Desertation in Potsdam 1954 - ist das möglich?

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  • Geschichtensucher
    Erfahrener Benutzer
    • 03.09.2021
    • 1057

    Desertation in Potsdam 1954 - ist das möglich?

    Liebe Mitstreiter, ich brauche Eure Expertise in einer Frage zu der Geschichte der frühen DDR, die wir als frühere DDR-Bürger auch nicht beantworten können.

    Ich muss auf Namen verzichten, weil es vermutlich noch lebende Kinder desjenigen gibt, um den es hier geht. Er war ein Cousin meiner Mutter.

    Die Familiengeschichte sagt: der war bei der Armee und lief aus Liebeskummer von da fort zu einer Frau. Aus Angst vor der Verfolgung und Bestrafung beging er Suizid.

    Die Akten sagen: der junge Ehemann vergiftete sich am 17.12.1954 mit Gas in seiner Wohnung in Potsdam, es war Suizid.

    Nun gab es ja 1954 noch keine NVA, die wurde erst 1956 gegründet, und eine Wehrpflicht erst ab 1962.

    Es gab die Kasernierte Volkspolizei, die nach Erinnerungen meines Vaters recht penetrant geworben hat. Ist es denkbar, dass mein Verwandter dieser KVP angehörte und dann Abhauen als Desertation galt?

    Habe bei gugel schon einiges zum politischen Klima in Potsdam in den 50er Jahren gefunden, aber keine Antwort auf diese Frage.

    Wisst Ihr etwas? Herzlichen Dank
    Zuletzt geändert von Geschichtensucher; 29.03.2023, 15:46.
    Beste Grüße, Iris
  • Anna Sara Weingart
    Erfahrener Benutzer
    • 23.10.2012
    • 16900

    #2
    Hallo
    Desertationen aus der Kasernierten Volkspolizei (KVP) u. Grenztruppen

    Quelle: https://www.stasi-unterlagen-archiv....esertionen.pdf
    Angehängte Dateien
    Zuletzt geändert von Anna Sara Weingart; 29.03.2023, 16:57.
    Viele Grüße

    Kommentar

    • Geschichtensucher
      Erfahrener Benutzer
      • 03.09.2021
      • 1057

      #3
      Danke, Anna Sara, ich lese raus, dass man 1954 nicht nur in der KVP, sondern auch in der Grenzpolizei sein konnte und es den Tatbestand Desertation dort gab. Im Text finden sich Zahlen von Desertierten nach Jahren ab 1950, sehr interessant. Ein Wehrstrafrecht gab es erst in den Jahren danach, 1954 wäre der Deserteur nach Zivilrecht bestraft worden.


      Das kann die Familienüberlieferung bestätigen.
      Beste Grüße, Iris

      Kommentar

      • Silvio52
        Erfahrener Benutzer
        • 17.06.2021
        • 284

        #4
        Hallo,

        Zitat von Geschichtensucher Beitrag anzeigen
        Ein Wehrstrafrecht gab es erst in den Jahren danach, 1954 wäre der Deserteur nach Zivilrecht bestraft worden.
        Eine Bestrafung erfolgte mit Sicherheit nicht nach "Zivilrecht" (BGB)

        Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit könnte sich 1954 nur aus dem allgemeinen Teil des (Reichs-) Strafgesetzbuches ergeben haben. Für "normale" Straftaten von Angehörigen der sog. "Bewaffneten Organen" gab es zur Verbüßung von Freiheitsstrafen ab 1954 das Strafvollzugskommando Berndshof im Kreis Ueckermünde.

        Erst zum 1. Februar 1958 wurde die Ergänzung des Strafgesetzbuches von 1871 (Strafrechtsergänzungsgesetz) beschlossen. Der 3. Teil des Gesetzes enthielt die Strafbestimmungen über die Verbrechen gegen die militärische Disziplin mit Tatbeständen, wie Fahnenflucht oder Befehlsverweigerung.

        Ich könnte mir vorstellen, daß jenes Fortlaufen / Fernbleiben von der Arbeit 1954 ggf. in "Tateinheit" mit Straftaten erfolgte (wie Unterlagen mitgenommen, irgendwas gefährdet, Ulbricht öffentlich als "Arsch" bezeichnet), so daß eine "normale" Verurteilung denkbar gewesen wäre. Zudem wurde "mit der Verachtung des werktätigen Volkes" gedoht. Schlimmstenfalls wäre eine Verurteilung wegen "Boykotthetze" gem. Art. 6 der Verfassung der DDR von 1949 möglich gewesen.

        Da ist noch einiges offen.

        VG
        Silvio
        Suche FN: Dülge (Stettin, Lublin) / Streich und Hintz (Großpolen, Lublin) / Seeger (Elbing, Danzig und Berlin) / Havemann, Thiede und Stolz (Breslau, Bernau und Berlin).

        Kommentar

        • Geschichtensucher
          Erfahrener Benutzer
          • 03.09.2021
          • 1057

          #5
          Vielen Dank, Silvio, das ist interessant. Zivilrecht war natürlich Quatsch, "vor zivilen Gerichten" eher.


          Als Beruf war auf dem Totenschein "Behördenmitarbeiter" angegeben. Vielleicht war er ja auch beim MfS und die Familie hat diesen Fakt unterschlagen.
          Beste Grüße, Iris

          Kommentar

          • Silvio52
            Erfahrener Benutzer
            • 17.06.2021
            • 284

            #6
            Hallo Geschichtensucher,

            "Behördenmitarbeiter" war die Bezeichnung für Angehörige der Bewaffneten Organe. Zu diesen gehörten neben der (Kasernierten) Volkspolizei, Transportpolizei, Strafvollzug, Grenzpolizei, auch der Zoll, Berufsfeuerwehr, Betriebsschutz und natürlich auch das MfS. Später wurde die KVP durch die NVA "ersetzt".

            Wie damals "abgängiges" Personal (Fahnenflucht aber auch Unerlaubte Entfernung) geahndet wurde, weiß ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, daß neben Aussprachen ("Schimpfe") und Entlassung dem Vorgesetzten ggf. auch andere disziplinarische Mittel, wie Verweis, strengem Verweis über Ausgangssperre und Dienstverrichtung außer der Reihe bis zu einfachem und strengem Arrest - im Rahmen von Disziplinarordnungen - zur Verfügung standen. Am Ende standen Degradierung und Entlassung. Vielleicht gab es auch Geldstrafen (Regress).

            Also, Anlaß zur Sorge gab es genug und dann der Liebeskummer, da war er nicht der Einzige, der keinen Ausweg mehr sah. Da bedurfte es keines MfS oben auf.

            Sehe eben, 1954 wurden 30 vollendete Selbstmorde aus den Reihen der (K)VP registiert:


            Hoffe etwas geholfen zu haben
            Silvio
            Suche FN: Dülge (Stettin, Lublin) / Streich und Hintz (Großpolen, Lublin) / Seeger (Elbing, Danzig und Berlin) / Havemann, Thiede und Stolz (Breslau, Bernau und Berlin).

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