Noch eine Geschichte aus meiner Vaterlinie

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  • Tenger
    Benutzer
    • 04.02.2020
    • 49

    Noch eine Geschichte aus meiner Vaterlinie

    Hallo. Manche erinnern sich vielleicht noch an die kleine Geschichte aus meiner Vaterlinie, die ich mit euch geteilt hatte. Ich habe dieses mal die Mutterlinie meiner Vaterlinie erforscht und bin auf eine zwar nicht ganz so spektakuläre wie die vorherige, jedoch trotzdem Interessante Geschichte gestoßen, die ich auch mit euch teile möchte. Ich empfehle allen die die andere Geschichte noch nicht gelesen haben, es zu lesen, um ein paar Zusammenhänge verstehen zu können.

    Wir schreiben vermutlich die 1860er oder 1870er in Zentralanatolien. Das Osmanische Reich hat es endlich geschafft, die nomadisch lebenden Afscharen zur Sesshaftigkeit zu zwingen, sodass Sicherheit und Ordnung in Zentralanatolien hergestellt werden kann. Mein 4x bzw. 5x Uropa (Name unbekannt) und seine Familie, die dem afscharischen Clan "Celiloglu" oder "Celiluşağı" (dt. Söhne Celils) angehören, setzen sich im heutigen Dorf Büyükyapalak, Kahramanmaras im damaligen Vilayet Aleppo, nieder. Mein 4x/5x Uropa hat min. 4 Söhne (genaue Anzahl unbekannt). Einige Zeit später taucht im Dorf eine kleine Truppe von 40 Soldaten auf und schlagen dort ihr Lager auf. Warum sie dort sind ist ebenfalls unbekannt. Ich vermute mal, dass die Sesshaftigkeit kontrolliert werden sollte. Die Truppe fordert immer wieder Nahrungsmittel, Kleidung und die damals gängige Naturalsteuer "Öşür" von der Dorfbevölkerung an. Meine Vorfahren gehen diesen Nachforderungen immer wieder nach und versorgen die Soldaten mit Brot und Fleisch, obwohl Vieh zu der Zeit der wertvollste Besitz der ehemaligen Nomaden ist. Bald stellen sie jedoch eine sehr inakzeptable Forderung, die die Situation zum Eskalieren bringen wird. Hierbei muss man bedenken, dass die damaligen Afscharen sehr stolze und auf die Ehre extremen Wert legende Menschen waren. So eine Forderung galt als ein Todesurteil für die Fordernden. Da die Soldaten bereits sehr lange Zeit weg von ihren Familien und Frauen fern sind, fordern sie insbesondere von meinen Vorfahren Frauen zur sexuellen Befriedigung. Diese Forderung macht sie sehr wütend jedoch können sie nichts dagegen machen. Zumindest nicht auf aktivem oder direktem Wege. Denn sie sind deutlich in der Unterzahl. Meine Vorfahren erzählen voller Wut und Empörung von dieser Forderung umgehend der Oma (es wird hier nicht erwähnt welche oder wessen Oma und warum man sie um Rat fragt. Vermutlich war sie die älteste und/oder weiseste im Clan). Diese bleibt der Erzählung nach sehr entspannt und sagt, dass sie der Forderung nachgehen sollen. Empört erwidern die Männer, wie man so einer Forderung nachgehen könne. Die Oma macht ihren Enkeln und Söhnen daraufhin nochmal bewusst, dass sie erstens in der Unterzahl und zweitens waffentechnisch sehr schlecht ausgerüstet sind. Sie offenbart ihnen einen Plan, wie sie die Soldaten loswerden und diese Beleidigung bestrafen können. An einem Abend soll den Soldaten ein Festmahl mit allem was meine Vorfahren zu bieten haben, zubereitet werden. Darunter auch Alkohol. Der Alkohol soll die Soldaten betrunken machen. Daraufhin sollen sich die Männer als Frauen verkleiden und die Soldaten in die zuvor für den Plan errichteten Jurten, in den Hinterhalt locken. Gesagt getan ruft nun die Oma "Meine Söhne habt ihr die Kamele gefüttert?", "Ja" rufen die Söhne und Enkel zurück, "Habt ihr die Kamelbabys auch gefüttert?", "Ja" rufen sie erneut zurück. Die Kamele stehen als Deckwort für die Gewehre und die Kamelbabys für Revolver/Pistolen. Danach geht in den Jurten das Blutbad los. Alle (?) Soldaten werden getötet. Noch in der selben Nacht packen die vier Brüder alles was sie haben und fliehen mit ihren Familien davon. Manche (vermutlich weitere Geschwister) sollen jedoch im Dorf verblieben sein, weil sie zu alt waren oder zu viel Vieh und Besitz hatten um damit flüchten zu können. Die vier Brüder fliehen in das in Kayseri liegende Dorf Yalak. Alle lassen sich vorerst dort nieder.

    Nach paar Jahren gelangt wie auch immer ein Sohn der Brüder zu hohem Reichtum und kauft zwei große Felder. In Yalak ein 80 ha großes und in Adana, Ceyhan ein 120 ha großes Feld. Da es jedoch zu schwer ist, zwei Felder in zwei weit entfernten Orten zu bestellen, entscheiden sich die Söhne von zwei der vier Brüder dazu nach Adana, Ceyhan umzuziehen und das heute noch existierende Dorf "Celiluşağı" (zu deutsch Söhne Celils) zu gründen. Das 80 ha große Feld in Yalak überlässt er seinem Cousin. Einer der zwei Brüder zieht dann sogar noch weiter nach Hatay, Kirikhan und gründet das Dorf "Celiller" (wortwörtlich zwar die Celils, sinngemäß jedoch auch Söhne Celils). Die zwei Brüder die in Yalak geblieben waren leben weiterhin mit ihren Familien dort. Sie sind übrigens beide meine direkten Vorfahren. Der Eine heißt Ali, ist mein 3x Uropa und der Opa meiner Uroma. Der Andere heißt Halil, ist mein 4x Uropa und der Uropa meines Uropas. Beide sind später in Kriegen gefallen. Auch mein 2x Uropa Veli (Sohn Alis) und mein 3x Uropa Halil (Sohn Halils) sind in Kriegen gefallen.

    Zwischen den Nachfahren der vier Brüder gab es noch bis vermutlich in die 1970er Jahre intensiven Kontakt auch wenn dieser mit dem Aussterben der älteren Generationen immer weniger wurde. Selbst meine Uroma reiste wohl noch zu ihren Verwandten in Adana wie sich meine Oma und ein Kontakt aus Adana erinnern. Auch heute gibt es zwar noch Kontakt jedoch auch hier nur zwischen den Älteren und auch nur höchstens einmal im Jahr. Mit dem einen Bruder der weiter nach Hatay reiste, reißte der Kontakt wohl schon viel früher ab. Ganz zu schweigen von denen die in Kahramanmaras geblieben waren. Die Nachfahren die in Hatay und Kahramanmaras leben wissen wohl noch nicht einmal, dass sie Verwandte in Adana und Kayseri haben. Bei einem Kontaktversuch aus Adana gab es wohl kaum bis kein Interesse an der gemeinsamen Geschichte und wurde deshalb nicht weiter verfolgt. Ich habe es mir nun zur Aufgabe gemacht, in Kontakt zu treten. Vielleicht habe ich Glück und kann nähere Details erfahren.

    So das war noch eine meiner Familiengeschichten, die ich gerne mit euch teile. Als nächstes werde ich mit euch die Geschichte der Mutterseite meiner Mutterseite teilen, die meine Oma in ihren 300 Seiten niedergeschrieben hat. Da wird die Reise von Konya nach Bulgarien in ein leidvolles und trauriges Leben und später wieder wie eine Erlösung zurück nach Konya führen.


    LG Tenger


    Zuletzt geändert von Tenger; 03.01.2022, 02:08.
    Meine Familiengeschichten:
    Vaterseite väterlicherseits
    Mutterseite väterlicherseits

    Der Rest folgt
  • sternap
    Erfahrener Benutzer
    • 25.04.2011
    • 4070

    #2
    ich bin neugierig, welche religion deine nomadischen vorfahren hatten, wie man die frauen kleidete und welche rechte sie hatten, welche rolle lieder und gedichte bei der überlieferung spielten und wer singen bzw. lyrik vortragen durfte.


    bisher hatte ich mich gewundert, weshalb der kültür müdürlü vom konya besonders interessante lyriker und musiker engagieren konnte, mindestens gleich viel frauen wie männer.
    freundliche grüße
    sternap
    ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
    wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




    Kommentar

    • sternap
      Erfahrener Benutzer
      • 25.04.2011
      • 4070

      #3
      weshalb waren die nomaden nachkommen anatoliens für mich interessant?




      weil es deutschen und österreichern gelang, den repressalien im 3. reich nach anatolien bzw. in die türkei zu entkommem.
      der bekannteste ist wahrscheinlich architekt clemens holzmeister.
      auf der webseite der
      Schweizerische
      Orientteppichhändler
      Vereinigung SOV, klick auf wissen, klick auf herkunftsländer, klick auf iran, klick auf süd ostiran um kirman, sieht man zelte und teppiche heute noch nomadischer afscharen.
      beim nachfolgenden link bitte die zwei sternchen weglöschen, dann klappt es.




      https://**www.sov-et.ch/wissen/herku...iran-um-kirman
      freundliche grüße
      sternap
      ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
      wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




      Kommentar

      • Tenger
        Benutzer
        • 04.02.2020
        • 49

        #4
        Hallo. Was die Religion der Nomaden betrifft war es etwas kompliziert. Die Oghusen waren zwar schon seit ungefähr dem 10. Jh zum sunnitischen Islam übergetreten, jedoch waren in dem damaligen türkischen Islam noch viele tengristische Einflüsse vorhanden. Auch die ersten oghusischen Einwanderer im 11. Jh in Anatolien hatten noch eine vom Tengrismus beeinflusste sunnitische Ausrichtung des Islam als Religion. In den nächsten Jahrhunderten wurde die Bevölkerung auf Anatolien, vor allem Nomaden, vom Sufismus beeinflusst. Da Nomaden nicht Sesshaft waren und es somit keine Institution in ihrer Umgebung gab die den "richtigen" Islam lehren könnte, wurden sie besonders stark von Mystikern und deren Gelehrten sowie Derwischen beeinflusst. Diese waren bei Nomaden hoch angesehen und geehrt. Ich weiß nicht mehr wann genau es war, aber irgendwann später kam ein Schiitischer Gelehrter von Persien nach Anatolien und beeinflusste aggressiv das religiöse Bild der Nomaden mit dem Schiitischen Islam. Dem Osmanischen Reich blieb dies natürlich nicht verborgen. Sie versuchten zu intevenieren und den Schiitischen Gelehrten loszuwerden. Die Beeinflussung seinerseits war teilweise so weit fortgeschritten, sodass einige nomadische Clans sich dem Reich widersetzten und den Gelehrten verteidigten und auch versteckten. Schlussendlich gelang es dem Gelehrten wieder nach Persien zu fliehen. Der Gelehrte war zwar weg jedoch war der Schiitische Einfluss geblieben. Das sind übrigens die Wurzeln des Alevitentums. Dieser wurde jedoch damals noch nicht so wie heute wahrgenommen. Als Selim I. an den Thron des Osmanischen Reiches kam und später das Kalifat übernahm, führte er den orthodoxen sunnitischen Islam ein und versuchte weitesgehend alle abergläubischen, vom Tengrismus und den Mystikern übernommene Ansichten zu eliminieren. Dabei ging es sowohl friedlich als auch gewaltsam vor. Friedlich ging es zu indem er Imame ausbilden lies und zur "Missionierung" losschickte, was zumindest bei Nomaden nicht zu hundert Prozent geklappt hat. Gewaltsam logischerweise mit Waffengewalt. Mystiker und Derwische wurden verfolgt und es wurde versucht jegliche Form des Sufismus aber vor allem die vom Schiitischen Islam beeinflusste Bevölkerung, auszulöschen. Dies gelang jedoch nicht zu hundert Prozent und es blieben trotzdem ein paar Mystiker und Derwische über, die auch später wieder ihre Institutionen gründeten. Aufgrund dieser Ereignisse schüren Alveiten immer noch großen Hass gegenüber Selim I., weswegen auch die Namensgebung der 3. Brücke Istanbuls, die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke eine Debatte auslöste.

        Selbst meine nomadischen Vorfahren hatten noch nach heutiger Ansicht seltsame, abergläubische und unorthodoxe Praktiken und Rituale durchgeführt. Der Teil heute in Kahramanmaras verbliebenen Vorfahren sind wohl alevitisch. Alle anderen sunnitisch.


        Was die Lyrik betrifft: Lyrik gab es bei Nomaden eig fast nur in Form von Elegien (fast ausschließlich von Frauen gesungen) und Geschichten, die an Helden(taten), Familiengeschichten und Märchen erinnern. Da gab es einen sehr bekannten afscharischen Lyriker Namens Dadaloglu. Von ihm sind sehr viele Gedichte erhalten geblieben. Auch höchstwahrscheinlich eines über die Vaterseite meiner Vaterseite, wo er von einem Streit erzählt. Das Besondere an Dadaloglu ist, dass er die Gedichte im Zentralanatolischen Dialekt gesungen hat, während die zeitgenössischen Osmanischen Dichter und Lyriker in Osmanisch dichteten. Osmanisch war eine vom Persischen und Arabischen stark beeinflusste türkische Sprache, die Nomaden wahrscheinlich kaum verstanden haben. Diese Elegien und Gedichte sind wichtige Quellen für Familienforschung, da Nomaden nichts schriftliches Hinterlassen haben (zumindest trifft dies auf meine Vorfahren zu). Was hier jedoch ein Problem darstellt ist, dass die Erzählungen bewusst oder unbewusst falsch weitergegeben worden sein können. Des Weiteren reicht das Repertoire in den meisten Fällen nur bis 150 Jahre in die Vergangenheit, weil sehr vieles in Vergessenheit geriet und und noch gerät.
        Meine Familiengeschichten:
        Vaterseite väterlicherseits
        Mutterseite väterlicherseits

        Der Rest folgt

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        • sternap
          Erfahrener Benutzer
          • 25.04.2011
          • 4070

          #5
          herzlichen dank für deine beschreibung deiner kultur.


          im ahrtal, nach dem verheerenden hochwasser in diesem jahr , haben sich längst deutsch gewordene aleviten aus eigenem antrieb mitfühlend und liebevoll um die leibliche und seelische not der obdachlos gewordenen bevölkerung gekümmert.


          außer ihnen waren noch die ahmadiyya als unermüdliche helfer tätig. ihre ansicht zur stellung der frau in der gesellschaft und zu den religiösen lehren insgesamt, ist der alevitischen entgegengesetzt, dennoch arbeiteten die zwei gruppen friedlich nebeneinander für das wohl der einheimischen.
          freundliche grüße
          sternap
          ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
          wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




          Kommentar

          • Sbriglione
            Erfahrener Benutzer
            • 16.10.2004
            • 1296

            #6
            Auch von mir herzlichen Dank!

            Auch wenn Du aufgrund des Fehlens einer schriftlichen Überlieferung nur wenig an Daten hast, hast Du doch eine ganze Menge an Geschichten und Hintergrund zu Deinen Vorfahren, die vielfach mit so ganz anderen Bedingungen zu kämpfen hatten, als zum Beispiel meine Vorfahren (bei denen ich zwar viele Daten habe, zu denen aber dann häufig die Geschichten fehlen).

            Herzliche Grüße!
            Suche und biete Vorfahren in folgenden Regionen:
            - rund um den Harz
            - im Thüringer Wald
            - im südlichen Sachsen-Anhalt
            - in Ostwestfalen
            - in der Main-Spessart-Region
            - im Württembergischen Amt Balingen
            - auf Sizilien
            - Vorfahren der Familie (v.) Zenge aus Thüringen (u.a. in Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und NRW)
            - Vorfahren der Familie v. Sandow aus dem Ruppinischen

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