Gibt es eine muslimische Ahnenforschung?

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  • Nestroy
    Benutzer
    • 03.04.2021
    • 68

    Gibt es eine muslimische Ahnenforschung?

    Hallo!

    Ich bin gerade neugierig auf die Frage ob es eigentlich auch eine muslimische Ahnenforschung gibt, abseits gut dokumentierter Adels- und Herrscherfamilien natürlich? Könnte z.B. ein einfacher Ägypter aus Kairo oder ein Türke genauso seine Vorfahren bis 1700 zurückverfolgen wie wir es in Europa können?

    Ich weiß nicht, ob sesshafte islamische Nationen (also z.B. schon mal keine Berber oder Beduinen) je in ihrer Geschichte ähnliche Geburts-, Heirats- und Sterberegister für die breite Bevölkerung geführt haben so wie europäische Christen, vllt. im Zuge von profaner Staatsverwaltung? Seit Ende des 1. Weltkriegs gibt es bestimmt auf staatlicher Ebene entsprechende Register, doch was ist mit der Zeit davor? Weiß da jemand etwas?
  • HerrMausF
    Erfahrener Benutzer
    • 31.12.2017
    • 888

    #2
    Es gab ja bis Anfang des 20. Jhd nicht einmal Nachnamen in der Türkei, wenn ich mich recht entsinne. Dürfte wohl noch verrückter werden als die ganzen Friedrich Wilhelms und Marien hier.

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    • nav
      Erfahrener Benutzer
      • 30.03.2014
      • 784

      #3
      Zitat von HerrMausF Beitrag anzeigen
      Es gab ja bis Anfang des 20. Jhd nicht einmal Nachnamen in der Türkei, wenn ich mich recht entsinne. Dürfte wohl noch verrückter werden als die ganzen Friedrich Wilhelms und Marien hier.
      Na ja, Gebiete, in denen zumindest vor Napoleon kaum Nachnamen verwendet wurden, haben wir auch in Deutschland, ebenso in den Niederlanden. Dafür gab es dort natürlich Patronyme.

      Allgemein aber eine sehr interessante Frage, mit der man sich ohne Berührungspunkte natürlich in der Regel nicht beschäftigt. Ich würde es sogar vom Islam losgelöst allgemeiner formulieren, und nach halbwegs flächendeckender Personenstandserfassung fragen, welche nicht durch kolonialen oder sonstigen europäischen/amerikanischen Einfluss entstanden ist. Da stellen sich natürlich Fragen wie z. B. wer die Register aus welchem Grund geführt hat, wie flächendeckend sie tatsächlich sind.

      So etwas wie mit den fehlenden Nachnamen ist dann eine weiterführende Frage nach zusätzlichen Unterschieden und Herausforderungen bei der Ahnenforschung in diesen Gebieten.

      Nico

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      • Nestroy
        Benutzer
        • 03.04.2021
        • 68

        #4
        Ich habe keinerlei Wissen über außereuropäischer Genealogie, jedoch dem chinesischen Kaiserreich traue ich z.B. eine flächendeckende Bevölkerungserfassung durchaus zu, wo dieses ja schon in der Antike ein dichtes Netz an Beamten unterhielt, ja sogar die Beamtenprüfungen so etwas wie ein Höhepunkt des chinesischen Jahres darstellten.

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        • Basil
          Erfahrener Benutzer
          • 16.06.2015
          • 2603

          #5
          Moin!

          Zur Familienforschung in der Türkei gab es kürzlich einen Online-Vortrag.
          Die türkischen Zivilstandsregister sind seit 2018 online zugänglich, mit unschönen Nebeneffekten. Link im Blog.

          CompGen-Blog - Familienforschung in der Türkei – wie geht das?

          Grüße
          Basil
          Zimmer: Oberlausitz und Dresden; Stephanus: Zittau, Altenburg und Ronneburg
          Raum Zittau: Heidrich, Rudolph
          Erzgebirge: Uhlmann, Lieberwirth, Gläser, Herrmann
          Burgenlandkreis: Wachtler, Landmann, Schrön


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          • Gastonian
            Moderator
            • 20.09.2021
            • 5154

            #6
            Hallo allerseits:

            Falls man Englisch lesen kann, gibt es im Familysearch Wiki eine sehr gute Diskussion der genealogisch ergiebigen Quellen des Osmanischen Reiches hier: https://www.familysearch.org/en/wiki/Turkey_Census (sowie auch in den anderen Kategorien unter Record Types in der rechten Spalte).

            So etwas wie eine standesamtliche Registrierung gab es seit etwa 1880; ein erster Versuch einer Volkszählung wurde schon 1831 gemacht. Für frühere Jahrhunderte gibt es noch Steuerlisten, Grundbesitzlisten, usw. Als besonders wertvoll für besitzhabende Familien werden die Erbschaftsprotokolle und die Protokolle von Stiftungen an islamische Einrichtungen (deren Einkünfte über Generationen hinweg zurück an die Erben der Stifter floßen) bezeichnet (beschrieben hier: https://www.familysearch.org/en/wiki...robate_Records).

            VG

            --Carl-Henry


            Nachtrag: Selbst in einem christlich-kolonialen Kontext war flächendeckende Bevölkerungserfassung nicht unbedingt gegeben. Außerhalb von Neuengland ist die Quellenlage in den USA vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ziemlich übel, da es zumeist keine kirchlichen Erfaßungen gab (Ausnahmen: die Quaker und die deutschen Einwandererkirchen). Unter meinen direkten amerikanischen Vorfahren in Virginia und South Carolina habe ich 11 tote Punkte im Zeitraum 1790-1830 und drei weitere im Zeitraum 1760-1780; nur bei einer einzigen Ahnenlinie (welche zeitweilig dem Quakertum anhing) ist es mir gelungen, belegbar zurück in die 1680er Jahre zu gelangen.
            Zuletzt geändert von Gastonian; 16.01.2023, 20:12.
            Wohnort USA

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            • Garfield
              Erfahrener Benutzer
              • 18.12.2006
              • 2216

              #7
              Hallo

              Meine Arbeitskollegin hat mir mal eine App gezeigt, die man als türkische Staatsangehörige für Behörden-Sachen benutzt. Dort werden direkt in der App die Vorfahren angezeigt. Bei ihr (geb. Ende 1990er) geht es glaubs zurück bis zu den Urgrosseltern.
              Viele Grüsse von Garfield

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              • HindeburgRattibor
                Erfahrener Benutzer
                • 24.08.2011
                • 3721

                #8
                Hallo zusammen, da ich selber türkischer Herkunft bin, kann ich auch ein bisschen erzählen.
                Wie bereits erwähnt wurde, kann man die eigenen Vorfahren bis ins 19. Jahrhundert auf der App sehen.
                Abgesehen davon habe ich für die türkische Seite noch nicht wirklich Nachforschungen angestellt. Aus der direkten väterlichen Linie ist mein Ururgroßvater 1857 geboren worden. Von seinem Vater, meinem Urururgroßvater, kenne ich nur den Namen.


                Das ist sehr interessant Carl-Henry, gibt es diese auch online oder sollte ich bei meinem nächsten Besuch in der Türkei mal vor Ort Nachforschungen anstellen?


                Übrigens, wie bereits erwäht, gab es im osmanischen Reich keine Nachnamen. Der "Nachname" wurde durch einen sogenannten Rufnamen ersetzt. Mein Ururgroßvater hieß beispielsweise Hüseyin, sein Vater hieß Hasan. Also wurde mein Ururgroßvater Hüseyin Hasanoglu (Sohn von Hasan) gerufen.


                Geburtsdaten, die vorhanden sind, sind mit Vorsicht zu genießen. Das Geburtsjahr meines Großvaters ist beispielsweise vermutlich falsch. Damals ist man teilweise relativ verspätet zum Standesamt gegangen. Es wurde ebenfalls auch nicht wirklich Wert auf Geburtstage gelegt; viele Leute kannten daher nicht ihren eigenen Geburtstag. Oftmals konnte man die Geburt mit der vorangegangen Ernte in Verbindung bringen. Mein Großvater wurde während der Frühjahrsernte 1929 geboren, weswegen als sein Geburtstag der 1. März angegeben wurde. Ob das wohl wirklich sein Geburtstag gewesen sei, ist fraglich.
                LG HindeburgRattibor

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                • Gastonian
                  Moderator
                  • 20.09.2021
                  • 5154

                  #9
                  Zitat von HindeburgRattibor Beitrag anzeigen
                  Das ist sehr interessant Carl-Henry, gibt es diese auch online oder sollte ich bei meinem nächsten Besuch in der Türkei mal vor Ort Nachforschungen anstellen?

                  Zumindest bei familysearch ist nichts online. Laut denen sind die meisten Erbschafts- und Stiftungsprotokolle entweder im Anthropological Museum in Ankara oder beim Müftülük in Istanbul zu finden, obwohl es auch andere örtliche Archive geben mag. Grundkataster sind anscheinend in einem Katasterarchiv (Tapu ve Kadastro Umum Mudurlugu arşivi) in Ankara und Istanbul. Für Steuerlisten wird das Nationalarchiv (Başbakanlık Osmanlı Arşivi) in Istanbul erwähnt.


                  Diese werden wohl alle in der vor-Atatürk'schen arabischen Schrift geschrieben worden sein.


                  VG


                  --Carl-Henry
                  Wohnort USA

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                  • WastelG
                    Erfahrener Benutzer
                    • 09.04.2021
                    • 660

                    #10
                    Sehr interessante Diskussion!

                    Bezüglich Ägypten kann ich einwenden, dass das Land ja 1799 von Napoleon kurzzeitig besetzt wurde und dadurch einen gewissen "Sonderweg" im Nahen-Osten einschlug. Ob in dieser Frühphase aber bereits Standesregister o.Ä. angelegt wurden bezweifle ich, auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass hier eben vergleichsweise früh vergleichbare Erfassungen vorgenommen wurden. Ich glaube aber, dass das Gebiet von Kleinasien und der Nahe-Osten aufgrund kriegerischer Verheerungen in naher Vergangenheit archivtechnisch relativ unergiebig ist. Alles aber nur Mutmaßungen meinerseits; Berichtigungen/Erläuterungen sind also gerne willkommen!

                    Dabei fällt mir ein, dass einige Kulturen (ich kenne das von Indien) sehr lebhafte mündliche Kultur ausleben und darüber auch (Regional-, Familien- etc.) Geschichte vermittelt wird, die mitunter Jahrhunderte zurückgeht. Das hierbei quellenkritische Beleuchtung umso wichtiger ist versteht sich aber von selbst!

                    Liebe Grüße,
                    Sebastian

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                    • Gastonian
                      Moderator
                      • 20.09.2021
                      • 5154

                      #11
                      Hallo allerseits:


                      Laut familysearch gab es Geburts- und Todesregistrierungen in Ägypten ab 1839, aber richtig durchgesetzt hat sich das Standesamtssystem erst 1907. Es gab auch namentliche Volkszählungen im 19. Jahrhundert, aber die Unterlagen sind zumeistens nicht erhalten geblieben.


                      Ein Name vom Typ "X Sohn von Y" ist ein Patronym und die üblichste Form der Namensgebung vor der Einführung von Familiennamen. In einigen Gebieten wurde der Patronym auch erweitert; in Wales, z.B., wurde oft auch der Großvater erwähnt (Llewelyn ap Dafydd ab Ieuan - Llewelyn Sohn von Dafydd Sohn von Ieuan). Dies scheint auch unter Arabern weit verbreitet zu sein. Laut der englischen Wikipedia ist der volle Name des derzeitigen Emirs von Katar "Tamim bin Hamad bin Khalifa bin Hamad bin Abdullah bin Jassim bin Mohammed Al Thani" - da stecken also sechs Generationen von Vorfahren sowie der Clan-Name drin.


                      VG


                      --Carl-Henry
                      Wohnort USA

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                      • sternap
                        Erfahrener Benutzer
                        • 25.04.2011
                        • 4070

                        #12
                        es gibt diverse yotube dokume tationen mit der frage, ob die queen von mohammed abstamme.
                        ich sehe mir sie nicht an, aber vielleicht erhaltet ihr darin antworten für eure frage.
                        freundliche grüße
                        sternap
                        ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
                        wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




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                        • Bienenkönigin
                          Erfahrener Benutzer
                          • 09.04.2019
                          • 1870

                          #13
                          Zitat von Alter Mansfelder
                          Hallo zusammen,

                          ein interessantes Thema, auch wenn man davon nicht selbst betroffen ist. Gibt es auf dem Land und in den Städten keine separaten Quellen wie Kauf-, Erb- und Eheverträge usw., über die man weiter zurückkommt? Und woher wissen eigentlich die gerade schon angesprochenen Aschraf und Sada, dass sie "dazugehören", und wie zuverlässig mögen die Datengrundlagen sein?
                          Ich lese gerade ein sehr interessantes Buch: Warum Europa?: Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs

                          Ich komme nur langsam voran, weil ich abends nicht mehr so aufnahmefähig bin und es sich eigentlich nicht an komplette Laien richtet.

                          Darin wird jedenfalls beschrieben, wieso z.B. der islamische Raum sich schon im Mittelalter anders entwickelt hat, und welchen Anteil daran sowohl Landwirtschaft als auch Religion spielten.

                          Sehr verkürzt: Das dortige System hat patrilineare Strukturen massiv begünstigt, mit dem Nebeneffekt, dass das Heiratsalter (vor allem für Frauen) sehr niedrig war, weil der Druck auf das "Produzieren" eines männlichen Erben in der Clangesellschaft sehr stark war.

                          Die Namensgebung hat die Zuordnung über viele Jahrhunderte dabei gefestigt, so dass es mich nicht wundern würde, wenn tatsächlich so lange Abstammungslinien belegbar oder zumindest wahrscheinlich sind.

                          Ich muss mal einige Auszüge aus dem Buch zusammenschreiben, denn ich hatte so viele Aha-Momente, die ich gerne teilen würde.

                          Viele Grüße
                          Bienenkönigin
                          Meine Forschungsregionen: Bayern (Allgäu, München, Pfaffenwinkel, Franken, Oberpfalz), Baden-Württemberg, Böhmen, Südmähren, Österreich

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                          • Pavlvs4
                            Erfahrener Benutzer
                            • 25.05.2020
                            • 225

                            #14
                            Genealogie spielte in der muslimischen Welt besonders im Mittelalter während des Kalifats eine wichtige Rolle. Die Legitimation eines Kalifats wurde auf die verwandtschaftliche Nähe zum Propheten fundiert, wobei der Nachweis von der Zugehörigkeit zum Großclan der Quraisch, dem der Prophet angehörte, ausschlaggebend war.

                            Viele bedeutende Clans, wie die Haschimiten (Jordanien), sind Ableger der Quraisch. Als 1922 das osmanische Kalifat abgeschafft wurde, versuchte sich ein Haschimite (ein Vorfahr des heutigen Königs von Jordanien) zum Kalif aufzuschwingen. Die in Mekka lebenden Angehörigen des Prophetenhauses, die sogenannten "Edlen" (Scherifen), haben über die Jahrhunderte hinweg ihre Genealogie gepflegt, da eine Verwandtschaft zum Propheten mit gewissen Privilegien verbunden war.

                            Eine bedeutende Gruppe stellen auch die Aliden dar, Nachfahren des Propheten-Cousins und Schwiegersohnes Ali. Diese spielen im schiitischen Islam eine herausragende Rolle, gelten doch nur sie als die legitimen Anführer (Imame) der muslimischen Gemeinschaft. Der Imam der Nizari-Ismailiten Aga Khan IV. gilt beispielsweise als Nachkomme des Ali und der Prophetentochter Fatima.

                            Je nach Standpunkt galten und gelten solche Genealogien aber auch als Umstritten. So warfen sich unterschiedliche Fraktionen regelmäßig eine genealogische Fiktion vor, um die Legitimität der anderen Seite zur Herrschaft in Abrede zu stellen. Ein historisch bekanntes Beispiel sind die Fatimiden, die ja auch die Vorfahren des Aga Khan IV. sind.

                            Aber auch Abseits der Herrschergenealogien spielte die Abstammung, besonders für muslimische Araber, immer eine große Rolle, wie ihre Namensgebung verdeutlicht, die oftmals eine regelrechte Kette von Patronymen erzeugen konnte.

                            Beispiele:



                            Inwiefern die "Ahnenpflege" nach dem Ende des Mittelalters und dem Niedergang des arabischen Kalifats (die türkischen Osmanen waren keine Angehörige des Prophetenhauses) überhaupt noch eine Rolle spielte, kann ich nicht erahnen. 2016 proklamierte sich der Terroristenführer al-Baghdadi selbst zum Kalif des "islamischen Staates" und zog dabei die Behauptung von einer Zugehörigkeit zum Quraisch-Clan als Legitimation heran, die er aber wohl nie belegen konnte.

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