Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1318

    Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

    nachdem zeitgeschichtliche Reportagen auf großes Interesse stoßen, möchte ich auch etwas dazu beitragen.
    Hintergrund: Meine Großmutter aus dem Raum Manchester heiratete 1903 meinen Großvater und reiste mit ihm nach der Hochzeit nach Riga, wo sie bis zu ihrem Tod 1919 lebte und an ihre Geschwister und ihre Nichte über das Leben in Riga, im "finstersten Rußland" berichtete und durch ihre Briefwechsel ihre Einsamkeit zu besiegen versuchte. ...
    Die originalen Briefe liegen mir vor und wurden sortiert, erfasst, abgeschrieben und aus dem Englischen übersetzt. Viel Spaß beim Lesen.

    Dokument 1: 17./02.März 1903 Riga Rußland, Weberstraße 9

    ( Ankunft in Riga )

    Liebe Florrie,

    Jetzt schreibe ich meinen ersten Brief in Rußland. Ich habe noch ein paar englische Briefmarken bei mir gefunden, die ich Annie beilege und sie bitte, sie Dir zu schicken.
    Nun, Liebe Florrie, ich weiß, daß Du überrascht sein wirst, daß ich wirklich hier angekommen bin, ohne seekrank zu werden. Ich habe wirklich den Seegang auf der Nordsee genossen. Beim Essen war es sehr spaßig, wenn man eine Suppenschüssel hinstellte und sie dann über den Tisch schilderte. An einem Morgen brachte der Steward einen Krug heißes Wasser in meine Kabine bevor wir auf waren. Ich weiß nur noch, daß er rutschte, umkippte und sich alles in der Kabine verteilte.
    Diese Kabine war wie ein Schrank und wir gingen ins Bett das aus zwei Fächern bestand. Auf Deck war es zwei oder drei Tage lang herrlich. In der Sonne war es Sonntag so heiß wie im Sommer, aber es wartete viel Treibeis, das vom Fluß her kam. Es scheint hier wirklich kälter zu sein und heute früh fror es.
    Zur Grausamkeit des Zöllners kam, daß er uns nicht erlaubte, das Schiff vor ihm zu verlassen, sonst hätten wir gestern schon an Land gehen können.
    Zur Überraschung wartete, als wir um 10.30Uhr ankamen, Rudolfs Vetter John schon seit Sonnabend auf uns, um uns zu begrüßen. Er lebt bei Rudolfs Eltern und sollte mir einen Kuß und viele Grüße geben. Wir ließen den Kuß aus, doch habe ich ihn gerne oder sollte ihn gern haben. Wenn ich mich mit ihm nur unterhalten könnte!

    Es kam auch ein nettes Telegramm vom Rudolfs verheirateter Schwester und ihrem Mann aus Libau, die uns Gesundheit und viel Glück wünschten. Du hättest sie sehen sollen, als sie im Zollhaus unsere Kisten durchsuchten. Sie beschlagnahmten sogar meine Bezique-Karten, obwohl sie nicht komplett waren, weil darauf ein hoher Zoll liegt. Es war lustig, diese großen, seltsamen und dreckigen Männer zu beobachten, die sogar meine Stickmuster usw. durchstöberten und alle Bücher, sogar meine Bibel zurückhielten. Als das Boot in den Hafen kam, kam der Zöllner mit einigen Soldaten an Bord. Einer wurde über Nacht an Bord zurückgelassen, der auch in den Salon und in unsere Kabine eindrang. Man hatte das Gefühl, direkt nach Sibirien zu kommen. Jetzt bin ich zu Hause!

    Wir sind auf der Suche nach einer anderen Wohnung, auch wenn diese sehr angenehm und groß ist, aber es gibt nur wenige. Es gibt kein fließendes Wasser und keinen Komfort (i.e. Waschgelegenheit u. Klo).

    Das Geschäft scheint hier ewig zu gehen. Jetzt ist es schon 7.30Uhr abends und Frl. Willnet hackt noch immer auf ihrer Schreibmaschine herum, als ob sie nicht daran denken wollte, nach Hause zu gehen. Rudolf sitzt und schreibt Geschäftsbriefe auf der anderen Seite seines Schreibtisches, an dem ich sitze und John liest. Ich frage mich, wann ich einmal wieder Tee trinken werde und dürste nach einer Tasse Tee, da wir im Hotel Imperial gegessen haben und um 4Uhr damit fertig waren. Ich habe noch nicht aufgegeben, mir um 4 oder 5Uhr Tee zu wünschen, da er mir fehlt. Wenn alle Dinge etwas gesichtet sind, werde ich das einführen. Bis jetzt ist noch alles verpackt und es scheint kein Platz für das zu sein, was ich auspacke. Frag Vater, welche Zeitung gut wäre, uns zuschicken. Frage ihn auch, ob er sie uns regelmäßig schicken könnte.
    Ich werde es ihm zahlen, wenn es nicht zu viel Mühe macht. Ich denke, daß die Manchester Weekly Times gut wäre. Mir gefällt der Guardian, aber ich denke, daß eine pro Woche genügt. Liebe Grüße an Mutter und erzähle ihr, daß es mir bis auf eine Erkältung, die ich mir auf der Überfahrt von Antwerpen holte, gut geht. Wenn Du uns besuchen kommst, bekommst Du russisches Essen auf den Schiffen. Aber die Eier und die Butter übertreffen alles in England - sie kommen aus Sibirien.
    Viele Grüße von uns beiden ...
    Deine liebe Tante Lily.
    ... schreibe bald und oft!

    Fortsetzung folgt ... hat es euch gefallen?

    Frank K.
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft
  • gudrun
    Erfahrener Benutzer
    • 30.01.2006
    • 3277

    #2
    Hallo Frank,

    vielen Dank fürs einstellen.
    Das gefällt mir sehr gut, bitte weiter so.

    Viele Grüße
    Gudrun

    Kommentar

    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1318

      #3
      Dokument 3: 13. März 1903, Riga, Weber Straße 9


      Lieber Arthur, liebe Jenny,

      Ich schreibe Euch so viel und so klein ich es kann. Danke für den Brief von gestern und alle Mühe die Ihr Euch gemacht habt. Wir werden heute zum Konsul gehen und hoffe, daß ich Erfolg habe. Es wird das erste englische Gesicht sein, seitdem ich hierher gekommen bin, und ich habe schreckliches Heimweh! Ich mußte über Florries Brief und die Times so heulen. Ich würde alles geben, um noch einmal auf das Pier von Blackpool zu gehen und vermisse das Meer so sehr. Wie lange wird das dauern!? Denkt Ihr, daß jemand von Euch mich vorher besuchen kommen wird. Wir haben hier herrliches Wetter und man kann an Blumen, Vögel oder Frühling denken, aber ich muß sagen, diese riesigen fremden Häuser, wie Wohnungen für Arme oder Warenhäuser, haben mich doch sehr bedrückt. Ich denke, daß Ihr Riga eine nette Stadt nennen würdet. Es gibt schöne Boulevards, Bäume und Gras hier und es windet sich ein kleiner Strom hindurch. Ich werde mich viel besser fühlen, wenn ich meine Bücher jemals wieder bekommen werde. Rudolf versuchte heute den Zensor anzurufen, aber bekam keine Antwort. Ein Telefon ist, um es Euch zu erklären, sehr brauchbar, aber es ist kein reiner Segen, damit zu leben. Es klingelte den ganzen Sonntag und fing an, weil sie die Leitung reparierten. Mitternacht letzte Nacht, als wir gerade ins Bett gegangen waren, fing es wieder an! Rudolf stand sehr gutherzig auf, aber es war jemand, der einen falschen Anschluß hatte und sich einen Spaß daraus machte. Was für ein verrücktes Land! Ich sage immer zu mir: "Wenn doch nur Arthur hier wäre und das sehen könnte!" Es ist doch dumm, wenn ich mich allein über Sachen freuen soll, die für Rudolf nicht neu sind, so daß er keinen Spaß daran mehr hat. Wir leben noch immer in diesen 2 Räumen. Zuerst der Eingang, dann ein großer Raum als Büro - ein sehr schönes Zimmer, ein Schlafzimmer mit zwei Fenstern - und dahinter ein weiter, düsterer Raum, der Schlafzimmer, Eßzimmer, Wohnzimmer usw. ist. Aber ich habe noch nichts ausgepackt, außer den Photos von Rudolf und von Vera, wodurch man sich hier nicht so fremd fühlt. Ich wünsche Du würdest sie einpacken und mir herschicken. Dienstag Nacht war ich im inneren Zimmer und versuchte mir eine Käsecreme in einer Bratpfanne auf einem kleinen Öfchen zu machen, da hier Herde unbekannt sind. Ich hörte, wie jemand hereinkam, sah auf und erwartete Rudolf, der für einen Moment nach draußen gegangen war. Statt dessen stand ein großer, stumpfsinniger Mann in einer Uniform vor mir. Er überreichte mir ein Schreiben, als wäre es ein Marschbefehl nach Sibirien. Da wurde es mir klar, daß es ein Telegramm war und er wollte eine Empfangsbestätigung unterschrieben haben. Es ist schon komisch, Telegramme durch große, langsame Männer wie diesen zu schicken. Sein Hereinkommen war auch seltsam. Rudolf bekam eines Tages ein englisches Telegramm, und einige Stunden später ein weiteres, das die selbe Firma zwei Stunden vorher abgeschickt hatte. Man muß hier extra dafür bezahlen, wenn man ein Postfach hat und seine Briefe abholt. Aber so bekommt man sie schneller.
      5.30Uhr nachmittags. Wir kamen zu spät, um heute den englischen Konsul zu treffen. Er macht um 3Uhr Feierabend - so ein glücklicher Mann! Wir gingen erst danach Essen. Ich habe mich amüsiert, als ich heute Vormittag mit Frl. Willnet (die Sekretärin) nach Wohnungen suchte. Ich gehe gerne mit ihr, da es gut für mein deutsch ist. Jetzt ist es schon besser als letzte Woche.
      Rudolfs Schwester Daschsa kam zu mir und habe mich sofort in sie verliebt. Sie wollte gestern kommen, war aber krank. Wer weiß, wie viele Stunden das arme Mädchen im Zug verbracht hat! Sie hat sich gerade auf mein Bett gelegt und versucht zu schlafen. Jetzt werde ich nicht mehr einsam sein. Ich werde die ganze Zeit benötigen, um alles zu verstehen und glaube wirklich, daß ich ein anderes Mädchen zum Unterhalten brauche. Wir sind so viele Treppen hinaufgestiegen und uns erscheinen so viele Räume geeignet, einige schlecht und nichtssagend, aber nur wenige gut. Diese sind zu weit außerhalb und außerdem furchtbar teuer. Sie denken sich nichts dabei, für paar Räume 500 Rubel zu verlangen. Hier am Hafen gibt es einen Markt. Ich war schon zwei mal mit Frl. Willnet dort, doch spricht dort die ganze Landbevölkerung lettisch. Rudolf sagt, daß sie, wenn sie merken, daß man nicht lettisch spricht einen umzingeln und ausrauben. Noch vor wenigen Jahren fingen sie Leute mit einem Lasso am Kay und beraubten sie. Er hat einen niedlichen kleinen Revolver mit sieben Kammern, der fertig geladen in der Kassenschublade liegt, da man nicht einmal hier zu Hause sicher ist.
      Als er letzten Sommer abends jenseits des Flusses war, mußte er ihn immer in der Tasche mitnehmen. Alle diese schaurigen Dinge erzählte er mir gestern mitten in der Nacht. Ich ging jenseits der Brücke auf der anderen Dünaseite spazieren und ging friedlich zurück, als ein grimmiger kleiner Mann in einer Uniform hinter mir her gerannt kam und mir hinterher schrie. Mir war nicht klar, was ich getan hatte. Er gab mir zu verstehen, daß ich auf der falschen Seite ging und sofort die Eisenbahnschienen überqueren müsse, um auf der richtigen Seite zu gehen. Rudolf sagte, wenn mich einer dieser Vagabunden beobachtet und gemerkt hätte, daß ich kein lettisch verstehe, hätte dieser mich ausgeraubt. Nach all dem bin ich froh, daß ich im Büro lebe.
      Die Droschken sind hier niedlich und besser als unsere Kutschen, so wie die kleinen offenen Viktorianischen, mit einem Verdeck, das man schließen kann, wenn es regnet. Aber sie haben keine Federn. Wenn man mit ihnen über Straßen mit großem Pflaster fährt, wird man herrlich durchgerüttelt. Hier gibt es ein deutsches und ein russisches Theater. Rudolf nahm mich Montag ins russische mit, um "A Life for the Czar", eine Oper, zu sehen. Es war herrlich inszeniert und die Sänger waren gut. Zwischen den Aufzügen geht jeder herum und grüßt seine Nachbarn. Die besten Platze (oder einige der besten) sind im Parterre, und man geht dann draußen herum. Es hat Spaß gemacht, all die Offiziere zu sehen, aber ich denke, daß sie draußen besser in ihren grauen Mänteln aussehen. Es gibt hier auch Gymnasien, aus denen sie in die Universitäten kommen. Die verschiedenen Klassen der Schüler tragen unterschiedliche Uniformen.
      -----------------
      Dieses war der zweite Streich ...
      Frank K.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • anika
        Erfahrener Benutzer
        • 08.09.2008
        • 2631

        #4
        Briefe meiner Großmutter

        Hallo Frank
        Ich kenne ja die Briefe deiner Großmutter, es ist interessant zu lesen wie sie sich im fernen Russland fühlte.
        So ist es bestimmt vielen Frauen fern der Heimat und der Familie ergangen.
        anika
        Ahnenforschung bildet

        Kommentar

        • Randalealpha
          Benutzer
          • 16.03.2010
          • 69

          #5
          Eine tolle Geschichte ich lese sie sehr gerne.
          Gesuchte Ahnen: Borchert, Rausch (Hagen, Zallenfelde, Groß Wilmsdorf) Meder aus Hanau, Bozza in Hohenlimburg, Lethmarte und Umgeb.
          Künstler (Dortmund), Deilmann, Ruhrländer,(Niederwenigern) Bruns Peckelsheim und Essen, Berlage, Gievers, (Borgentreich/Borgholz/Willebadessen). Brock, Bruns, Erb u. Klein (Essen) Klein, Limbach (Elles/Neuwied)

          http://www.myheritage.com/site-11735...nstler?lang=DE

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          • AlAvo
            • 14.03.2008
            • 6186

            #6
            AW: Briefe meiner Großmutter

            Hallo Frank,

            vielen Dank für das Einstellen der Briefe Deiner Großmutter!

            Wie schon erwähnt, lebten meine Großeltern mit meinem Vater und seiner Schwester während dieses Zeitraumes ebenfalls in Riga.

            Da ich über keinerlei Überlieferungen verfüge, lese ich diese Zeilen mit großem Interesse und freue mich sehr, mehr über das Leben jener Zeit zu erfahren!

            Ich erlaube mir zur Ergänzung, nachfolgend den Standort der ehemaligen Weberstraße in Riga einzufügen.

            Weberstraße 9, 1928


            Weberstraße, heute Audeju iela



            In diesem Sinne ...
            ... viele Grüße

            AlAvo
            War Mitglied der Lettischen Kriegsgräberfürsorge (Bralu Kapi Komiteja)

            Zirkus- und Schaustellerfamilie Renz sowie Lettland

            Reisenden zu folgen ist nicht einfach, um so mehr, wenn deren Wege mehr als zweihundert Jahre zurück liegen!


            Kommentar

            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1318

              #7
              wie Ihr seht, war es schwierig sich einzuleben. Es kam erschwerend hinzu, daß meine Großmutter nur die englische Sprache beherrschte und weder russisch, noch lettisch noch deutsch konnt, was sie dann aber alles ein bischen lernte. Die "Umgangssprache" in der Familie war Englisch.
              Danke AlAvo, daß du Karten mit eingestellt hast ...
              Nun aber weiter mit dem Text (abgefasst nach den Regeln der alten Rechtschreibung!):


              Dokument 4: 4./17. April 1903. Riga, Weberstraße 9

              Erzähle Edie, daß ich ihr demnächst schreiben werde. Ich zeigte gestern Rudolf ihre Gemälde mit Kressepflanzen.
              Liebe Bertie,
              Ich habe mich so über Deinen langen Brief gefreut. Du armes Mädchen hast eine schwere Zeit gehabt. Erinnerst Du Dich daran, wie wir im letzten September zu Oss im Boot fuhren und keiner von uns krank wurde? Ich wünsche wirklich, daß es mir nicht passiert. Ich habe Angst davor, hier, soweit weg von Euch, krank zu werden. Ich sehne mich immer danach, daß jemand von Euch schnell herüberkommt, aber Ihr müßt Euch keine Sorgen machen. Jetzt geht es mir einigermaßen gut, doch fühle ich mich schwach und ausgezehrt. Das Stadtleben gefällt mir nicht so recht. Wir sind auch noch nicht richtig eingerichtet und mühen uns in diesen Räumen ab. Zwei oder drei Damen haben angekündigt, daß sie mich nach den Feiertagen besuchen kommen wollen. Wir haben uns letzte Nacht den Kopf zerbrochen, wo wir sie empfangen sollen. Wir haben keine große Auswahl zwischen dem Büro und dem Schlafzimmer. Gestern rief ich Mrs. Ball an. Das war sehr spaßig. Ich wünschte mir, daß Ihr Mädchen das sehen könntet! Mrs. Ball ist eine kleine, beleibte Dame, fast so wie Tante Sit, nur sieht sie etwas älter aus und ist stocksteif (Ich weiß nicht ob das nur mir so scheint, oder ihre Eigentümlichkeit ist. Aber ich denke, daß ich noch fremd bin und sie sonst liebenswürdiger ist). Rudolf begleitete mich, da man hier so furchtbar viele Treppen steigen muß usw. Es war schrecklich. Er war kaum hereingekommen und ging gleich in das Büro von Mr. Ball. Man zieht hier immer sein Jackett aus, aber ich behielt natürlich den Hut auf und die Handschuhe an, als ich in den Salon ging. Dort waren schon Mrs. Balls Mutter und zwei andere Damen, natürlich ohne Handschuhe und Hut und machten dort Stickereien. Dann kam eine Mrs. Whittle aus Bolton herein und Mrs Ball drängte sie, ihren Hut abzunehmen - aber mich bat sie nicht darum! Dann sagte sie, daß es Zeit für den Tee wäre und führte uns in das Eßzimmer, wo eine wirklich große Teetafel bereit stand. Dann kam Mr Ball auch herein. Es kam auch eine Mrs Priestly und noch eine andere Dame mit herein und danach marschierten wir wieder zurück in das andere Zimmer. Dort wurde wieder weitergearbeitet. Ich half Mrs. Whittle bei einer Baumwollarbeit und freundete mich mit ihr an. Sie scheint dort die netteste unter allen zu sein und bessere Manieren (mit Ausnahme von Mrs. Priestly) als die anderen zu haben. Sie lud mich heute zu sich ein. Unglücklicherweise hat es heute den ganzen Nachmittag geschneit und geregnet, aber ich möchte sie doch so kennenlernen, da sie sehr nett zu sein scheint und ich mich doch so einsam fühle. Männer verstehen nicht alles (obwohl sie denken, daß sie alles verstehen) und ich wünsche mir daher eine wirklich nette Engländerin, mit der ich mich immer unterhalten kann. Unsere Schreibdame ist sehr nützlich und Rudolf läßt sie mit mir einkaufen gehen. Wenn ich einmal ein Haus haben werde, kann ich es machen, denke ich. Man wünscht sich so, herauszugehen und etwas zu sehen. Im Haus geht es, wenn man etwas zu tun hat. Ich hasse es, so lange dazusitzen und Rudolf ist ein schrecklicher Tyrann. Er läßt mich kein Buch lesen und sagt, daß verheiratete Frauen die Hausarbeit tun müssen und keine Bücher lesen dürfen, außer Zeitungen und Kurzgeschichten. Natürlich ist es lächerlich und er vergnügt sich mit allem nur Erdenklichen. Er sollte zuerst mal sehen, ob ich Dinge mag oder nicht. Ich würde zustimmen, erst nach dem Essen zu lesen, wenn er es wünscht. Ich wäre gerechter als er und würde es ausprobieren, wenn ich genug davon hätte. Ich werde nicht überrascht sein. Es ist wirklich sehr egoistisch und meiner Ansicht nach schlechte Taktik, da mich meine Bücher etwas mehr vor dem Heimweh bewahren, als würde ich nur herumsitzen und nähen oder sticken. Man ist am liebsten zu Hause, das wäre auch so, wenn ich ein Haus hätte, dann würde er nichts sagen und ich hätte so viel anderes zu tun, daß es dazu nicht käme. Aber ich wünsche ich es mir doch so! Ich würde am liebsten die zwei Bücher lesen, die ich erwähnt habe, aber Du wirst sie wahrscheinlich nicht bekommen. Erinnerst Du Dich noch an die kleine Haushaltszeitung, die Jenny hatte und voll von Rezepten und Vorlagen war? Du könntest sie mir schicken oder schicken lassen. Nur laß Dir von Alf das Geld dafür und für das Porto geben. Zahl nur nicht das ganze Porto selbst! Es ist sehr schön, daß Du die ganz Mühe auf Dich nimmst. Sonntag war ein herrlicher Tag. Wir standen spät auf, weil Rudolf sich nicht rührt und ich zuerst um 7Uhr wegen einem Telegramm, und kurz nach 8Uhr wegen Brot unterwegs war. Und dann bin ich bis 11Uhr wieder eingeschlafen! Nach dem Mittagessen gingen wir über den Fluß uns hatten einen herrlichen Spaziergang durch den Wald. Wir gingen ungefähr 6 Meilen, bummelten bis 6.30Uhr und nahmen dann einen niedlich langsamen und ganz bedächtigen Zug nach Hause. Ich gebe Dir jungen Dame den Rat, den Charakter von Oss vorher herauszufinden und ihn dazu zubringen, vorher einen schriftlichen Vertrag zu schließen. Nun, ich fragte mich, wie lange dieser Nachmittag dauern würde und meinte dort sitzen bleiben müssen. Als es aber 6.15Uhr wurde und niemand sich rührte, gelang es mir weg zu kommen. Ich denke, daß sie sich über mich danach eingehend unterhalten haben. Nun, ich kam nach Hause und machte das Gleiche zu Rudolfs Freude. Daher kann ich nicht nörgeln. Wie ich es mir doch gewünscht habe, zu Arties Fest zu kommen. Frag ihn doch, ob er auch für mich genügend Kuchen gehabt hätte. Du hast keine Ahnung, wie ich mich nach zu Hause sehne. Ich denke, es ist sehr dumm von mir, aber jeder Morgen, an dem ich aufwache, ist schrecklich. Ich denke an alle Schiffe, die an diesem Tag nach England segeln und wünsche, daß ich auf einem wäre. Wenn jemand von Euch nicht vorher kommt, mußt Du uns dazu bringen, zu Eurer Hochzeit zu kommen. Du hast keine Ahnung, wie verrückt Dein neuer Name klingen wird, bis Du ihn hörst. Als ich Mrs K. genannt wurde, sprang ich jedesmal auf, erschrak und fragte mich, ob es die anderen merken, daß ich es noch nicht gewohnt bin. Die Richtige Betonung ist "Karnofsky" und ich höre, wie Mrs. Priestly von mir als der "polnischen Dame" spricht. Was werde ich wohl demnächst sein?! Jetzt ist es 8Uhr und Mrs. Willnet schließt gerade zu. Ich nehme an, daß jetzt das Abendessen sein wird und anschließend eine Partie Schach, oder Rudolf wird sich hinsetzen, die Zeitung lesen und danach ins Bett gehen. Manchmal arbeitet Rudolf bis 11 oder 12Uhr. Ich gehe dann ins Bett, liege und frage mich, was Ihr alle macht. Ich werde mich über jede Zeitung und alle Schnittmuster freuen, die Du schickst: Kleiderstoffe sind hier sehr billig. Ich denke, daß Riga im Sommer sehr schön sein wird. Rudolf denkt, daß es ein sehr kurzes Paradies ist. Ich wundere mich, daß er nach drei Jahren in England wieder hier leben kann, weil hier Komfort und Annehmlichkeiten fast unbekannt sind.
              Gestern Abend gingen wir um 10.30Uhr spazieren. In der Vorstadt war die Luft so herrlich frisch. Riga sieht in der Nacht am schönsten aus (das klingt ironisch, aber alles ist gut beleuchtet und man sieht die Form und Höhe der Gebäude nicht so sehr).
              Alle Kocherei wird auf einem kleinen Stövchen (wie das eine Ding, mit dem ich mein Zimmer heizen mußte) gemacht. Dieses kleine unmögliche Ding fängt an zu rauchen, wenn ich ihm meinen Rücken für einen Augenblick zuwende und Rudolf denkt, daß ich nichts kann. Nach seiner Meinung sind alle Engländerinnen unfähig. Ich denke daß diese Männer erwarten, daß ihre Frauen alles tun müssen. Stell Dir vor, wenn hier ein Mädchen heiratet, statten ihre Eltern das Haus mit Möbeln und allem aus. Dascha erzählte mir, daß oftmals sogar Vorräte in den Schränken waren. Würde man in England nicht über die Männer lachen, die hereinkommen und ihren "Hut aufhängen", so wie ich es Onkel Arthur erzählte, daß er dankbar sein wird, mit seinen Mädchen in England und nicht in Rußland leben zu dürfen.
              Möchtest Du wissen, wie man hier Schweineklopse macht? Hier nennt man es "Carbonade von Schweinefleisch". Man muß alles gut abwaschen, nebeneinander auf ein nasses Brett legen und dann mit einen nassen Handtuch darauf schlagen. Dann brät man sie in einer Bratpfanne mit Butter oder Schmalz (und Salz) und wendet sie immer wieder, da sie, wenn sie braun werden, wahrscheinlich verderben würden. Dann muß man Zwiebeln braten und Soße mit Sahne machen. Kalbs-Kottelets und Beefsteak macht man genauso und es ist nicht schlecht einfach nur so gebraten, anstatt mit einer schönen Kruste und man denkt, daß es ekelhaft aussieht. Nellie würde dieses Kochen gefallen, da sie sich nichts aus Puddings macht. Rudolf sagt, daß sie lachen würden, wenn sie sehen, wie Du Marmelade ißt. Hier verwenden sie nur für Soßen usw. Als ich gestern bei Mrs. Ball war, nutzte ich die Gelegenheit und aß herrliche Erdbeermarmelade. Weißt Du, daß ich heute eine Wohnung gesehen habe, für die sie 500 Rubel pro Jahr verlangen, und das Eßzimmer hat nicht einmal ein Fenster! Es wird nur durch zwei Glastüren von anderen Zimmern her hell. Als ich das Rudolf erzählte, sagte er, sie müsse einem das Essen in Rechnung stellen, das man immer nur riecht. Ich habe schon einige Küchen ohne Fenster gesehen, aber dies war das erste Eßzimmer, das so finster war, daß man sich den Weg hindurch ertasten mußte.
              Annie schrieb mir, daß sie daran denkt, eine Reise nach Paris zu machen, sobald sie Geld bekommt. Mutter schrieb mir, daß Tante S. mir die "City News" geschickt hat, aber die ist bis jetzt noch nicht eingetroffen, genau so wie die Illustrierte. Onkel Arthur versprach, sie mir zu schicken. Ich denke, daß der Zensor die "City News" liebt und sie behält, weil er sie selbst lesen will. Einmal, als ich Rudolf eine schickte, hat er sie erst drei Wochen später herausbekommen.
              Morgen ist ein Feiertag und ich dachte, diesen Brief aufzuheben, um ihn dann zu schreiben, aber ich scheine mit ihm jetzt fertig zu werden. Kirche ist von 2 bis 3Uhr, aber wenn es naß ist, werden wir viele Stunden drinnen verbringen müssen. Es hat die letzte Zeit jeden Tag geregnet. Letzten Sonntag war es bis zum Abend schön. Wir fuhren mit einer Fähre über den Fluß und gingen 6 Meilen durch Wälder usw. Aber außer in den Wäldern ist das Land dort nicht schön - es ist so flach und wüst.
              Ich bin überrascht zu hören, daß Du anämisch bist und dachte immer, daß Du so stark wärst. Grüße bitte Mr. Wowger und frage ihn, ob er nicht denkt, daß eine Seereise von 4 oder 5 Tagen und eine Nase voll Rigaer Luft und Essen das Beste für Dich wären. Erzähle Nellie, daß ihr letzter Brief schrecklich kurz war. Ich denke deshalb, weil Nellie herein kam. Es ist schön zu wissen, daß jede Woche ein Brief kommt. Weißt Du, daß wir kein Gas in der Wohnung haben, sondern nur Lampen und ich habe so Angst vor Feuer in diesen Häusern, weil die engen Holztreppen richtige Feuerfallen sind und die Juden, wie Rudolf sagt, die Angewohnheit haben, ihre Geschäfte usw. hoch zu versichern und sie hinterher anzuzünden. Dieses Haus ist voll von Juden: ein Schirmmacher im unteren Stock, in der nächsten Wohnung ein Doktor, auf unserem Stock ein Schneider und noch ein Büro und über uns ein Graveur. Ich weiß nicht, ob es noch mehr sind.
              Ich habe an Tante Minnie geschrieben und zwei oder dreimal an Hunters, aber es kam keine Antwort. Ich frage mich, ob sie meine Briefe überhaupt bekommen haben. Der erste Brief, den ich in Riga bekommen habe, war von Nina. Es war so lieb von ihr. Es tut mir so leid, daß Harry einen Unfall hatte. Passierte es bei Pendleton und wie hat er sein Fahrrad dorthin bekommen? Ist Miss. Wilkie schon verheiratet? Grüße sie bitte.
              Wir hatten gestern eine Art Zwischenmahlzeit bei Mrs. Ball mit Aprikosenmarmelade. Dir würden hier diese kleinen Droschken Spaß machen. Wenn Du kommst, fahren wir zusammen aus. Ich denke aber, daß es eine Freude ist, die Rudolf verheirateten Frauen verbietet. Wenn Du möchtest, kann ich Dich dann auch zu einem russischen Bad (ich bleibe draußen) mitnehmen, aber ich denke, wenn Du meine Beschreibungen hörst, wirst Du mit Dank schwach werden. Ich bin einmal mit Dascha dort gewesen, aber das zweite Mal, muß ich dankbar sagen, hat Rudolf für mich ein anständiges englisches Bad gefunden, in dem ich für mich allein einen netten komfortablen Raum hatte. Grüße an alle. Kein Platz für mehr. Deine liebe Tante Lily.
              .... Viel Spaß beim Lesen ... Frank
              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

              Kommentar

              • Frank K.
                Erfahrener Benutzer
                • 22.11.2009
                • 1318

                #8
                Dokument 5: Riga, 19.04.1903

                Lieber Arthur,
                Du hast wahrscheinlich den markierten Hinweis WICHTIG auf der Anweisung übersehen. Diese Anweisung sollte ohne Verzögerung eingelöst werden oder zurückgeschickt, um storniert zu werden. Ich glaube, solange sie nicht eingelöst wird, kommt das Geld nicht auf mein Konto. Hoffentlich macht es Dir keine Umstände. Schicke es mir bitte! Ich möchte so viele Dinge kaufen: einen Sonnenschirm, einen Blumenständer, Postkarten von Riga, die ich Alice schon längst versprochen habe, einige Zeitungen für Dich und verschiedenes andere, doch möchte ich nicht immer Rudolf um Geld fragen. Bis jetzt brauche ich es noch nicht. Ihr habt nie gesagt, ob Du und Jennie dem Budget zugestimmt habt.
                Jetzt will ich aber Eure Fragen über Riga beantworten. Wenn Ihr doch fragen würdet, was Euch interessiert, da ich nicht immer weiß, was Euch interessiert. Die Läden erinnern mich an altertümliche Städte. Sie haben kleine Fenster und sehen sonst nicht prächtig aus, aber sind innen sehr gut. Es ist üblich an einem Kassentisch zu zahlen und man ist beim Hereinkommen und Herausgehen sehr zuvorkommend.
                In den Häusern haben wir Petroleumlampen, keine Wachslichte! Wenige Häuser sind mit Gas ausgerüstet. Wir haben hier auf kein Feuer aufzupassen, außer eine halbe Stunde lang, wenn Lisa das Holz angezündet hat, läßt sie die schwere Eisentür offen, um gut nachzulegen. Dann, wenn es fast herunter gebrannt ist, wird zugemacht und die große Holzasche macht Holzkohle daraus, um damit den Samowar zu heizen. Es sind große weiße Keramiköfen (Kachelöfen), die in der Ecke der Zimmer stehen, die wenig verziert und ohne Feueröffnung sind und bis zur Decke reichen. Es scheint im Zimmer irgendwie kein Zentrum zu geben und das erweckt das Verlangen nach Wohlbehagen. Mrs. Ball hat einen richtigen offen Kamin in einem Zimmer und verbrennt dort Steinkohle. Priestleys haben auch einen, aber beide leben in neuen Häusern.
                Jetzt zu uns: Wir bleiben noch weitere drei Monate. Die Vermieterin erlaubt uns, zwei dunkle Kammern zu mieten. Eine zum darin Schlafen und eine, um unsere Kisten zu verstauen. Natürlich ist es ohne Küche und ohne Wasser gräßlich, aber ich muß so gut wie möglich damit zurechtkommen. Es werden verschiedene neue Häuser gebaut und wir könnten in einem von ihnen eine Wohnung bekommen, wenn Rudolf sich rechtzeitig darum bemüht. Mein Zimmer mache ich so wohnlich, wie ich kann. Mrs. Whittle besuchte mich gestern und es tat uns so leid, daß wir sie nur im Büro empfangen und ihr nicht einmal Tee anbieten konnten. Ich hoffe, daß es nächstes Mal besser sein wird, weil wir uns eine Teemaschine (deutsch/russisch: Samowar) kaufen werden. Eine alte Dame, Mrs. Caldwell, die hier allein wohnt, besuchte mich am Donnerstag, aber ich war ausgegangen und Rudolf hatte das Vergnügen, sie allein zu unterhalten. - Es war ein Vergnügen, das ihm nicht paßte, muß ich leider sagen, weil er keinen Respekt vor dem Alter hat.
                Nellie schrieb mir, daß der alte Ben Robinson gestorben ist. Er war ein lieber alter Mann. Nach dem Tod seiner Frau, letzten Frühling, sah er sehr traurig und niedergeschlagen aus, so daß man nicht traurig darüber sein kann.

                Geschäftszeit ist hier von 9Uhr morgens bis 8Uhr abends, mit einer Pause von 1 1/2 oder 2 Stunden für das Mittagessen. Einige arbeiten auch am Sonntag, aber die meisten nicht. Nach der Kirche gehen wir zur Post und manchmal, wenn Rudolf ein Geschäft abgeschlossen hat, beantwortet er abends Briefe. Ich bin aber nicht dafür, weil der Sonntag unser einziger freier Tag ist.- Es gibt hier keinen freien Sonnabend Nachmittag! Der letzte Sonntag war ein sehr schöner Tag. Wir gingen zur Frühmesse (um 9Uhr und nicht um 8Uhr!), aßen danach früh und fuhren mit dem Zug an den Strand. Diese Züge wecken in mir den Wunsch auszusteigen und sie anzuschieben. Wir stiegen in Bilderlingshof aus, gingen durch den Kiefernwald zum Ufer und entlang der Küste an Edinburg und Majorenhof vorbei nach Dubbeln, von wo aus wir mit dem Zug wieder zurückfuhren. Alle diese Orte haben herrliche Wälder und liegen zwischen dem Fluß und dem Meer. Im Sommer kann man mit dem Dampfschiff dorthin fahren, aber es scheint sich dort kein Lüftchen zu bewegen und ich habe Angst vor dem Sommer. Mrs Whittle sagt, daß sie sich nach einer Lunge voll Blackpool-Luft sehnt. Ich hoffe wirklich, daß ich mit ihr anfreunden kann, da ich denke, daß sie einzigartig ist. Sie und ihr Mann sind sehr nett. Montag werde ich sie auf 2Uhr einladen und wir gehen dann zusammen zu dieser netten kleinen Miss. Longford. Gestern gingen wir spazieren und es war unter den Bäumen am Wasser herrlich, aber warm. Wir waren beim Konsul, diesmal aber beim richtigen Konsul (auch beim Vizekonsul), der sehr zuvorkommend war und Rudolf fragte, ob er Engländer usw. usw. sei. Als ich sagte, daß ich Engländerin bin, lachte er und bestärkte mich darin, es zu auch bleiben. Rudolf gab mir zu verstehen, daß das ein versteckter Wink war, daß sie sich um mich kümmern würden, wenn ich es nötig hätte. Ich werde es auch so belassen, da Rudolf immer wieder sagt, er würde keinen Paß behalten, wenn ich ihn verlassen wollte.
                Dieses Jahr geht das Geschäft schlecht, da Rudolf die besten zwei Monate verpaßt hat. Geld ist ein schreckliches Laster. Ich wünschte, daß niemand welches hätte und niemand welches wollte. Ich habe mich so gefreut, als ich erfuhr, daß der arme Kerl doch noch ein Geschäft, sogar in der Nähe von zu Hause, gefunden hat. Ich beneide Dich sehr.
                Ich denke, daß es einen großen Unterschied zwischen Schaukelstühlen für 11/- und 32/- gibt und war selbst mit einem schwächeren zufrieden, der nur 10/6 kostete und recht bequem ist.
                Alf schickt mir jetzt dreimal die Woche den Guardian. Die Illustrierte kam hier nie an. Ich mag die Illustrierten genau so, aber schicke mir bitte verschiedene. Ich denke, daß ich mich auf Dich und Jennie verlassen kann. Es ist schön, Eure und Florries Briefe und Zeitungen zu bekommen. Gestern bekam ich von Nellie und Edie einen Brief, aber keiner von ihnen schreibt so regelmäßig wie Ihr. Ich denke, daß es heute fürchterlich gießen, aber warm sein wird.
                Es Grüßt Euch Eure liebe Lily.

                das war ein Leben - und es gab noch keinen Strom und nur ein "Dienstmädchen" Lisa, das den Herd heizen mußte! Meine Großmutter bekam alle 1/4 Jahr auch Anteile einer Erbschaft, die in Aktien in England angelegt war, wovon sie sich meist aus England Zeitungen oder andere Dinge schicken lies (vergleiche die ersten Sätze im obigen Brief hierzu!). Ihr Bruder Arthur war der "Finanzverwalter" ...
                Viel Spaß beim Lesen ... Frank
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                • Frank K.
                  Erfahrener Benutzer
                  • 22.11.2009
                  • 1318

                  #9
                  Dokument 6: Sonnabend, 12./25.07.1903. Riga.
                  bitte gib den Brief an Florrie weiter.
                  Meine Lieben Bertie und Nellie, Edie und Florrie,
                  Ihr habt mir alle geschrieben, seitdem ich "krank" wurde und ich muß Euch zuerst einmal danken und erzählen, daß es mir wieder gut geht und ich mich jetzt wieder so fühle, wie ich mich jemals immer fühlte. Nun warten Onkel Rudolf und ich darauf, daß jemand von Euch zu uns zu Besuch kommt, bevor der Sommer vorüber ist. Ihr müßt unter Euch ausmachen, wer kommen wird. Ich wünschte, wir könnten zwei von Euch auf einmal empfangen, aber wir können es nicht, da ich Euch erzählen muß, was auf Euch hier wartet. Ihr müßt darauf vorbereitet sein, im Wohnzimmer zu schlafen, aber wir werden versuchen es Euch so angenehm wie möglich zu machen. Sagt nicht daß Ihr nicht kommen könnt - so ein Quatsch! Ich möchte mit einer von Euch herumgehen und alle lustigen Sachen zeigen, solange sie mir noch neu sind. Rudolfs Mutter und seine Schwester Frieda waren hier eine Woche lang (sie sind wirklich nett, besonders Frieda) und wir schliefen im Büro. Ich bin froh, daß ich Euch mitteilen kann, daß wir letzte Woche ein Haus gefunden haben. Es ist solch ein nettes kleines Haus, daß ich es für gut genug halte, da diese drei Monate schrecklich unbequem waren und ich zu denken begann, daß wir zwei engelhafte Geschöpfe es so gut getroffen haben. Aber, wenn Ihr von England und der Bequemlichkeit kommt, werdet Ihr denken, daß es ein winziges unwürdiges Loch ist. Wenn Ihr aber wie ich die anderen Wohnungen gesehen hättet,
                  würdet Ihr hierfür dankbar sein. Die Zimmer sind, ausgenommen das Dienstbotenzimmer, das eine Kammer ist, mit Fenster, sogar die Speisekammer. Das Beste ist das Bad, wovon ich niemals geträumt hätte. Es gibt weder Öfen noch Feuerstellen, weil alles mit Dampf oder heißer Luft geheizt wird und es wahrscheinlich sogar elektrischen Strom gibt. Sie sorgen sogar für das Holz für den Küchenherd. Die Wohnung liegt zwei Stockwerke hoch und hat eine schöne Steintreppe mit kleinen Balkonen. Sie liegt näher an der Börse, den Anlagen und dem Markt, als diese Wohnung. Das Haus ist ziemlich neu und soll nicht vor dem 13.August fertig werden. An diesem Tag wollen wir umziehen. Es ist ein Freitag, in England entweder der 28. oder 29. Wenn Ihr Anfang nächster Woche kommen würdet, wäre es gerade richtig. Je früher Ihr kommt, desto besser ist das Wetter und desto mehr können wir machen.

                  Letzten Montag gingen wir abends um 5.10Uhr nach Edinburg. Es war ein wirklich heißer Tag, an dem es am Fluß herrlich war. Wir kamen um 8Uhr an und gingen ins Varieté. Diese Varietés sind sehr lustig und sind unter dem freien Himmel. Die Leute sitzen an kleinen Tischen und die meisten essen und trinken die ganze Zeit. Sie sitzen und hören zu, aber in Edinburg ist es sehr teuer. Wir kamen mit dem 11.18Uhr Zug nach Hause und kamen in Riga um 12.20Uhr an. Es war so überfüllt, daß wir auf der kleinen Plattform draußen standen. In England wäre es komisch, draußen zu fahren! Es ist dort aber viel angenehmer als drinnen.
                  Mrs. Whittle und ihr Mann fahren nach England zum Urlaub. Ich dachte, es würde für Dich nett sein, mit ihnen zurückzufahren, aber es wird zu spät sein. Sie sagte mir, sie würden nicht vor Ende August fahren und mindestens 4 oder 5 Wochen bleiben. Sie wird sich wahrscheinlich nicht so viel um Dich kümmern können, weil es ihr, wie sie sagte, nicht so gut geht, auch wenn sie sehr nett ist, da sie drei Tage krank in der Kabine bleiben wird. Du brauchst wirklich niemanden, da wir Dich hier am Kay empfangen. Hier überprüfen sie das Gepäck genauer als in Frankreich und sie haben alle unsere Schachteln ausgepackt.
                  Ich will nun einen Plan von unserem Haus zu zeichnen versuchen. Ich würde gerne erzählen, daß ich auch einen Garten habe. Du kannst Dir ein Bild davon machen! Wir werden 525 Rubel Miete zahlen - das ist viel Geld für wenig Wohnraum. Den Salon werden wir als Büro nutzen und das kleine Zimmer zum Wohnzimmer machen. Ich denke, daß jemand von Euch dort gut schlafen kann. Hier kann man eine Art Bettrahmen kaufen, die man nachts ins Wohnzimmer stellen und tagsüber wegnehmen kann, um den Raum sinnvoll und sparsam zu nutzen, obwohl das Land hier doch so groß ist! Ich will Dich nicht auf einem Sofa schlafen lassen, weil ich weiß, wie unbequem das ist.
                  Ich würde hier gerne das Leben zeigen und sehne mich danach mit jemand von Euch zu sprechen (Ich würde Euch wirklich alle zusammen hier haben, aber ich fürchte, daß es unmöglich ist). Ihr dürft darüber nicht lachen, wenn Ihr hört, daß man mich mit "Gnädige Frau" oder "Frau Karnoffsky" anspricht. Das ist die richtige Betonung des Namens. Ich bin sicher, daß Euch der Markt gefällt. Ihr habt im Leben noch nie so viel Obst gesehen. Frieda sagt sogar, daß es hier jeden Tag mehr gibt, als in Libau das ganze Jahr. Stellt Euch das vor! Heute wurden herrliche Rote Johannisbeeren für 1 1/4 Pence (5 Kopeken) für 2 Pfund, Himbeeren (riesige) 3 Pence das Pfund verkauft. Erbsen (fertig geschält) kosten 2 3/4 Pence (11 Kopeken), genug für vier von uns und ein Pfund Butter kostet 8 Pence. Nahrungsmittel sind hier also spottbillig, aber Mieten, Bekleidung und Vergnügungen sind teuer, was mehr zu Buch schlägt, als das Essen. Letzten Dienstag saßen wir abends im Park und hörten der Kapelle der Leibwache zu. Gestern abend fuhren wir mit zwei Droschken zum Kaisergarten und gingen dann nach Hause. Unser Besuch fuhr mit dem 2.50Uhr Zug ab und wird in Libau nicht vor 11Uhr ankommen, aber sie machen sich nichts aus dieser Fahrt. Ich finde es sehr mühselig, aber schlimm ist, daß man es in England in der halben Zeit schafft. Hier trödelt und schleicht jeder nur so herum und würde am liebsten jegliche Arbeit so langsam wie nur möglich machen. Hier schätzen mich alle als "sehr fix" ein. Ich habe mich schon oft gefragt, was sie sagen würden, wenn sie Euch Mädchen herumwirbeln sehen könnten. Ich schulde noch allen Briefe, aber ich werde heute keine mehr schreiben, weil ich jetzt etwas müde bin. Ich muß noch Tante Minnie und Mrs. Wraper schreiben. Danke Vater für den Sunday Chronicle. Ich liebe ihn sehr, aber der Zensor behält immer Seite 6 und 7 zurück. Erzähle ihm doch auch, daß ich jeden Tag sehnsüchtig auf die Nachricht über die Alkali Aktien warte. Grüße Mutter und die zwei Jungen und Effie, sowie alle anderen und schreibe so schnell, wie Du kannst, um mir zu berichten, wer von Euch kommen und einen Blick nach Rußland hinein werfen wird.
                  Ich hoffe, daß es Großmutter Alker jetzt besser geht. Was ist es für sie doch für eine schreckliche Zeit! Tante L., Mutter und ich denken oft an sie.
                  Ich würde gerne alle Neuigkeiten von Euch Mädchen erfahren, wie es Harry beim Tennis geht und
                  was Artie tut.- Er schreibt nie!
                  Deine Liebe Tante Lily.

                  Es sind hier Preise für Lebensmittel angegeben. Diese Preise Zeilen habe ich rot markiert, damit Ihr vergleichen und schneller sehen könnt ...
                  Den Plan der Wohnung konnt ich leider noch nicht anfügen ... muß die Datei extra suchen, konnte aus WORD nicht übertragen werden. ... Frank
                  Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                  • Frank K.
                    Erfahrener Benutzer
                    • 22.11.2009
                    • 1318

                    #10
                    Zur Orientierung habe ich hier mal eine Karte eingestellt, auf der Riga mit den zugehörigen Orten aus der Umgebung abgebildet ist.
                    Besonders wichtig sind die Orte am Rigaschen Strand, die im Text erwähnt werden. Heute wird das ganze Gebiet nur "Jurmala" genannt. Die früheren Teilorte mit deutscher Bezeichnung: Bullen, Bilderlingshof, Edinburg, Dubbeln oder Karlsbad sind sonst meist nicht zuordenbar.
                    Gruß Frank
                    Angehängte Dateien
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                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #11
                      Hallo Frank, das war ja eine schreibfreudige emanzipierte Dame und das schon 1903! Sie ließ ihre Familie in England begeistert an ihrem Leben in Riga teilhaben. Und AlAvo hat sogar noch die Straßenkarte geliefert. Super und Dank an euch!
                      Helen

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                      • Frank K.
                        Erfahrener Benutzer
                        • 22.11.2009
                        • 1318

                        #12
                        Fragment, ca. 15.09.1903

                        Da gestern mein Geburtstag war, versprach mir Rudolf, mich zu einem Konzert mitzunehmen.. Als er aus dem Büro kam, war es aber so spät, daß es sich nicht gelohnt hätte. Wir gingen spazieren und saßen statt dessen in der Anlage bei der Kathedrale. Der Stadtkanal umschließt die innere Stadt wie eine Befestigung und macht dadurch Riga wirklich hübsch. Jetzt muß ich Dir aber erzählen, was für einen herrlichen Kuchen mir Rudolf als "Salz und Brot" geschickt hat, weil es hier so Brauch ist, wenn man in eine neue Wohnung zieht. Er war 13 Inches im Durchmesser und wie im Traum mit verschiedenen kandierten Früchten und Zuckerguß in Mustern und innen Schichten mit Marzipan usw. usw. dekoriert. Ich wünschte, Ihr alle würdet kommen und ihn probieren. Der Pastor und seine Frau riefen gestern an und waren unsere ersten Besucher. Rudolf erzählte ihnen auch, daß es mein Geburtstag war.
                        Glaubst Du, daß Ted am 17. heiraten wird? Ich frage mich, ob alles klappen wird. Er hat meinen Brief aus London weder bisher beantwortet, noch etwas von sich hören lassen, nachdem ich ihm vor zwei oder drei Wochen einen langen Brief schrieb. Ich hoffe, daß sie sehr glücklich werden, obwohl ich nicht sehr glücklich bin, weil ich denke, daß sie viel Mut braucht, um Ted in die Pflicht zu nehmen. Man sollte das nicht tun, wie ein Mann, der immer Schulden hat. Armer Sit und arme Daisy. Ich kann noch immer nicht denken, daß sie tot sind. Wir werden sie nie wieder sehen! Wie schnell vergißt man doch einen Menschen!
                        Nächstes Wochenende kommen einige Feiertage, an denen wir zu Rudolfs Eltern fahren werden. Im Oktober wird sein Vetter John uns besuchen kommen. Ich habe Dir erzählt, daß seine Mutter und Frieda kamen. Am nächsten Tag kam sein Vater geschäftlich nach Riga und überraschte uns, als er zum Frühstück hereinspaziert kam. Die letzten zwei Tage waren wieder heiß und ich bin richtig müde. Da siehst Du, daß wir niemals früh ins Bett gehen und ich schon um 7.30Uhr aufstehen muß.
                        Eure liebe Lily.
                        Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                        • Frank K.
                          Erfahrener Benutzer
                          • 22.11.2009
                          • 1318

                          #13
                          Dokument 7: 15./30. 09. 1903, Riga, Große Brauer Straße 2/4

                          Lieber Alf,
                          vielen Dank für den S.Chronicle. Ich denke, daß der Zensor ihn genau so liebt wie ich. Es dauert immer eine Woche, bis er, sehr zerknittert und oft gelesen, ohne die Seiten 6 & 7 ankommt. Als Du vergessen hast, die Guardian-Bestellung zu verlängern, schrieb ich ihnen, unsere Rechnung Dir zu schicken. Wir wissen hier garnichts. Auch nicht Chamberlains Rücktritt und alles andere. Ich habe noch eine unangenehme Überraschung in den Brief gelegt. Es ist eine Schande £28 extra zu zahlen! Es bringt mir 2 Jahre nichts und dann angenommen, daß ich nächstes Jahr sterbe, ist es umsonst bezahlt, da Mutter auch noch meinte, daß es steuerfrei sei, wie sie mir immer wieder eindringlich sagte. Ich habe Mrs. Drapper, der anderen Treuhändern geschrieben und den Brief beigelegt. Was macht doch Annie nicht alles für Geld! Sie wird viel Steuer für ihren Anteil zahlen müssen, etwa £2 pro Woche. Schreibe mir bitte schnell und gib mir einen Rat, auch wenn Ihr eine andere Aufteilung macht. Ich kann es so bald nicht zahlen. Was ist mit der Hochzeit von Ted? Er hat noch immer nicht geschrieben! Kannst Du, wenn Du mir wieder schreibst, 5 Schillinge in 1 Pence Marken beilegen? Ich möchte auch wegen einiger Dinge schreiben, aber es ist so schwierig und teuer, von hier aus kleine Beträge zu schicken. Ich habe mich sehr über die Briefe von allen Mädchen gefreut, habe aber keine Zeit, sie zu beantworten. Erzähle doch Sallie, daß ich eine Skizze, die sie mir vor langer Zeit gab, eingerahmt und in mein kleines Wohnzimmer gehängt habe. Wir haben hier kaum Bilder und sie sind auch furchtbar teuer, genau so wie die Rahmen. Alles außer Essen und Trinken ist hier teuer. Habe ich Dir geschrieben, daß man hier Lammkeulen und Rinderlenden für 3 3/4 Pence pro Pfund, kaufen kann, Schweinefleisch für 4 1/2 Pence und Kalbfleisch heute für 3 Pence. Tee, Zucker und alle importierten Sachen sind hier furchtbar teuer. Vielleicht werde ich mich an unserem Bad erfreuen. Es ist so luxuriös und hat heißes Wasser, aber eine Dusche, so wie bei uns, ist hier in Riga unbekannt. Zwei Damen waren heute am Nachmittag zum Tee hier. Sie drängten mich letzten Freitag dazu, als sie nach Hause gingen. Auf dem Land war es herrlich. Es war für mich eine neue Erfahrung, vier Stunden im Zug zu fahren, dann von einem Wagen mit drei Pferden abgeholt zu werden, insgesamt 21 Werst (1 Werst = 2/3 Meile). Ihr habt, genau so wie ich, noch nie solche Straßen gesehen. Es war knöcheltiefer Morast, Wasser und nicht eingeebnet, aber es war sehr lustig auch wenn man sehr einsam ist. Rudolf gab sein Bestes, um mich nervös zu machen, als er mir gestand, seinen Revolver vergessen zu haben. Riga erscheint jetzt noch schöner, als im Frühjahr. Die Bäume haben solche herrlichen Farben bekommen und es gibt auch sehr viel wilden Wein. Die Anlagen sind wundervoll. Eine von Euch muß wirklich mit diesen baltischen Kreuzern kommen und es sehen. Erzähle den Mädchen, daß sie, wenn sie das nächste Mal "The Yeoman of the Guard" sehen, an mich denken sollen. Jetzt gehe ich mit einem Schlüsselbund, der an meinem Bund befestigt ist, so wie dieser dicke alte Hausmeister herum. Rudolf sagt auch, daß ich fett werde. Ich weiß nicht, aber es wird wohl so sein, da ich nicht mehr so viel spazierengehe. Gestern gingen wir zum Stintsee, einem großen See, der mit der Düna verbunden ist. Es war ein wirklich herrlicher Tag, so wie auch schon alle Tage vorher die letzten zwei Wochen: klar, sonnig und mittags heiß, aber morgens und abends kühl. Jetzt ist es aber Zeit nach meinem Samowar zu sehen. Also liebe Grüße an alle und schreibe bald!
                          Deine Lily.
                          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                          • Frank K.
                            Erfahrener Benutzer
                            • 22.11.2009
                            • 1318

                            #14
                            Bitte beim Datum beachten: es ist das Datum im Julianischen (1.) und Gregorianischen (14.) Stil angegeben.

                            Dokument 8: 1./14.01.1904

                            Liebe Florrie,
                            Dies ist unser Neujahrstag und ich schreibe meinen ersten Brief an Dich und wünsche Dir noch viele weitere. Vorher aber: Vater wird einen Weg finden, Dich hierher zu einem längeren Besuch kommen zu lassen. Es ist bestimmt eine nette Abwechslung die Dir gut tun wird. Eine Mrs. Smith, die hier lebt, hat eine 18 Jahre alte Schwester, die letzten Juli allein aus Hull gekommen ist. Wir gingen sie letzten Sonntag besuchen. Sie wohnen auf dem Land auf der anderen Dünaseite. Es ist dort im Winter sehr öde, aber im Frühling und Sommer sehr lieblich. Sie wohnen dort in einem Haus, das im englischen Stil erbaut wurde (unterstützt durch die Fabrik, in der Mr. Smith arbeitet). Die Schlafzimmer sind im Obergeschoß mit Bad, einem Garten und elektrischen Strom, alles umsonst. Sie haben einen netten kleinen Jungen, der Victor heißt, zu Weihnachten ein Jahr alt war, schon laufen kann und wie zwei Jahre alt aussieht.
                            Ich hoffe, daß es Dir langsam besser geht und Du keine großen Schmerzen hast. Ich habe den ganzen Dienstag an Euch alle gedacht und würde mich auch freuen, zu hören, wie es Dir geht.

                            Du mußt auch so lange im Bett liegen wie die Großmutter mit ihrem Knie, und sie ertrug es tapfer. Ich werde keine Ruhe predigen, weil ich weiß, wie schrecklich es ist, wenn andere etwas predigen wollen, wenn sie es nicht selbst erfahren haben. Ich hoffe nur, daß Du nicht die ganze Zeit flach auf dem Rücken liegen mußt! Ich war hier auch 7 Tage im Krankenhaus und es ist furchtbar, daß man davon genug hat. Kann Dich Vater herunter tragen, damit Du auf dem Sofa eine Abwechslung hast? Das würde es Dir erträglicher machen.
                            Heute früh sagte ich meinem Mädchen, daß sie nicht vor 10Uhr zu kommen braucht. Ich stand um 9Uhr auf, frühstückte und wartete dann bis 10.30Uhr. Als sie dann noch nicht da war, mußte ich sie suchen, da wir zum Dom (lutherische Kirche) gehen wollten. Nach der Kirche kamen wir zurück, aber sie wartete nicht auf uns und wir gingen zur Post. Gestern fiel Schnee und es fuhren schon Schlitten. Wir sahen einen mit einem herrlichen schwarzen Pferd, das der Fuhrmann kaum halten konnte und fuhren zum Kaisergarten und zurück.

                            Als wir auf der Esplanade an der russischen Kathedrale vorbeifuhren, sahen wir viele Leute, Polizisten und eine Militärkapelle und fanden heraus, daß sie auf eine Parade warteten. Auch alle Soldaten waren in der Kirche. Wir sagten zu unserem hübschen Pferd Lebewohl, warteten und sahen sie auch. Wir kamen etwa um 1.30Uhr nach Hause, mußten Feuer machen, Essen kochen und die Zimmer reinigen. Nach dem Essen habe ich geschlafen. Jetzt ist es 8Uhr. Gestern gingen wir ins Theater und sahen eine neue Oper: "Der Rastelbinder". Es wurde schon einmal in den englischen Zeitungen darüber berichtet. Ich habe es gelesen, aber wir sahen so etwas schönes das letzte Mal, als wir etwa vor einem Monat ins Theater gingen.
                            Es waren zwei Stücke, aber das letzte war so hübsch und nur Pantomime - ohne Worte. Es heißt "Die Puppenfee" und spielt in einem Spielwarengeschäft für mechanisches Spielzeug. Kunden kommen herein und ihnen werden alle Spielsachen gezeigt. Um 12Uhr, wenn alles dunkel ist, erweckt sie die Puppenfee alle zum Leben. Alle haben so viel Spaß! Die schönsten waren, denke ich, acht kleine Mädchen in Veras Größe, die wie kleine Puppen in ganz weißen Seidenkleidern, mit blaßblauen Socken und Schuhen bekleidet waren, herum tanzten und mit großer Freude zwischen den anderen umhersprangen. Hier wird es einfach nicht Winter, außer an einigen Tagen, an denen ein ekelhafter Ostwind weht. Auf dem Markt ist es eiskalt und die meisten Dinge sind jetzt gefroren, wodurch ihr Geschmack eher verdorben wird. Man hat langsam genug von Rindfleisch, Schweinefleisch, Schaffleisch. Ich bekam am Dienstag einen Hasen, der aber nicht so gut schmeckte, wie unser letzter. Erzähle Mutter, daß ich diese Woche ein herrliches Stück einer Rinderrippe für 3 1/2 Pence je Pfund bekommen habe. Butter kostet jetzt 9 oder 9 1/2 Pence. Orangen sind, wie alles andere Obst und Bananen sehr teuer, so daß man nicht daran denken kann. Es ist dieses Jahr mit Äpfeln und Birnen auch furchtbar, so daß wir knapp mit Obst sind. Es ist so schade, daß Zucker, Tee und alle importierten Dinge so furchtbar teuer sind. An einem Tag kam ein Bauer in einem Schafsfell in unser Büro um hölzerne Kistchen, so wie unsere kleinen runden Schachteln, so künstlerisch und alle aus Birkenholz gearbeitet, in die man Reis, Erbsen und andere Dinge hineintun kann, zu verkaufen. Sie kosteten jeweils nur 3 Pence und wir kauften drei oder vier.

                            Du solltest unseren Weihnachtsbaum sehen. An Heiligabend zündeten wir die Kerzen an und werden sie wieder anzünden, wenn am Sonntag Mr. und Mrs. Whittle zum Tee kommen. Es wird ein Erlebnis sein, mit jemandem Tee zu trinken! Unser Baum ist so groß, daß der silberne Stern auf der Spitze bis zur Decke reicht. Er ist mit Bonbons, Äpfeln, goldenen und silbernen Walnüssen und mit Kerzen geschmückt und mit kleinen Baumwollbällchen beworfen, die wie Schnee aussehen. Es ist eine Schande, solch einen prächtigen Baum abzusägen, obwohl er nur 10 Pence kostet und Holz hier spottbillig ist.
                            Ein Engländer, der hier in Pohles Fabrik arbeitet, wurde kürzlich morgens angegriffen, als er zur Arbeit ging. Seine Nase war gebrochen und er war sieben Tage lang bewußtlos. Er kann noch nicht sehen und sich an nichts erinnern. Seine Frau hat eine kleine Tochter, die auch krank ist. Mrs. Whittle erzählt, daß die Polizisten ihren Mann zur Arbeit hin und nach Hause begleiten.
                            Es gibt nicht viel, was man Dir erzählen kann. Die Tage vergehen sehr schnell und sind geruhsam. Ich habe genug zu tun und meine Dienstfrau hält mich auf Trab. Ich muß aufpassen, daß sie nicht zu viel vergißt, so wie es bei Fate ist. Wenn ich ihr nicht jeden Tag alles genau sage, bleibt es ungetan und ich denke sie tut es mit Absicht. Wir sind zur Zeit verschwenderisch, weil Onkel Rudolf Karten für Panderewski und Kubelik für nächsten und den darauffolgenden Dienstag gekauft hat. Onkel Rudolf hat mir einen herrlichen Teppich als Weihnachtsgeschenk für mein kleines Wohnzimmer gekauft. Gestern kam ein netter Brief von meiner Schwägerin Wilma aus Prekuln. Ich habe sie eingeladen, aber sie war krank und muß Ruhe haben. Ich hoffe, daß sie und ihr Mann im Frühjahr oder im Sommer kommen werden.
                            Die Adresse von Annie Hughlin ist: 88 Sister Lane, Halifax. Das alte Haus in der Hopwood Lane ist aufgegeben und steht zum Verkauf. Es ist Zeiten her, seit ich von Annie hörte und sie versprach mir, ein "Boot´s Diary" zu schicken, das allerdings noch nicht eingetroffen ist. Nun, liebe Florrie, auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an Mutter, die Zwillinge, alle anderen und auch Dir armer Kranken.
                            Deine liebe Tante Lily.
                            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                            • Frank K.
                              Erfahrener Benutzer
                              • 22.11.2009
                              • 1318

                              #15
                              Dokument 9: 1./14.01.1904

                              Lieber Arthur,
                              Kannst Du bitte £1-1-0 an die Geographical Society für letztes Jahr schicken und mitteilen, daß es das letzte ist. Wir sollten wirklich froh sein, ihre Berichte zu bekommen und von ihnen zu hören, aber wir können nicht an ihren Treffen teilnehmen. Die Anschrift ist: St. Mary´s Parsonage, Manchester. Schicke 3/- an Alice Robinson, Grandville Rd., Hallowfield, es sei denn, sie sagt Euch, daß es mehr ist und 3/- an Ada Wood, 4 Lismore Rd., Gospel Oak, London NW. Wenn sie schreibt, daß es 2/6 sind, dann schicke ihr trotzdem 3/-. Das ist egal, da sie niemals Porto berechnet. Wenn noch weiteres Geld kommt, dann schicke bitte einen Blankoscheck in der £-Höhe in 10/- oder 15/- und den Rest in englischen Marken. Marken sind immer hilfreich, wenn wir etwa bestellen wollen und von hier aus nicht direkt bezahlen können. Ich bat Alf um den Gegenwert von 5/-. Nach Monaten kamen 2/-, da er vergessen hatte, worum ich gebeten hatte. Die Hälfte verwendete ich gleich auf einmal für die Bestellung von einem Weldon-Schnittmuster.
                              Alles Liebe und Gute für Euch und Jennie für das kommende Jahr. Jetzt fühle ich mich gut und hoffe, daß alles bei mir und auch Euch gut werden wird.
                              Rudolf ist bei mir ...
                              Deine liebe Schwester Lily
                              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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