dafür sein. Dann ist der nächste Kandidat für die Hängematte da, Oh Schreck! Es ist jetzt schon schrecklich genug daran zu denken, im Winter krank zu sein. Man bekommt dann keine Ruhe. Bitte Vater, daß er mir etwas zu lesen schickt, damit ich es dann habe, wenn ich mich erhole; es können auch alte Bücher sein, die aber bitte nicht gebunden sein dürfen.
                                Ich habe mich darüber gefreut, wieder die "Weldon´s" zu bekommen. Die Schnittmuster sind so nützlich und für die Kinder müssen Winterkleider (und Flannel-Unterwäsche und gestrickte Unterhemden) gemacht werden, bevor ich krank werde, aber Dorothy hat schon ein Matrosenkleid, aber in den kommenden Monaten wird es besser werden. Frieda hilft beim Nähen und Kochen nicht. Sie kümmert sich den ganzen Tag und die ganze Nacht um Harry. Natürlich wird er dadurch verwöhnt. Wenn er alleine gewesen wäre, würde er jetzt schon gehen. Später wird es einmal schwer werden, aber sie hat sehr viel Geduld. Ich könnte das wirklich nicht machen, weil ich dann verrückt werden würde, aber sie liebt solche aufregenden Sachen und es scheint ihr nicht zu viel zu werden.
                                Nun auf Wiedersehen, ich muß aufhören. Es ist jetzt Porridge-Zeit. Dorothy hat angefangen, an "Frollie" zu schreiben, aber jetzt schon wieder aufgehört. Onkel Rudolf hat mir schon mein Geburtstagsgeschenk gegeben: Einen Rubin und Diamantring.
                                Liebe Grüße an Euch alle. Deine liebe Tante Lily
                                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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