Verständnisfrage zu den Zeugen einer Urkunde von 1647: Eure Meinung ist gefragt!

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  • consanguineus
    Erfahrener Benutzer
    • 15.05.2018
    • 7437

    Verständnisfrage zu den Zeugen einer Urkunde von 1647: Eure Meinung ist gefragt!

    Hallo zusammen!

    Hier habe ich den Schluss einer Urkunde, die einen Streit zwischen zwei Parteien beendet. Es sind die Zeugen aufgeführt.

    Für die eine Partei: Tiele Bothell, Joachim Pöling und Hanß Botell.

    Für die andere Partei: Hanß Botell, Hans Tübbecke und Hanß Alschleben.

    Letztere konnten ihre Namen offensichtlich selbst schreiben, was nicht verwundert, da sie Ratsherren bzw. Bürgermeister waren. Aber die anderen drei Zeugen schienen des Schreibens unkundig gewesen zu sein.

    "Uff Hans Berns? Bitte habe ich dieses
    unterschrieben, Heinrich Botel der Elter,
    Und Hans Diederich zu Heber hat
    Jochim Poling ihre Nahmen uf ihre
    Bitte unterschrieben
    Uff Thielen Lüers Bitte ist sein
    Nahme hierunterschrieben worden."

    Es sieht so aus, als würden die Zeugen in der Aufzählung mit ihrem richtigen Familiennamen genannt werden, aber danach, als es darum geht, wer für wen die Unterschrift geleistet hat, mit einem Aliasnamen. Zumindest diejenigen, die den in diesem Dorf extrem häufigen Familiennamen Bot(h)ell führten. Kann es also sein, dass diese Aliasnamen in diesem Fall zur besseren Unterscheidung verwendet wurden? Thiele Bothell alias Lüers bzw. Hans Botell alias Berns (oder was auch immer da steht). Möglicherweise hieß Thieles Vater mit Vornamen Lüer oder Lüder und Hans' Vater hieß vielleicht Berend mit Vornamen. Um die vielen Familien gleichen Namens auseinanderhalten zu können, hat man sich, so kommt es mir vor, diese Aliasnamen ausgedacht.

    Diese Urkunde wurde 1647 aufgesetzt. Später im 17.Jahrhundert sind Familienzweige bekannt, die die Aliasnamen Drewes und Tiele führten. In diesen Fällen hießen die Väter Andreas bzw. Tiele mit Vornamen. Teilweise findet man diese Aliasnamen auch im Kirchenbuch. Manchmal hatten die Aliasnamen in diesem Dorf mehr als eine Generation Bestand.

    Was meint Ihr zu meiner Theorie? Ist Euch so etwas auch schon begegnet, dass die verschiedenen Zweige einer Familie in einem Dorf oder eng begrenztem Gebiet zur besseren Unterscheidbarkeit mehr oder weniger dauerhafte Aliasnamen erhalten haben? In welchen Gegenden kam so etwas vor? Und zu welchen Zeiten?

    Freue mich auf rege Diskussion!
    consanguineus


    Screenshot (45).png
    Zuletzt geändert von consanguineus; 20.03.2025, 23:40.
    Daten sortiert, formatiert und gespeichert!
  • Gastonian
    Moderator
    • 20.09.2021
    • 5440

    #2
    Hallo consanguineus:

    1) Da alle sechs Unterschriften in der gleichen Hand geschrieben sind, scheint dies nicht die Originalurkunde zu sein, sondern eine Abschrift (in einem Gerichtsbuch?).

    2) Zumindest in der ersten Generation sind dies ja nicht Aliasnamen, sondern Patronyme - in vielen Gegenden eine ältere Form der Namensgebung, die z.B. in Wales bis ins 17. Jahrhundert, in Ostfriesland bis ins 18. Jahrhundert, und im ländlichen Norwegen bis um 1920 gebraucht wurde. Aber im deutschen (nicht-friesischen) Raum sind mir Patronyme in der Zeit des 30-jährigen Krieges noch nicht vorgekommen. Reichen die Amtsrechnungen oder andere Register genug weit zurück, um in dieser Gegend den Uebergang von Patronymen zu vererblichen Familiennamen auf dem Lande zu dokumentieren - und daher, wie atavistisch würde eine Rückkehr zur Benutzung von Patronymen sein?

    VG

    --Carl-Henry
    Wohnort USA - zur Zeit auf Archivreise in Deutschland

    Kommentar

    • consanguineus
      Erfahrener Benutzer
      • 15.05.2018
      • 7437

      #3
      Guten Morgen Carl-Henry!

      Zu 1: Ja, die "gleiche Hand" ist mir auch aufgefallen. Die Urkunde findet sich aber nicht in einem Gerichts- oder Handelsbuch. Sie liegt lose in einer Art von Sammlung ähnlicher Urkunden, die alle dieselbe Streitigkeit behandeln.

      Zu 2: Formal handelt es sich natürlich, da hast Du vollkommen recht, ursprünglich um Patronyme, wie ja überhaupt eine Vielzahl der typischen hiesigen, also "zwischen Harz und Heide" vorkommenden Familiennamen (z.B. Behrens, Bartels, Ahrens, Brandes, Fricke, Borchers, Heinecke, Lüders, Meiners, Diederichs) ursprünglich patronymisch abgeleitet sind. Aber die Familiennamen sind Mitte des 17. Jahrhunderts in dieser Gegend schon mindestens 200 oder 300 Jahre fest. Ganz selten werden hier zu der Zeit, also im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert noch Aliasnamen vergeben. Diese sind dann meiner Beobachtung nach immer Patronyme. Und immer ist diese Beobachtung mit der Situation verbunden, dass es in einem Dorf viele Höfe gibt, die sich in den Händen verschiedener Mitglieder einer gleichnamigen Großfamilie befinden, vielleicht, aber nicht zwingend, noch verbunden mit dem Umstand, dass aus einem dummen Zufall heraus mehrere Hofeswirte dieser Großfamilie auch noch den gleichen Vornamen tragen. Es hat also offenbar etwas mit dem Wunsch nach besserer Unterscheidbarkeit der einzelnen Familienzweige zu tun.

      Interessant ist, dass der eigentliche Familienname im "offiziellen" Kontext (z.B. Lehns- oder Prozessakten) weiterhin gebraucht wird, dorfintern jedoch der Aliasname. Sogar die Pastoren haben diesen nicht selten in den Kirchenbüchern benutzt, die insofern, trotz ihres offiziellen Charakters, eine Ausnahme darstellen. Überhaupt erfährt man oft erst aus den Kirchenbüchern davon. Meistens ist der Aliasname nach einer oder zwei Generationen wieder verschwunden. In einem einzigen Fall habe ich den Verdacht, dass er den eigentlichen Familiennamen etwa um oder kurz vor 1600 dauerhaft ersetzt hat. Ja, die Rückkehr zur Benutzung von Patronymen könnte man durchaus als Atavismus bezeichnen, wenn sie denn nachhaltig wäre. Aber das ist sie ja nicht. In einigen Dörfern nimmt man die Unterscheidung gleichnamiger Hofeswirte mit einem Hinweis auf die Lage des jeweiligen Hofes in der Örtlichkeit vor ("hinter der Kirche"). Anderswo setzt man das jeweilige Alter der Einzelpersonen in ein Verhältnis ("junior", "senior"), was aber natürlich keine dauerhaft brauchbare Lösung ist. Und selten werden eben Aliasnamen vergeben, die parallel zum eigentlichen Familiennamen gebraucht werden.

      Viele Grüße
      consanguineus
      Zuletzt geändert von consanguineus; 21.03.2025, 09:41.
      Daten sortiert, formatiert und gespeichert!

      Kommentar

      • Gastonian
        Moderator
        • 20.09.2021
        • 5440

        #4
        Hallo consanguineus:

        Ja, die Unterscheidung durch Rangfolge kenne ich auch von Frankenberg/Eder im 18. Jahrhundert (senior, junior, oder major, medius, minor, oder gar senior, junior, tertius, quartus), und auch die Bezeichnung nach Ort (Curt Beyer in der Steingasse und Curt Beyer in der Schmiedgasse), und sogar eine Art Patronym (Johannes Beyer Sohn von Werner, Johannes Beyer Sohn von Henrich) - aber immer nur als Zusatz zu dem Familiennamen (etwa 4% der 16.000+ Personen in meiner bisherigen Erfassung haben den Nachnamen Beyer), nie als Ersatz wie in deinem Fall. Die ersten zwei Arten, aber nicht die Patronyme wurden auch in den Geschoßregistern benutzt. Und die Zusätze waren auch nicht fest - der Henrich Beyer tertius in einem Kirchenbucheintrag war auch der Henrich Beyer in der Neustadt in einem anderen.

        VG

        --Carl-Henry
        Wohnort USA - zur Zeit auf Archivreise in Deutschland

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