Rechtliche Lage von Abtreibungen im frühen 19.Jh in Württemberg

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  • WastelG
    Erfahrener Benutzer
    • 09.04.2021
    • 591

    Rechtliche Lage von Abtreibungen im frühen 19.Jh in Württemberg

    Hallo in die Runde,

    Ich melde mich mal wieder mit einer Frage: In dem Verhör eines Gerichtsakts (es geht eigentlich um eine "Gewalttat") bin ich auf folgende Schilderung meines 5xUrgroßonkels gestoßen:


    Franz Guerin, Physicus in Herbolz-
    heim.

    29.)
    Ob er am 31.= 8.br v. J. hier
    gewesen seye?

    Ja! an einem Son[n]tag, es werde
    der 31.= 8br gewesen seyn.

    30.)
    In welcher Absicht er hier
    gewesen?

    Um einen Spatziergang zu machen,
    und weil er vorher gehört: dass
    Brüchig eine schwangere Weibs-
    Person hier in der Cur habe, wel-
    cher derselbe vorher ein abtrei-
    bendes Mittel gegeben habe.
    xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
    31.)
    Wer diese Weibsperson gewe-
    sen?

    M. A. Keßlerin. Sie habe am
    Tag nach der Hochzeit ein Kind be-
    kom[m]en.


    Nun würde ich diese Schilderung aus heutiger Sicht eindeutig als (versuchten) Schwangerschaftsabbruch werten*. Nur wundert es mich doch sehr, dass dieser Umstand im Laufe des Gerichtsaktes kein weiteres Mal angesprochen, ja nicht einmal kritisiert worden ist. Freilich, der Untersuchungsgrund ist ein völlig anderer, aber schildert mein Vorfahr hier nicht noch eine weitere Straftat? Oder war die Praxis zu jener Zeit (1803) legal? Das ganze dürfte in Nordweil, Kenzingen passiert sein, also einem württembergischen Fleck im sonst vorderösterreichischen Gebiet. Dr. Guerin selbst kam aber aus dem österreichischen Herbolzheim. Desweiteren wollte ich nochmal sicher gehen, ob denn mit "derselbe" der Befragte, oder doch Brüchig (Chirurg) gemeint ist.

    Ich danke euch im voraus für eure Ideen und wünsche liebe Grüße,
    Sebastian


    *"abtreibende Mittel" ließt man aber in zeitgenössischen Quellen auch in anderen Kontexten.
    Angehängte Dateien
  • Huber Benedikt
    Erfahrener Benutzer
    • 20.03.2016
    • 4650

    #2
    moin
    Bis zum allg. StGB des Reiches von 1871 waren die Strafrechtsnormen höchst unterschiedlich.

    Ich kann hier nur den bairischen Kriminalcodex (von 1751) heranziehen.
    Danach war die Abtreibung in der ersten Schwangerschaftshälfte !!! keine Straftat.
    (Da sieht man wie die Bayern fortschrittlich waren, (oder lags daran, dass soviele no go Schwangerschaften bestanden))
    Grund dafür war sicher die Auffassung der Kirche, die ortsüblich die Gesetzgebung bestimmte,
    daß erst ab dem 40.Tag (bei männl. Embryos) und ab dem 80. Tag (bei weibl.) die Menschwerdung erfolgte.
    (Theorie der sukzessiven Beseelung).
    Vorher war der Embryo "Teil der mütterlichen Eingeweide" !!!. Abtreibung zwar nicht gewünscht aber keine Straftat.

    Aufgrund der Aufklärung und medizinischer Erkenntnisse wurde diese absurde Theorie verworfen
    und ein allg. Abtr.verbot (§218 ff) in das 1871 geschaffene StGB des Dt. Reiches eingeführt
    (bestand bis 1972 !!! mit zwischenzeitl. Verschärfungen im 3. Reich)
    Zuletzt geändert von Huber Benedikt; 30.03.2023, 19:02.
    Ursus magnus oritur
    Rursus agnus moritur

    Kommentar

    • WastelG
      Erfahrener Benutzer
      • 09.04.2021
      • 591

      #3
      Danke schonmal!


      Von der Sukzessivbeseelung habe ich noch nie etwas gehört, könnte aber das ausbleibende Interesse an der Abtreibung erklären. Sehr ... interessante Vorstellung jedenfalls
      Weiß zufällig jemand wo ich die passende württembergische Landesordnung us dieser Zeit finden könnte?

      Kommentar

      • Huber Benedikt
        Erfahrener Benutzer
        • 20.03.2016
        • 4650

        #4
        Von der Sukzessivbeseelung habe ich noch nie etwas gehört

        Hast du deinen Aristoteles nicht gelesen ?
        vgl. Seite 207 f.https://www.bggf.de/cms/assets/conte...h%20Beginn.pdf
        Zuletzt geändert von Huber Benedikt; 30.03.2023, 20:29.
        Ursus magnus oritur
        Rursus agnus moritur

        Kommentar

        • gki
          Erfahrener Benutzer
          • 18.01.2012
          • 4912

          #5
          Ich würde auch mal eruieren, ob eine Abtreibung damals auch eine Abtreibung genannt wurde oder ggf anders.
          Gruß
          gki

          Kommentar

          • WastelG
            Erfahrener Benutzer
            • 09.04.2021
            • 591

            #6
            Hast du deinen Aristoteles nicht gelesen ?
            vgl. Seite 207 f.https://www.bggf.de/cms/assets/conte...h%20Beginn.pdf
            Man stelle sich nur vor was wäre, wenn sich die Ansicht in der christlichen Theologie gehalten hätte...

            Ich würde auch mal eruieren, ob eine Abtreibung damals auch eine Abtreibung genannt wurde oder ggf anders.
            Also der Begriff der Abtreibung hat seit dem frühen 16.Jh mitunter seine heutige Bedeutung (zumindest ist das der älteste Belegblock beim Grimm). Daneben gibt es aber auch noch andere Dinge die damit gemeint sein könnten. Immer aber geht es darum sich von etwas zu entledigen, sein es nun Würmer oder Bäume. Da es in meinem Fall ja relativ eindeutig im Kontext einer Schwangerschaft steht gehe ich schon stark davon aus, dass ein Schwangerschaftsabbruch im modernsten Sinne gemeint ist.

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