Heute vor 75 Jahren...

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  • Scherfer
    Moderator
    • 25.02.2016
    • 2742

    Heute vor 75 Jahren...

    ...war die Befreiung von Auschwitz. Ich finde durchaus, dass man auch das einmal in diesem Forum nennen kann und sollte, denn für mich gibt es klare Bezüge zu unserem Hobby. Ich meine nicht nur die wertvolle Arbeit einzelner zur Klärung der Schicksale der Ermordeten und deren Familien. Ich meine auch jeden einzelnen von uns. Und ich meine auch nicht nur den Nationalsozialismus.

    Menschen in unseren Vorfahrenlinien sind durch Kriege gestorben, entweder direkt durch Waffengewalt oder auch indirekt, z.B. durch Hungersnöte. Menschen wurden vielfach verfolgt, oft allein aufgrund ihrer Herkunft und Nationalität. Menschen flüchteten, auch ins Ausland.

    Unter meinen eigenen Vorfahren waren Hugenotten, die aus Frankreich in deutsche Kleinstaaten flohen, Schweizer Einwanderer, die nach dem Dreißigjährigen Krieg die leergefegten Landstriche im heute deutschen Gebiet wiederbesiedelten. Schwestern und Brüder von Vorfahren wanderten in Hoffnung auf ein besseres Leben über den Atlantik aus. Andere besiedelten um 1800 Dörfer im heutigen Polen, ihre Nachfahren wurden in Folge des 2. Weltkriegs ausgewiesen.
    Wäre meine Großmutter nur eine Generation früher geboren worden, so hätte sie im Dritten Reich jüdische Vorfahren in ihrer Ahnenliste aufführen müssen. Gleichzeitig heiratete sie einen Mann, der der Ideologie der Nazis zumindest zeitweise erlag und zum Mittäter wurde, wenn auch nicht in gehobener Position. Pfarrer und Pfarrerskinder unter den Ahnen waren in der Bekennenden Kirche, andere Vorfahren waren in der NSDAP. Und das Thema dahinter: Krieg, immer wieder Krieg und Vernichtung.

    Ahnenforschung wurde im Verlauf der Geschichte immer wieder dazu missbraucht, um die Nachfahren der einen als etwas "Besseres" darzustellen als andere. Das war nicht nur während des Nationalsozialismus so. Auch heute noch liest man hier und da von Leuten, die die adeligen Vorfahrenlinien mehr schätzen als die "einfachen Bauern". Das allein mag noch nicht verwerflich sein, kann aber doch die Vorstufe zu der oben genannten Geringschätzung anderer sein und damit geschichtlich weitreichende Folgen haben. Wir leben in einem Land, einer Zeit, in der es wieder abwertende Rufe zu anderen Völkern und Religionen gibt - online wie offline. Ich würde mir wünschen, dass viele von uns Hobby-GenealogInnen ganz andere Schlüsse aus unserem liebsten Hobby ziehen:

    Nämlich alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welcher Religion und Nationalität oder geschlechtlichen Orientierung, zu achten und wertzuschätzen, jede und jeden in ihrem Lebenszusammenhang. Und daran mitzuwirken, zu verhindern, dass andere in unserem Umfeld diskriminiert und verachtet werden. Denn als GenealogInnen wissen wir doch eigentlich genau: In jedem von diesen anderen Menschen könnte ein Teil von uns selbst sein und verwandt sind wir letztlich alle - wenn auch teilweise vor sehr langer Zeit.
    Zuletzt geändert von Scherfer; 27.01.2020, 10:52.
  • Bienenkönigin
    Erfahrener Benutzer
    • 09.04.2019
    • 1876

    #2
    Vielen Dank für diesen überlegten Beitrag.

    Ich kann dem auf jeden Fall zustimmen:
    Durch unser Hobby bekommt die Geschichte tatsächlich ein Gesicht, oder tatsächlich viele Gesichter und Namen.
    Ereignisse bekommen einen Bezug zu uns, weil unsere Vorfahren manchmal nur durch Glück überlebt haben und sehr oft Hartes durchgemacht haben.

    Es waren Menschen wie wir, manche kann man bewundern, manche stehen da in ihren Fehlern und auch Verblendungen.
    In meiner Verwandtschaft gibt es solche, die sich gegen die Nazis aufgelehnt haben und begeisterte Mitläufer, vielleicht auch Mittäter.
    Nicht schön, wenn man das herausfindet (oder in einem alten Atlas Zeitungsausschnitte mit antisemitischen Texten findet).

    Aber wir mit unserem heutigen Wissen tragen Verantwortung, dass sich so etwas nicht wiederholt.
    Und wenn ich auf Ahnenpässe oder ähnliches zurückgreife, das die Vorfahren vielleicht aus ideologischen Überlegenheitsgefühl angelegt haben, bin ich mir doppelt bewusst, dass ich das heute nicht aus dem gleichen Grund tun sollte.

    Nicht viele unserer Vorfahren konnten so viel Freiheit und Frieden genießen wie wir.
    Meine Forschungsregionen: Bayern (Allgäu, München, Pfaffenwinkel, Franken, Oberpfalz), Baden-Württemberg, Böhmen, Südmähren, Österreich

    Kommentar

    • sonki
      Erfahrener Benutzer
      • 10.05.2018
      • 5604

      #3
      In der Tat ein guter und richtiger Text, insbesondere für ein Genealogieforum.

      Wie wohl die meisten hier, waren unsere Ahnen damals direkt oder indirekt beteiligt. Manchmal als Täter, manchmal als Opfer und viel zu oft als Mitläufer. Die Frage heute darf nicht nur sein was die Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern im Krieg gemacht haben, sondern auch in den 10+ Jahren davor. Ausschwitz fing nicht 1939 an, die Grundlagen wurden viele Jahre vorher gelegt. Und irgendjemand hat die späteren Hauptverantwortlichen ja auch gewählt. Schuldig waren eben nicht nur die, welche den Finger am Abzug hatten.

      Es lohnt sich die alten Zeitungen Ende der 1920er bis in die späten 1930er mal bewusst zu lesen. Dieser schleichende Prozess, die sich verändernde immer roher werdene Sprache, diese Schuldsuche bei den "anderen", das Betonen des "Deutschtums" usw. usf..
      Und wenn man dann heutige Reden, Verlautbarungen aus der braunen und blauen Ecke liest, oder deren Fangemeinde bei Facebook & Co. sowie draußen auf den Straßen, dann sind einige Paralellen deutlich erkennbar.

      Mit dem heutigen Wissen, erworben durch die Nachforschungen bei der Ahnensuche, würde ich gerne nochmal mit meinen Großeltern darüber reden wollen, wenn sie denn noch leben würden. Oder mit meinem Großonkel, den ich nur in bester Erinnerung habe, der aber, wie sich herausgesellt hat, für eine gewisse Zeit bei der SS war und laut Einschätzung seiner Vorgesetzten ein überzeugter Nationalsozialist war. Tja, sowas macht schon nachdenklich.

      Der heutige Tag sollte nur eine Reaktion in uns auslösen: Nie wieder!
      (und das nicht nur als schöne Floskeln formuliert, sondern dem auch Taten folgen lassen)
      ¯\_(ツ)_/¯

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