Tagebuch eines Schiffsmissionars (im Herbst 1871 auf dem Segelschiff "Electrik" nach New York)

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  • dorsch
    Erfahrener Benutzer
    • 24.12.2011
    • 295

    Och, wie schaaade! - Auch von mir (nochmals) ganz herzlichen Dank!
    „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

    Suche nach FN Leidiger in Thüringen.

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    • Nimmersath
      Erfahrener Benutzer
      • 30.03.2013
      • 177

      Vielen Dank für dieses packende Tagebuch, Wolfgang!
      Es war leider nur zu schnell vorbei...

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      • Christian40489
        Erfahrener Benutzer
        • 25.03.2008
        • 2036

        Hallo Wolfgang,
        auch ich habe immer wieder geschaut wie es weitergeht. Der etwas lakonische Schluss hat mich überrascht, obwohl er ja durchaus der sachlich/nüchternen Erzählweise des Pfarrers entspricht. Deine Wiedergabe des Tagebuchs hat uns einen eindrucksvollen Einblick in die Umstände der Atlantiküberquerung der Auswanderer gegeben. Danke dafür.
        Gruß
        Christian
        suche für mein Projekt www.Familienforschung-Freisewinkel.de alles zum Namen Freisewinkel, Fresewinkel, Friesewinkel.

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        • Wolfg. G. Fischer
          Erfahrener Benutzer
          • 18.06.2007
          • 5386

          29. Nov. 1871

          Zitat von wolf44 Beitrag anzeigen
          Vielleicht hat August Vockrodt auch über seine zweite Reise, als er mit seiner Frau Anna auswanderte (ab HH 23.4.1873 an NY 8.5.1873 auf der Hammonia) auch einen Bericht verfasst.

          Gruß Wolfgang

          Hallo in die Runde,

          einen Bericht über seine zweite Reise habe ich nicht gefunden, allerdings in Nr. 6 des Beiblatts der Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Hause von 1872 Auszüge zu seinem ersten Aufenthalt in New York:


          "Der heutige Morgen sollte, da kein Schiff angezeigt war, einer genauen Besichtigung von Castle Garden gewidmet sein.

          Vom Wasser hereintretend hat man rechts das Gepäcklager, wo die Kisten und asten nach den laufenden Nummern geordnet sich befinden. Links ist die Waage für Gepäck, welches mit der Bahn weitergeht. Von hier in die Rotunde eintretend muss der Einwanderer bei einem Beamten vorüber, der zu prüfen hat, ob jemand da ist, der gegen die Gesetze einwandert.

          Die Rotunde ist in zwei Teile geteilt. Nach links haben sich die Irländer und die englisch Redenden zu begeben; die Deutschen und übrigen europäischen Auswanderer nach rechts. In der Mitte zwischen beiden Teilen befinden sich die Registratur, zwei Wechselgeschäfte und die Agenturen von mehreren Eisenbahnen.

          Außerdem befindet sich bei den Deutschen eine Postanstalt, in der deutsch, französisch und dänisch gesprochen wird. Auch eine Telegraphen-Agentur und zwei Viktualienhändler befinden sich in der Rotunde."


          Mit besten Grüßen
          Wolfgang

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          • Wolfg. G. Fischer
            Erfahrener Benutzer
            • 18.06.2007
            • 5386

            (29. Nov. 1871)

            Tagebuch:

            "Rund herum läuft eine Gallerie, die manchem zum Schlafraum dient. An derselben, jedoch allen sichtbar, haben die Wirte die in ihren Gasthäusern gültigen Preise angeheftet.

            Sobald die Einwanderer jene Beamten passiert haben, die Namen etc. registriert sind und sie sich in dem für sie bestimmten Raum befinden, muss alles schweigen. Ein Angestellter ruft von einer Erhöhung die Namen derer, für welche Geld oder Briefe dort angekommen sind. Anschließend werden diejenigen aufgerufen, die von Verwandten erwartet werden. In die Rotunde darf während dieser Zeit kein Unbefugter treten. Die Eingänge werden von Polizeibeamten bewacht.

            Sind die Geschäfte geordnet und die Leute zur Weiterreise aufgefordert, so wird den Wirten erlaubt, die Rotunde zu betreten und Leute mitzunehmen. Die Wirte stehen unter Aufsicht der "Commissioners of Emigration". Lassen sie sich Ungehörigkeiten zu Schulden kommen und es wird angezeigt, so wird ihnen der Zutritt versagt.

            Von der Rotunde aus gelangten wir in die Waschräume, rechts für Männer, links für Frauen. Über diesen Räumen befinden sich die Verwaltungsgebäude. Einigen Herren wurde ich vorgestellt. Ich erhielt die Erlaubnis, zu jeder Zeit die Gebäude zu betreten."

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            • Wolfg. G. Fischer
              Erfahrener Benutzer
              • 18.06.2007
              • 5386

              (29. Nov. 1871)

              Tagebuch:

              Von dort gelangten wir in das Hospital, welches Kranke vorläufig aufnimmt, um diese dann nach Wards Islands zu schicken. Dasselbe enthält etwa zehn Betten. Auf der anderen Seite befindet sich die Gebneralregistratur und ein Saal, in dem sich die Verwandten während der Landung aufzuhalten haben.

              Im dritten Gebäude befindet sich die Gepäckbeförderungs-Agentur und das Arbeitnachweisungsbüro. Hier empfängt man den Eidruck eines vollständigen Menschenmarktes.

              In der Mitte stehen die Pulte der Beamten, die die Namen der Arbeitsuchenden eintragen. Links davon sitzen die Männer ganz eng zusammen. Über den Gruppen befinden sich kleine Tafeln mit Angabe der Arbeit, die sich suchen. "Handarbeiter" - "Farmer" - "Schneider" - "Schuhmacher".

              Rechts von den Pulten sitzen die Mädchen und Frauen. Der Platz mit "Gut empfohlen" war ziemlich leer; mehr Mädchen saßen unter "Mit Zeugnissen" und "Ohne Zeugnisse. Vor den Pulten ist ein Platz, wo sich gebildetere Mädchen aufhalten.

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              • maria1883
                Erfahrener Benutzer
                • 20.08.2009
                • 896

                Hallo Wolfgang,
                nun konnten wir ja doch noch weiter lesen. Vielen Dank dafür.
                VieleGrüße
                Waltraud
                Orte und Namen meiner Ahnen:
                Neu Wuhrow: Pophal, Golz, Is(s)berner, Gehrke, Draheim, Zuther, Mittelste(ä)dt, Hensel, Bleck
                Gönne (später Westgönne): Hensel, Bleck, Maronde
                Steinklippe (Belgard/Schievelbein): wie Westgönne
                Neudorf: Märtens, Boeck, Schulz, Mallon, Harmel, Manz
                Pöhlen: Milbradt, Boeck, Dittberner, Kannenberg, Märtens
                bis auf Steinklippe alles Kreis Neustettin

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                • Wolfg. G. Fischer
                  Erfahrener Benutzer
                  • 18.06.2007
                  • 5386

                  (29. Nov. 1871)

                  Hallo Waltraud,

                  ja, ich war auch über die "Zugabe" überrascht.

                  Mit besten Grüßen
                  Wolfgang




                  Tagebuch:

                  "Welche Gesichter bekam man da zu sehen! Leidenschaft und Sünde, dieses Schwesternpaar, konnte man auf vielen Gesichtern lesen. Zwischen zerlumpten Männern saß wohl einmal ein Mensch mit besseren Kleidern. Wie mancher einst so hoffnungsvolle Sohn saß hier im Elend, kaum dass er sich sättigen konnte.

                  Beim Hinausgehen bemerkte ich einen Mann, der vor einigen Tagen im Emigrantenlokal um Arbeit bat. Als sich Pastor Neumann an ihn wandte, sagte er, er sei Landwirt, habe in Schlesien ein Gut gehabt, sei heruntergekommen und nach New York geflohen. Krankheit habe ihn auch hier zugrundegerichtet, in zwei Tagen habe er fast nichts gegessen. Gestern habe er ein Stück Brot und eine Tasse Kaffee geschenkt erhalten, heute noch gar nichts gegessen. Pastor Neumann gab im 25 Cent und sagte ihm, er solle des anderen Tages wiederkommen."

                  Kommentar

                  • Wolfg. G. Fischer
                    Erfahrener Benutzer
                    • 18.06.2007
                    • 5386

                    30. Nov. 1871

                    Tagebuch:

                    "Heute ist in den Vereinigten Staaten Danktag. Ein rechtes Freudenfest für Arm und Reich. Der Amerikaner teilt heute gern mit den Armen seinen Braten. Heute soll jeder gesättigt werden. In einem Lokal soll für die Stiefelputzerjungen eine hübsche Mahlzeit hergerichtet sein.

                    Maskierte Gesellschaften durchziehen mit Musik die Straßen, jedoch erst nach dem Gottesdienst. Obgleich Donnerstag ist, sind die Fahrten der Bahnen und Omnibusse eingestellt. Die Geschäfte sind geschlossen."

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                    • Wolfg. G. Fischer
                      Erfahrener Benutzer
                      • 18.06.2007
                      • 5386

                      1. Dez. 1871

                      Tagebuch:

                      Ich ging heute morgen etwas früher zum Büro. Auf dem Wege traf ich den Landwirt und nahm ihn mit. Nachdem Pastor Neumann hinzugekommen war, fragte ihn dieser, warum er nicht früher gekommen sei und wo er die Nächte zugebracht habe. "Ach", sagte er, "Sie haben mich beschenkt, da schämte ich mich, noch einmal wiederzukommen. Gestern nacht habe ich in einer Polizeistube gestanden.

                      (Die Polizeiwachen haben ein geheiztes Zimmer für die Obdachlosen. Diese sind oft so gefüllt, dass die Leute Kopf an Kopf stehen.) Als ich gestern aber hinkam, war es schon angefüllt, ich ging von einer Wache zur anderen, konnte aber nirgends unterkommen, ich musste die ganze Nacht auf der Straße sein, bin auf und ab gerannt, um mich zu erwärmen."

                      (Diese Nacht sind 12 Grad Kälte gewesen.) Bei diesen Worten hob er das linke Bein; der Arme hatte keine Sohlen auf dem Stiefel, der Fuß sah heraus. "Ach, Herr Pastor, haben Sie Erbarmen mit mir," rief er weinend.

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                      • Wolfg. G. Fischer
                        Erfahrener Benutzer
                        • 18.06.2007
                        • 5386

                        (1. Dez. 1871)

                        Tagebuch:

                        Während er seinen Lebenslauf schrieb, fuhr ich zum Schiff und holte ihm ein Paar Stiefel und Strümpfe. Ich habe den Lebenslauf bei meiner Rückkunft gelesen, er hat anscheinend wahrheitsgetreu seine traurige Vergangenheit niedergeschrieben. Soviel ich beurteilen kann, fühlt er Reue über dieselbe. Er schrieb etwa Folgendes:

                        "Ich bin der Sohn des ev. Predigers N. N. in B. Meine ersten Lebensjahre verlebte ich unter der Aufsicht meiner Mutter, auch den ersten Unterricht erteilte sie mir, ihr Andenken wird mir unvergesslich bleiben. Danach arbeitete ich unter der Aufsicht meines Vaters. Nach der Konfirmation bezog ich das Gymnasium in B., wo ich vier Jahre blieb. Als Sekundaner verließ ich B., um mich der Landwirtschaft zu widmen.

                        Nachdem ich mehrere Jahre auf dem Gut P. gelernt und auf einigen Gütern als Volontär tätig gewesen, wurde ich in Böhmen Wirtschaftsbeamter. Hier hatte ich eine recht gute Stellung; leider ließ ich mich verleiten, dieselbe zu kündigen. Es wurde eines der Güter des Herrn F. verpachtet. Ich pachtete es und kaufte es später. Nun tat sich eine neue Welt für mich auf, ich war selbständiger Herr geworden."

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                        • Wolfg. G. Fischer
                          Erfahrener Benutzer
                          • 18.06.2007
                          • 5386

                          (1. Dez. 1871)

                          Tagebuch:

                          (Fortsetzung Lebenslauf)

                          "Mein Vater, der mich vor dem Ankauf gewarnt hatte, sprach oft die Befürchtung aus, ich würde mich nicht halten können; aber umsonst, ich war verblendet.

                          Ich hatte das Gut mit bedeutenden Abgaben und in einem schlechten Zustand übernommen. Ein Jahr Missernte und Krankheit unter dem Vieh trat ein; ich hielt kostbare Pferde und Hunde, dies alles kostete viel Geld; ich lieh, ohne zu wissen, ob ich meine Schulden je abtragen könne.

                          Meine Lage verschlimmerte sich. Um meine Sorgen loszuwerden, wurde ich ein Spieler und Säufer. Als ich im Januar dieses Jahres meine Rechnungen machte, fand ich, dass ich bankrott war. Ich sah keinen anderen Ausweg, als bei Nacht heimlich nach Amerika zu fliehen."

                          Kommentar

                          • Wolfg. G. Fischer
                            Erfahrener Benutzer
                            • 18.06.2007
                            • 5386

                            (1. Dez. 1871)

                            Tagebuch:

                            (Schluss Lebenslauf)

                            "Von hier aus habe ich um Verzeihung dieses Schrittes gebeten, mein betrübter Vater hat mir verziehen. Anfangs habe ich bei einem Farmer gearbeitet, ich wurde aber krank und musste deshalb zurück nach Wards Island. Von da entlassen, suche ich schon mehrere Wochen vergeblich Arbeit.

                            Ich würde verhungert sein, wenn mir nicht mildtätige Hände etwas Essen gegeben hätten oder ich für kleinere Dienste, z. B. Kohletragen, Steineabladen etc. wäre gesättigt worden. Ich erkenne meine schwere Versündigung an. Ich flehe zu Gott, er wolle mir wohldenkende Menschen geben, die mir die Hand zur Rettung bieten und mich vor dem Untergang bewahren."

                            Von Pastor Neumann erhielt er einen alten Anzug, von mir Stiefel und Strümpfe, hoffentlich wird sich auch Arbeit für ihn finden.

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                            • maria1883
                              Erfahrener Benutzer
                              • 20.08.2009
                              • 896

                              Hallo Wolfgang,
                              noch einmal herzlichen Dank für diese eindrucksvollen Berichte.
                              Einen schönen Abend noch,
                              Waltraud
                              Orte und Namen meiner Ahnen:
                              Neu Wuhrow: Pophal, Golz, Is(s)berner, Gehrke, Draheim, Zuther, Mittelste(ä)dt, Hensel, Bleck
                              Gönne (später Westgönne): Hensel, Bleck, Maronde
                              Steinklippe (Belgard/Schievelbein): wie Westgönne
                              Neudorf: Märtens, Boeck, Schulz, Mallon, Harmel, Manz
                              Pöhlen: Milbradt, Boeck, Dittberner, Kannenberg, Märtens
                              bis auf Steinklippe alles Kreis Neustettin

                              Kommentar

                              • Christian40489
                                Erfahrener Benutzer
                                • 25.03.2008
                                • 2036

                                Hallo Wolfgang,
                                das Tagebuch beschreibt die Umstände der Reise so anschaulich, dass man unwillkürlich gerne wüsste, was aus den Menschen nach ihrer Ankunft in Amerika geworden ist. Hoffentlich ist es den anderen Auswanderern besser ergangen als dem armen Kerl, der vor seinen Schulden nach Amerika geflohen ist und auch dort wohl erst einmal mit großen Problemen zu kämpfen hatte. Danke, dass Du uns die Lektüre zugänglich gemacht hast. Es wäre bestimmt eine tolle Story für einen Film über die Auswanderer. Irgendwie müsstest Du Filmemacher darauf aufmerksam machen!
                                Herzliche Sonntagsgrüße
                                Christian
                                suche für mein Projekt www.Familienforschung-Freisewinkel.de alles zum Namen Freisewinkel, Fresewinkel, Friesewinkel.

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