Fortsetzung aus dem Tagebuch eines alten Mannes

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #31
    Am 27. März trafen 150 in Premischel gefangene österreichische Offiziere ein. Sie wurden in Schulen und anderen Gebäuden untergebracht und von einem Posten bewacht. Ein Unteroffizier wohnte bei ihnen und begleitet die, welche wünschten, in der Stadt Besorgungen zu machen. Nach Hunger sahen sie nicht aus, waren sogar gut genährt und ihre Uniformen schienen eben erst vom Schneider geliefert worden zu sein. Man hatte ihnen die Säbel gelassen, sie wurden ihnen aber abgenommen, als bekannt wurde, dass die Österreicher einem gefangenen Russen die Zunge abgeschnitten haben sollten.

    In den ersten Apriltagen begann unsere Ausweisung. Während es den Tschechen und Polen erlaubt wurde, sich ungehindert in den Gouvernements Orenburg, Samara, Ufa, Kasan und Saratow zu bewegen, wurden uns bestimmte kleine Städte und Dörfer zugewiesen.

    Ich trug mich schon lange mit Fluchtgedanken und hatte auch Poley dazu überredet. Wir wählten den Weg über Persien oder Afghanistan und von dort weiter nach der Türkei. Wir besorgten uns Geld und warteten nun auf unsere Ausweisung. Sobald wir diese erhalten hätten, wollten wir mit der Bahn bis Taschkent, der Hauptstadt von Turkestan fahren und von dort aus versuchen, die Türkei zu erreichen. den Ausgewiesenen wurde kein bestimmter Termin zur Meldung am neuen Ort gesetzt und so hatten wir die Hoffnung, dass man uns nicht sobald nachforschen würde, dass man annehmen würde, wir befänden uns noch unterwegs nach dem neuen Ort. Als erster erhielt Höhne den Befehl, binnen drei Tagen nach Werchne-Uralsk, einem Städtchen 300 Werst östlich Orenburg abzureisen und sich spätestens 10 Tage nach Reiseantritt dort zu melden. Wir frohlockten, denn wenn man uns auch 10 Reisetage bewilligte, so konnten wir in 10 Tagen bereits über alle Berge sein.

    Am 25.4. fuhr er ab. Wir begleiteten ihn zum Bahnhof und ich habe ihn nicht wiedergesehen. Am 26. erhielt Poley die auf 3 Tage befristete Ausweisung, aber für mich kam kein Befehl. Um noch solange in der Stadt bleiben zu können bis auch ich den Befehl zur Abreise bekam, reichte er eine Bittschrift ein mit der Begründung, dass er krank sei und nicht reisen könne. Der Bittschrift legte er ein ärztliches Attest bei, in welchem seine Reiseunfähigkeit bescheinigt wurde. So glaubten wir, alles fein eingefädelt zu haben. Am 2. Mai morgens, als wir noch schliefen, wurden wir unsanft von einem Polizisten geweckt, der uns sagte, wir sollten uns sofort bei der Polizei melden. Wir glaubten nun, dass Poley Antwort auf sein Gesuch und ich meine Ausweisung erhalten würde. Die Krankheit Poleys war plötzlich soweit geschwunden, dass er schon wieder ganz leidlich gehen konnte. Weil wir aber ein schlechtes Gewissen hatten, hielten wir es nicht für ganz ausgeschlossen, dass man von unserer geplanten Flucht erfahren habe und man uns womöglich festnehmen wolle. Um ganz sicher zu gehen, beschlossen wir, dass nur einer von uns hinein gehen solle, und wenn er dort festgehalten würde, sollte der andere sogleich nach Hause gehen, dort alle Briefe vernichten und alle andern Sachen bei einem deutschen Kolonist deponieren. Wir losten darum, wer hinein gehen solle, es traf Poley. Ich begleitete ihn bis zur Tür und wartete dann in respektvoller Entfernung, wie sich die Sache weiter entwickeln würde. Etwa eine Stunde wartete ich und wollte schon nach Hause gehen, um alles zu beseitigen. Da sah ich Poley wieder heraus kommen, aber gefesselt und in Begleitung eines Polizisten. Also verraten, dachte ich. Was nun? Sollte ich mich auch festnehmen lassen oder sollte ich allein fliehen? Ich stellte mich so, dass die beiden an mir vorüber mussten. „Nur halb so schlimm“, raunte mir Poley zu, „man hat mich nur festgenommen, weil ich immer noch hier bin.“ Eine längere Unterhaltung verhinderte der Polizist. Ich war nun beruhigt und ging auch hinein. Ich erhielt die auf 3 Tage befristete Ausweisung nach Werchne-Uralsk.

    Als ich gleich darauf nach Hause kam, traf ich dort zu meinem erstaunen Poley und den Polizisten. Sie verhandelten eifrig über den Preis der Matratze, die der Schutzmann seinem Häftling abkaufen wollte. Sie einigten sich schließlich auf 30 Kopeken. Um mich noch einmal sprechen zu können, hatte mein Genosse es verstanden, sich die Erlaubnis zu erwirken, noch einmal nach Hause gehen zu dürfen, da er seinen Ausweisungsschein dort vergessen habe.

    Nachdem der Matratzenhandel zu beiderseitiger Zufriedenstellung erledigt war, begann Poley eifrig seinen Schein zu suchen, wobei wir noch allerlei besprachen und auf die Flucht verzichteten. Als wir uns nichts mehr zu sagen hatten, fand er plötzlich den Schein wohlverwahrt in seiner Brieftasche. Dem Schutzmann schien die Sache nun doch etwas verdächtig, er legte ihm wieder die Fessel an, und dann wanderten sie wieder zum Gefängnis, Poley voran und sein Wächter mit der Matratze unter dem Arm hinter ihm. Damals glaubte ich, dass sich unsere Wege für immer trennen würden aber nach Monaten verschiedenartiger beiderseitiger Erlebnisse fanden wir uns in einem fernen Baschkirendorf wieder zusammen.

    Am nächsten Tag schaffte ich die Sachen Poleys so wie verabredet, zu einem deutschen Kaufmann, einem Händler mit den berühmten ’Orenburger Tüchern’. Diese großen Tücher sind so fein gewebt, dass sie durch einen Trauring hindurch gezogen werden können.

    Bei diesem Kaufmann befand sich ein ’Karawan-Baschi’, der Führer einer Karawane, die im Tauschhof lagerte und der mit dem Kaufmann über den Transport von Tüchern nach Innerasien verhandelte. Ich kam mit ihm ins Gespräch, und dabei stellte ich fest, dass er mit Deutschland und der Türkei sympathisierte. Da durchzuckte mich wieder der Gedanke an die schon aufgegebene Flucht. Dieser Mann musste mich mitnehmen und sogleich trug ich ihm mein Anliegen vor. Er wollte aber nichts davon wissen. Er sagte, wenn er auch wolle, so sei es doch ganz unmöglich, einen Christen in seine Karawane aufzunehmen, seine Leute würden mich unter sich nicht dulden. Ich bot ihm Geld – er lehnte ab. Der Kaufmann unterstützte meine Bemühungen, ihn umzustimmen, er blieb bei seiner Weigerung. Ich versuchte ein Letztes, ich erinnerte ihn an die Ausrufung des Hl. Krieges durch das Oberhaupt des Islam und da endlich wurde er in seinem Beschluss wankend. Noch hielt er mir vielerlei Bedenken entgegen, aber ich zerstreute sie, so dass er endlich einwilligte. Er stellte mir aber die Bedingung, dass ich mich als Mohammedaner kleiden und führen müsse, dass ich vor allen Dingen die religiösen Gebräuche achten und selbst einhalten müsse.

    Um eine Entdeckung infolge meiner Unkenntnis ihrer Sprache zu verhindern, sollte ich mich als Tartar ausgeben. Seine Leute waren Turkmenen, die das Tartarische nicht verstanden und ich als Tartar verstand nicht das Turkmenische. Die Vermittelungssprache sollte die russische sein und wie sich später herausstellte, war ich ihnen darin überlegen. Meine damalige Gesichtsfarbe war meinem Vorhaben äußerst zweckdienlich, ich war tiefbraun, fast schwarz und war schon mehrmals von Tartaren als einer der ihren angesprochen worden. Mein nächster Gang war zu einem Barbier, wo ich mir den Scheitel nach der Vorschrift des Islam ausrasieren ließ. In einem Altkleidergeschäft besorgte ich mir Tartarenkleidung und zog sie mir gleich an. Mit meinen eigenen Kleidern unter dem Arm wanderte ich nach Hause. Unterwegs konnte ich die Echtheit meiner Kostümierung bereits ausprobieren. Als mir ein Bekannter begegnete, stutzte er wohl bei meinem Anblick, sprach mich aber nicht an, sondern sah nur hinter mir her. Eigentlich hätte ich noch alle mit Haaren bedeckten Körperteile rasieren müssen, ich unterließ es aber im Vertrauen darauf, dass man dorthin ja doch nicht sieht. Das war ein grundlegender Fehler, an dem meine Flucht scheitern sollte.

    Meine sämtlichen Sachen deponierte ich bei einem deutschen Kolonisten mit der Weisung, dass sie ihm gehören sollten, wenn ich 1 Jahr lang nichts von mir hören ließe. Am 4. Mai 1915 nahm ich von Bekannten Abschied und begab mich zum Tauschhof, wo die Karawane lagerte und von wo aus sie in den nächsten Tagen aufbrechen wollte. Ich muss sagen, dass mir doch nicht recht wohl zumute war, als ich mich unter meine Weggenossen mischte. Sollte ich doch nun unter fremdrassigen Menschen mit mir fast unbekannten Gebräuchen, fremder Sprache, strengen Religionsgebräuchen leben, ohne mir anmerken zu lassen, dass mir all dies fremd war. Äußerste Vorsicht und größte Anpassungsfähigkeit waren nötig, um den Anforderungen gewachsen zu sein. Ich nahm mir vor, vor allem die religiösen Gebräuche zu studieren.
    ---
    Ich habe gesehen, dass es die Orenburger Tücher immer noch gibt. Aber diese werden wohl nicht durch einen Ring passen.
    VG Helen
    Zuletzt geändert von Helen; 02.05.2010, 20:17.

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #32
      Von Anfang an schien man mich mit Misstrauen zu betrachten. War ich doch als Tartar Angehöriger eines anderen Stammes, eines Volkes, das sich fast ausschließlich durch Handel ernährt, auf das meine neuen Genossen, als einem freien kriegerischen Volke angehörend, mit Verachtung blickten.

      Schon am zweiten Tage merkte ich die mir gelegten Schlingen. Die mir zugeteilten 6 Kamele waren die störrischsten, bissigsten und faulsten Tiere wahrscheinlich der ganzen Karawane. Man hatte sie sorgfältig für mich ausgesucht. Und nun begann ein Kampf zwischen mir und – den Kamelen. Anfangs sah es so aus, als sollte ich unterliegen, und ich war nahe daran, meine Flucht aufzugeben.
      Aber die schadenfrohen Gesichter meiner Genossen fachten meinen Trotz und meinen Willen zum Durchhalten wieder an.

      Auch die Kamele schienen in mir den Neuling zu wittern. Wie habe ich diese elenden Kreaturen verwünscht und verflucht. Ich habe es zunächst mit Geduld mit ihnen versucht. Der Erfolg waren Bisse und Gebrüll .Tränen der Wut sind mir gekommen, wenn mich so ein Satansvieh zum Gaudium der Umstehenden von oben bis unten bespuckte. Sehr bald erkannte ich, dass hier nur rohe Gewalt helfen könne und ich griff zur Peitsche. Der Erfolg war gleich null. Erst als ich erbittert und halb verzweifelt diese Bestien mit brutaler Rücksichtslosigkeit zu Leibe ging, wurde ich ihrer Herr. Als ich dem Spuckteufel zweimal das Maul zerschlagen habe, gab er auf, und als ich den andern mittels des Nasenpflocks mehrmals die Nasen zerrissen hatte, so dass das Blut in Strömen floss, hatte ich Ruhe vor ihren Bissen.

      Der Leser dieser Zeilen wird mich vielleicht als rohen Tierquäler bezeichnen, aber wer diese buckligen Menschenquäler kennt, der weiß, dass man sie nur bändigen kann, wenn man sie mit erbarmungsloser Härte behandelt. Das ist ein dort allgemein übliches Verfahren, ohne das man als Kameltreiber nicht auskommt.

      Nachdem ich die Bestien gebändigt hatte, wurden mir plötzlich zwei von ihnen ausgetauscht. Ich vermutete eine neue Teufelei und war auf der Hut. Die Tiere stellten sich aber als völlig fromm heraus. Was sollte das also bedeuten? Hatte vielleicht der Karawan-Baschi eingegriffen? Nun, ich sollte es bald erfahren.

      3 Tage befand ich mich bereits bei der Karawane, am vierten Tag sollte aufgebrochen werden, da die Ladung nun komplett war. Sie bestand hauptsächlich aus Textilien und Futter für die Tiere. Freundlicherweise hatte man mir Maschinenteile gegeben, da diese sich am unangenehmsten transportieren lassen. Wohl der Tiere, nicht meinetwegen hatte man mir bei der richtigen Bepackung geholfen. Es kam der Befehl zum Aufbruch, die Tiere erhoben sich mit ihren Lasten und der Zug setzte sich in Bewegung. Aber was sich nicht erhob, das waren meine beiden ausgetauschten frommen Höckerlinge. Ich peitschte sie aus Leibeskräften, sie schrieen nur und schüttelten sich. Ich riss am Nasenstrick, aber an Aufstehen dachten sie nicht. Sollten meine Peiniger doch noch über mich triumphieren? Eine rasende Wut ergriff mich. Ich nahm getrockneten Kamelmist, zündete ihn an und schob ihn unter den Bauch der brüllenden Tiere. Und siehe da – mit einem Satz sprangen sie auf und schaukelten dem Zug nach. Wie ich später erfuhr, hatte ich zufällig das einzig wirkende Mittel angewandt, das den Starrsinn der Tiere brechen konnte. Durch die Bändigung der schwierigsten Tiere der ganzen Karawane hatte ich den Eindruck erweckt, dass mir das Metier eines Kameltreibers doch nicht so fremd sei, wie es anfangs schien. 2 Tage lang hatte ich Ruhe.

      Am 3. Tag, nachdem wir uns abends gelagert hatten, erschien Hassan, der es besonders auf mich abgesehen hatte. Hassan war ein unangenehmer Kerl, schmierig und zerlumpt, pockennarbig und fast schwarz. Er brachte ein Kamel und wollte es ohne ein Wort zu sagen, wieder austauschen. Ich hatte aber genug vom Tauschen und wollte mich nicht länger narren lassen, ganz gleich, welche Folgen entstehen würden. Dies sagte ich ihm auch in der deutlichsten Weise. In seiner Wut warf er mir das schlimmste Schimpfwort entgegen, das ein Moslem kennt und das er sich nicht gefallen lassen darf. Er nannte mich ‚Sukin Sin’, Sohn einer Hündin. Dadurch brachte er mich in eine äußerst kritische Lage. Steckte ich die Beschimpfung ruhig ein, so fiel ich der allgemeinen Verachtung anheim, man hätte mich als Feigling betrachtet und wäre so gut wie vogelfrei gewesen. Nach den Gesetzen der Steppe konnte der Schimpf nur mit Blut getilgt werden, aber bei diesen fanatischen Anhängern der Blutrache wäre mein Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Ich war heilfroh, keine Waffe zu besitzen, also nicht gezwungen zu sein, die landesübliche Vergeltung zu üben.

      Ich schlug ihm mehrmals die Peitsche ins Gesicht, worauf er nun zum Dolch griff und mich ansprang. Bereits in Livland hatte ich die Kunst des Jiu-Jitsu geübt und ich hätte ihm wohl die Waffe entreißen können, aber ich durfte ja nicht in den Besitz derselben gelangen ohne sie anzuwenden und so beschränkte ich mich auf die Verteidigung. Aus dieser schlimmen Lage befreite mich der herbei geeilte Karawan-Baschi, der uns auseinander trieb und Ruhe gebot.

      Für den Augenblick war wohl dieser gefährliche Raufhandel beendet, aber ich wusste, dass Hassan die Peitschenhiebe rächen würde und befleißigte mich der größten Vorsicht. Der Karawan-Baschi sah ein, dass es über kurz oder lang zu einer Auseinandersetzung zwischen uns kommen musste. Um dies zu verhindern, bestimmte er, dass ich meine 6 Kamele abzugeben habe und reihte mich in die die Karawane begleitende Wachmannschaft ein, deren Aufgabe war es, den Zug gegen räuberische Überfälle zu schützen. In der Wüste kommt noch die Aufgabe hinzu, voraus zu reiten und festzustellen, ob die nächste Wasserstelle frei oder von einer entgegenkommenden Karawane besetzt ist.

      Ich erhielt ein Reitkamel und eine Flinte und musste versprechen, diese nicht gegen Hassan zu gebrauchen, solange ich in seinen Diensten stehe. Ich weiß nicht, ob er im Ernst glaubte, dass ich sie gegen Hassan anwenden würde, ich glaube eher, dass er mich vor dem Verdacht der Feigheit schützen wollte, wusste er doch, dass ich als Christ durchaus nicht nach dem Blute meines Feindes lechzte. Ich gab ihm das Versprechen, obwohl ich mich anstellte, dass dies ein fast unerträgliches Opfer sei.

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #33
        Die Arbeit als Späher war eine bedeutend angenehmere als die eines Treibers. Konnte ich doch jetzt reiten, wenn sich auch anfangs die Gedärme erst an die unangenehme Gangart des Kamels gewöhnen mussten. Ich hatte jetzt nur ein Tier zu versorgen und das Be- und Entladen derselben kümmerte mich nicht mehr. Ganz besonders behagte mir das abenteuerliche Wesen meiner neuen Beschäftigung. Als Junge hatte ich mit Begeisterung die Reiseerzählungen von Karl May gelesen. ‚Durch das wilde Kurdistan’, ’Die Todeskarawane’ und andere Erzählungen fielen mir ein und ich kann sagen, dass mir das Lesen derselben hier nicht ohne Nutzen war. Phantastische Wünsche der Jugendzeit waren Wirklichkeit geworden, freilich die Ursache der Erfüllung hatte ich mir anders gedacht. Bei irgend einer Gelegenheit hatte mich mein Vater einmal einen Abenteurer genannt. Damals wusste ich nicht, was es bedeutet, aber ich schämte mich. Und nun stand ich mitten in einem Abenteuer, vor mit unbekannte Gefahren, aber auch die Hoffnung auf die Freiheit und auf die Heimat.

        Die frommen Bräuche meiner wilden Gefährten hatte ich bald begriffen. Wenn morgens der Sonnenball am Horizont auftauchte, warfen sich alle auf die Knie und dankten Allah für die Gnade des Geschenks des neuen Tages. Mit dem Gesicht nach Mekka gewandt, wurden die vorgeschriebenen Gebete verrichtet. Nie im Leben habe ich so viele ‚Vater unser’ gebetet wie auf dieser Reise und da ich dieselben mit viel ‚Allahs’ und einigen ‚Mohammeds’ für die dortigen Bedürfnisse abänderte, ahnte niemand, dass ich inmitten der fanatischen Moslems zum Christengott betete.

        Auch wenn ich ganz allein auf Streife war, hielt ich die Gebetszeiten früh, mittags und abends genau inne, es war ja möglich, dass ich beobachtet wurde und eine Unterlassung des Gebets hätte mich unzweifelhaft verraten.

        Gar manche lebenslang gewohnte Handlung musste unterbleiben, konnte oder durfte hier nicht ausgeübt werden. Was ich bisher als etwas Nebensächliches, aber doch als etwas Selbstverständliches angesehen hatte, fehlte mir hier, ich meine, das Papier. Man braucht es zum Briefe schreiben, zum Einpacken oder Feuer anzünden und noch zu vielen andern Zwecken. Es ist aber auch bei einer gewissen Verrichtung nötig, dringend nötig und kaum durch etwas anderes zu ersetzen. Jedem ist es vielleicht schon einmal passiert, dass er nach einer gewissen Beschäftigung bemerkt, dass kein Papier in erreichbarer Nähe ist. Durch Rufen ist niemand erreichbar, man befindet sich vielleicht in einem fremden Haus, eine Situation zum Verzweifeln. Gras pflegt in dem kleinen Raum nicht zu wachsen und Blätter hat der Wind auch nicht herein geweht. Was ist da zu tun?

        Der in den Städten oder Zelten lebende Mohammedaner hilft sich ohne Papier, auch wenn solches vorhanden wäre. Da sieht man Männlein wie Weiblein mit einem kleinen Blechgefäß zum Örtchen wandern. In dem Töpfchen befindet sich Wasser, das die Stelle des Papiers vertritt. Uns erscheint das Verfahren etwas unappetitlich, aber Mohammed hat es so in weiser Voraussicht vorgeschrieben, denn zu seiner Zeit gab es ja noch kein Papier. Wie aber, wenn man mit einer Karawane unterwegs ist? Da hat man kein Wassertröpfchen, denn Wasser kann in der Wüste zu solch profanen Zwecken nicht vergeudet werden. Wenn verdorrte Grasbüschel oder magere Sträucher erreichbar sind, so müssen diese herhalten. Wo aber nur Sand und Steine liegen, da müssen eben diese als Ersatz dienen. Das ist dann im wahrsten Sinne recht raues Verfahren. Aber Übung macht den Meister und der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

        Wir sind auf unserem langen Weg mit Räubern und Mördern zusammen getroffen, aber nie habe ich beobachtet, dass einer von ihnen die Gebete unterlassen hätte. Räuber und Mörder waren es jedoch nur nach unseren hiesigen Begriffen. Dort galten sie als kühne und tapfere Krieger, die nur den Tribut für die Erlaubnis des Durchziehens ihres Gebietes forderten und wenn dieser verweigert wurde, sich denselben mit Gewalt nahmen. Zu Kampfhandlungen kam es während unserer Wanderung nicht und so musste ich mich damit begnügen, die Güte meiner langen Flinte an Schakalen und Geiern zu erproben. In der Steppe gewahrte ich auch öfters Wölfe, doch kamen sie mir nie schussgerecht, denn im Sommer meidet der Wolf die Nähe des Menschen. Oft wurden wir wohl nachts von verdächtigen Gestalten umschlichen und auch am Tage umkreisten uns bedrohlich aussehende Reiter, aber es waren nur vereinzelte Wegelagerer, die sich nicht an uns herantrauten. Das Vorhandensein einer bewaffneten Begleitung genügte, sie unserer Karawane fernzuhalten.

        Von Orenburg führte unser Weg zunächst durch die weite, endlose Kirgisensteppe in der Richtung zum Aral-See. Tage- und wochenlang nichts als Steppe mit weidenden Pferden, Schafen und einigen Rindern. Das Rind wird dort durch das Pferd ersetzt, welches auch die Milch liefert. Wir Wachmannschaften hatten dort wenig Arbeit, denn die Kirgisen sind ein Hirtenvolk, dem im Gegensatz zu den Turkmenen das Kriegshandwerk, Kampf und Raub wenig liegt. Als wir einmal von einer Horde dieser Steppenreiter in unserem Lager besucht wurden und ich auf einem ihrer kleinen Pferde einen Proberitt machte, da mich der eigenartige Sattel interessierte, bin ich knapp einer Entdeckung entgangen. Nach gewohnter Art ritt ich englischen Trab, was ein stürmisches Gelächter der Zuschauer hervorrief. Erstaunt war ich, als mir der Karawan-Baschi diese ‚Possen’ verbot und mir befahl, mich um mein eigens Reittier zu kümmern. Als er mich später allein traf, sagte er mir, dass eine große Unvorsichtigkeit begangen hätte, denn unter seinen Leuten seien einige, denen die Reitweise der Europäer nicht unbekannt sei. Zu meinem Glück habe man mich als Komiker oder als Dummkopf angesehen, der vom Reiten auf Pferden keine Ahnung habe. In der Folge habe ich es vorgezogen, mich nur auf dem Rücken meines Kamels zu produzieren.

        In der Gegend vom Aral-See kamen wir in eine wüstenähnliche Gegend, die später von der eigentlichen Wüste abgelöst wurde. Hier begann unsere Haupttätigkeit. Zu zweit ritten wir 5 bis 10 Werst vor der Karawane her oder wir streiften links und rechts davon oder folgten in einiger Entfernung. Den Weg zeigten uns die im Sand bleichenden Knochen verendeter Kamele. Nachts wurden die Wachen näher herangezogen. Während ein Mann ruhte, blieb der andere auf seinem Posten und wachte.

        Wunderbar waren die sternklaren, wenn auch sehr kalten Nächte, deren lautlose Ruhe nur durch das Geheul der hungrigen Schakale unterbrochen wurde. Die Zeit wurde am Firmament abgelesen, nur selten war dieses große Zifferblatt von Wolken verdeckt. Da mir anfangs die Übung im Zeitablesen fehlte, richtete ich mich immer nach meinen Gefährten. Nachteilig war es für mich, wenn ich die Wache vor Mitternacht hatte und ich ihn nach deren Ablauf wecken musste. Um ihn nicht zu früh zu wecken, wachte ich oft länger als es nötig gewesen wäre, um meine Unkenntnis zu verbergen. Aber nach einiger Zeit war auch mir der große Uhrzeiger am Himmel vertraut.

        In beständiger Sorge lebte ich vor einer Begegnung mit Tartaren, hätte doch ein Gespräch mit ihnen mich sofort entlarven müssen. Darum wich ich uns begegnenden Karawanen aus und näherte mich erst wieder, wenn diese vorbei waren. Mit dem Führer der Karawane hatte ich dieses Verfahren so vereinbart.

        Unser erstes Reiseziel war die Stadt Kasalinsk, in welcher ein buntes Völkergemisch lebte, darunter viele Tartaren. Das war für mich eine gefährliche Klippe. Gern hätte ich mich mit meinem Kamel aus dem Staub gemacht, aber die persische Grenze war noch weit und von was hätte ich leben sollen, da ich Geld so gut wie gar nicht besaß. Und wäre ich gar als Kameldieb erwischt worden, so hätte das für mich peinlich enden können. Es gab also keine Möglichkeit den Gefahren Kasalinsks auszuweichen. Auch der Karawan-Baschi hatte die gleichen Bedenken, aber er fand einen Ausweg.

        Er versprach, mich während des Aufenthalts in der Stadt mit einem Auftrag zu einem Bekannten außerhalb der Stadt zu schicken. Bei ihm sollte ich bleiben bis er seine Geschäfte in der Stadt würde abgewickelt haben. Etwa 5 Werst vor der Stadt gab er mir einen Brief und schickte mich mit diesem zu einem Turkmenen namens Ibrahim Saprudow. In dessen Jurte wurde ich nach dem Lesen des Briefes freundlich aufgenommen. Ich wusste, solange ich mich hier befand, war ich unbedingt sicher, denn das Gastrecht ist dem Mohammedaner heilig. Beschützt er doch selbst seinen ärgsten Feind, sobald sich dieser unter den Schutz seines Zeltes stellt. Er wird erst wieder sein Feind, sobald er sein Zelt verlassen hat. Ibrahim war ein Feind der Russen und ein Freund der Deutschen, über deren Erfolge er gut unterrichtet war und von dem ich den Stand der Kriegsereignisse auf den verschiedenen Plätzen erfuhr. Innerhalb seines Zeltes war ich von dem lästigen Zwang meiner Maskerade befreit. Das Hocken mit untergeschlagenen Beinen war mir immer recht sauer geworden, hier konnte ich wieder sitzen wie es in der Heimat üblich war. Mir zu Ehren schlachtete er ein Schaf. Das Festmahl wurde von einer seiner Frauen aufgetragen, d.h., sie setzte den großen Topf mit Fleisch vor uns auf den Boden. Ibrahim suchte die besten Stücke mit der Hand heraus und gab sie mir. Teller oder gar Gabel und Messer gab es nicht. Er schien beleidigt, weil ich seiner Meinung nach zu wenig aß, obwohl ich hinein stopfte, wie es nur ging.

        Die weiblichen Wesen erschienen nur mit verhülltem Gesicht vor mir. Gern hätte ich ihre orientalische Schönheit bewundert, von der meine Phantasie überzeugt war, aber dazu erhielt ich keine Gelegenheit. Am 5. Tag meiner Anwesenheit bei Ibrahim erschien der Karawan-Baschi um mich abzuholen. Er hatte seine Geschäfte erledigt und wollte weiterziehen, als nächstes Ziel die Stadt Buchara. Beim Aufbruch trug ihm sein Gastgeber auf, recht gut für mich zu sorgen. Begleitet von seinem ‚Allah behüte dich’ verließ ich sein gastliches Zelt. Mein Begleiter wies mich an, die Stadt nicht zu betreten, sondern sie zu umreiten und jenseits die Karawane wieder zu erwarten. Ich fürchtete, dass dies auffallen würde, wenn ich plötzlich wieder auftauchen würde. Er erklärte mir aber, dass sich in der Karawanserei der Stadt viele Tartaren aufhalten, mit denen ich nicht zusammen treffen dürfe und er meine Abwesenheit mit einem mir erteilten Auftrag erklärt habe. Ich hatte 3 Stunden gewartet, als sich der lange Zug nahte. Viele neue Gesichter waren darunter, eine Anzahl Treiber wie auch Reiter waren ausgewechselt worden. Mein Freund Hassan war leider noch dabei. Mit einer Schmähung begrüßte er mich.
        ---
        VG Helen

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #34
          Nach einer Wanderung von 6 Tagen erreichten wir die eigentliche Wüste. Sand, nur Sand, glühender Sonnenbrand und Durst waren nun unsere Begleiter. Als Junge hatte ich in einem Schulbuch gelesen, dass der Wüstenwanderer in größter Not sein Kamel schlachtet, um sich durch Trinken des Wassers, dass das Tier enthält, vor dem Verdursten zu retten. dazu kann ich nur sagen, man müsste denjenigen, der das schrieb einmal zwingen, von dieser warmen grünen und stinkenden Brühe zu trinken, er würde solchen Unsinn nicht mehr schreiben. Wahr ist nur, dass das Kamel soviel Wasser zu sich nehmen kann, dass es längere Zeit als andere Tiere ohne Wasser auskommt. Darum benutzt der Wüstenwanderer nicht das Pferd, sondern das Wüstenschiff Kamel. Für Wasserstellen hat es eine feine Witterung und entdeckt diese sicherer als der Mensch.

          Die auf unserem Wege liegenden Wasserstellen waren bekannt, wir brauchten sie nicht zu suchen, da sich der Karawanenweg immer an ihnen entlang zieht. Müsste man sich nicht an diese halten, so würde man natürlich den kürzesten Weg geradeaus wählen, so aber ist man oft zu weiten Umwegen gezwungen. Ärgerlich ist es, wenn man müde die Wasserstelle erreicht hat und diese von einer andern Karawane besetzt ist. Es bleibt dann nichts weiter übrig als zu warten, bis die Stelle geräumt wird.

          In diesen Tagen, als ich von dem Gelingen meiner Flucht fast überzeugt war, hatte man mich schon entdeckt, ohne dass ich davon eine Ahnung hatte. Nur aus dem Benehmen Hassans und auch anderer hätte ich dies entnehmen können, aber ich hielt ihr Benehmen nur für den Ausdruck ihrer Abneigung gegen einen andern Stammesangehörigen. Später erfuhr ich, wie ich entdeckt wurde: Nachts hatte ich mich erhoben, um ein kleines Bedürfnis zu verrichten. Da ich mich unbeobachtet glaubte, nahm ich dabei nicht die dort übliche Kauerstellung ein, sondern verrichtete die Sache stehend. Diese Unvorsichtigkeit zog noch etwas anderes nach sich. Hassan hatte mich beobachtet und daraus seine Schlüsse gezogen. Um ganz sicher zu gehen, untersuchte er, als ich schlief, meinen Körper und stellte dabei fest, dass ich nicht überall rasiert war. es war nun nicht schwer, zu der Überzeugung zu kommen, dass ich kein Moslem war, dann aber nur eins sein konnte, ein entflohener Kriegsgefangener. Sein Hass gegen mich war der empfangenen Peitschenhiebe wegen größer als die Befolgung der ihm durch seine Religion auferlegte Pflicht, einem Angehörigen der mit der Türkei verbundenen Macht beizustehen. Wochenlang noch zogen wir weiter ohne dass etwas geschah, nur schien mir, als ob man mich ständig beobachtete. Tauchte doch selbst nachts Hassan oder ein anderer in meiner Nähe auf ohne einen Grund dafür anzugeben. Ich hatte das Gefühl, dass man sich nur vergewissern wollte, ob ich noch da sei.

          So kamen wir in die Nähe der Stadt Buchara und der Verkehr wurde lebhafter. Aber auch meine Beobachter schienen aufmerksamer zu werden, man ließ mich nicht mehr aus den Augen. Ich besprach mich mit dem Karawan-Baschi und fragte, ob er m ich nicht wieder mit einer Anfrage fortschicken könne um den Tartaren der Stadt zu entgehen. Er bedauerte, dies nicht tun zu können, da es das letzte Mal schon Verdacht erregt habe. Die Wahrheit aber war, dass er wusste, dass ich entdeckt war und er nichts unternehmen durfte, das ihn selbst verdächtig gemacht hätte. Ich beschloss, mich nun bei Nacht und Nebel davon zu machen, um auf irgendeine Weise die afghanische Grenze zu erreichen. Aber dazu kam es nicht mehr. „Nun, Mohammed, Ali oder wie du sonst heißt, wir haben mit dir zu sprechen“, rief mir Hassan höhnisch zu. Nun fragte mich einer der Fremden, aber ich verstand ihn nicht. Triumphierend schrie mich mein Feind an: „Du Hundesohn, kennst deine eigene Sprache nicht, Tartar willst du sein, ein Christenhund bist du, aber ich habe dich gleich erkannt. Allah verdamme dich!“ der herbei geeilte Karawan-Baschi konnte nichts mehr retten. Um nicht selbst in Verdacht der Beihilfe zu geraten, nahm er mir die Flinte ab und ich musste, bewacht von Hassan, der Karawane folgen. Und ich kann wohl sagen, er nahm es mit seinem Wächteramt ernst, in der folgenden Nacht hat er neben mir sitzend, kein Auge zugetan.

          Als wir am nächsten Tag in Buchara einzogen, wurde ich der Polizei übergeben, die mich ins Gefängnis brachte. Das war das Ende meiner ersten Flucht, einer Kette von Strapazen, aber auch interessanter Erlebnisse.

          2 Jahre später, als jede Ordnung in Russland verloren gegangen war, machte ich mir diesen Zustand zunutze, entfloh abermals auf anderen Wegen und dieses Mal blieb mir der Erfolg nicht versagt. Doch davon später.

          Nachdem ich bereits eine Woche im Gefängnis verbracht hatte, wurde ich vernommen. Im Laufe des Verhörs eröffnete mir der Beamte, daß ich nun in die Bergwerke Nord-Sibiriens deportiert wreden würde.

          Das ist das Schlimmste, was einem in Russland passieren kann. Diese Aussicht war niederschmetternd und ich verwünschte meine begangenen Unvorsichtigkeiten. Tage- und nächtelang zermarterte ich mein Hirn, wie ich wohl aus dieser verzweifelten Lage entrinnen könne, aber alles erschien aussichtslos. Aber wie so oft in meinem nicht immer auf den üblichen normalen Wegen verlaufendem Leben blieb ich auch diesmal vom Schlimmsten bewahrt. Wenn man so oft wie ich an gefährlichen Klippen, an denen andere Menschen scheitern, mit genauer Not noch vorbeikommt, lernt man an eine Vorsehung glauben, auch wenn man sich lange dagegen sträubt.

          Nach einer weiteren Woche wurde ich wieder vorgeführt und der Obhut eines Polizisten übergeben, der mich auf den Bahnhof führte. Wohl wunderte ich mich, dass ich einzeln in das Bergwerk gebracht werden sollte, wußte ich doch, daß man immer Sammeltransporte zusammenstellte. Aber warum sollte es in diesem Land der Gegensätze nicht auch einmal anders gemacht werden.

          Wir stiegen in einen Zug, der in der Richtung Samarkant – Taschkent fuhr. Mein Begleiter, anscheinend im Bewußtsein, eine weite, schöne Reise machen zu können, war bester Laune. Ich versuchte sofort zwischen uns ein gutes Verhältnis zu schaffen um eine Gelegenheit zu finden, ihn die Reise – ohne mich machen zu lassen. Flucht war mein einziger Gedanke. Zwar dauerte er mich wegen der für ihn daraus entstehenden Folgen, aber wenn schon einer von uns in die Bergwerke sollte, dann lieber er als ich.

          Ich mußte ihm versprechen, keinen Fluchtversuch zu machen und war später von Herzen froh, daß ich dies Versprechen nicht brechen brauchte. Am zweiten Tag unserer Reise fragte ich ihn, in welches Bergwerk er mich bringe. Er sah mich ganz verwundert an und wollte nicht verstehen. Als ich ihm sagte, daß man mich in Buchara doch zur Zwangsarbeit verurteilt habe, verstand er und brach in ein Gelächter aus. Ich ärgerte mich über seine unangebrachte Heiterkeit und sagte ihm dies auch, worauf er noch mehr lachte. Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er mir, daß er den Auftrag habe, mich nach Orenburg zu bringen.

          Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen, Orenburg – den Ort, von dem ich meine Flucht begonnen hatte? Dies Verfahren fand ich merkwürdig, war aber damit durchaus einverstanden. Ich würde wahrscheinlich wieder einige Monate Gefängnisluft atmen müssen, aber was war das schon, die würde ich schon überstehen.

          Als wir in Taschkent in einen Zug der Strecke Kasalings – Orenburg umstiegen, war ich überzeugt, daß er mich nicht hatte verulken wollen. Es ging also wirklich nach Orenburg.

          In Orenburg lieferte er mich bei der Polizei ab. Er war einer der gutmütigen Russen, deren ich viele kennenlernte. Vorläufig war also das Gefängnis wieder mein Quartier. Eine Woche musste ich wieder zwischen verlaustem Gesindel zubringen, dann wurde ich wieder von einem Polizisten zum Bahnhof gebracht.

          Unsere Reise ging bis Samara. Im Gegensatz zu meinem vorigen Begleiter war dies ein unfreundlicher Geselle. Auf meine Frage nach dem Ziel dieser Reise hatte er nur eine brummige unverständliche Antwort. In Samara stiegen wir um und kam abends 11 Uhr in Wjasowaja an. Nun war ich also doch wieder in Asien.

          Da auf unserer weiteren Strecke täglich nur ein Zug verkehrte, mußten wir bis 10 Uhr am anderen Tage warten. Unsere Schlafstätte waren die harten Bänke des Warteraums. Das lange Warten und die schlechte Schlafgelegenheit hatten die üble Laune des Polizisten nicht gebessert, aber aus seinen beständigen Nörgeleien machte ich mir wenig. Damit ich ihm nicht verloren gehe, hatte er nachts seinen linken Arm mit meinem rechten mit einer Fessel verbunden. Unsere Fahrt ging am nächsten Tage nur zu dem 30 Werst entfernten Orte Soprudowka. Wieder mußten wir bis zum nächsten Tage warten, um dann mit der Kleinbahn weiter zu fahren.

          Kleinbahnen haben meistens etwas Idyllische an sich, auch in der lieben Heimat, aber was ich dort in Russland, mitten im Uralgebirge erlebte, überstieg doch meine bisherigen Erfahrungen.

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #35
            Auf der Abbgangsstation stieg ein außergewöhnlicher Passagier zu uns. Er kam nicht freiwillig, sondern musste gezerrt und geschoben werden, es schien seine erste Reise mit der Eisenbahn zu sein. Er protestierte auch laut und heftig. Der sonderbare Reisegast war nämlich ein Öchslein.

            Auf der vierten Station stieg dieser seltene Reisegast wieder aus, wobei wir alle behilflich waren und wofür er uns verschiedene Andenken zurück ließ.

            Bei uns befand sich auch ein junges Ehepaar. Auf einer Haltestelle stieg die Frau aus um heißes Wasser für Tee zu holen. Wider Erwarten setzte sich der Zug nach kurzem Verschnaufen wieder in Bewegung und von der Frau war noch nichts zu sehen. Der arme Ehemann wußte nun nicht, sollte er seine Frau oder das Gepäck verlassen und der Schweiß trat ihm ob dieses Gewissenkonflikts auf die Stirn.

            Im Scherz machte ich dem Ratlosen den Vorschlag, abzuspringen und den Lokomotivführer einzuholen. Dies leuchtete ihm auch ein und zu meiner Überraschung schwang er sich auch schon zur Tür hinaus.. Zwar landete er nicht ganz normal, er raffte sich aber schnell wieder auf und nun begann ein Wettlauf, wie ich ihn spannender noch nicht gesehen hatte. Durch die begeisterten Zurufe des fahrenden Publikums angefeuert, selbst mein mürrischer Begleiter schrie aus Leibeskräften, schlug er ein Tempo an, das selbst einen Nurmi neidisch gemacht hätte. Ich habe nie geglaubt, daß man einer Frau wegen so springen kann. Ich meine, so springen, um sie nicht zu verlieren, der umgekehrte Fall wäre mir schon verständlicher.

            Die Bemühungen des Läufers waren nicht ohne Erfolg. Bald hatte einen Wagen überholt und da ja Kleinbahnzüge bekanntlich nicht übermäßig lang sind, war er auch bald in die Nähe der Lokomotive aufgerückt. Mit wilden Armbewegungen signalisierte er dem Führer und dieser, wohl in der Annahme eines schrecklichen Unglücks, zog die Bremse. Die darauf einsetzenden Verhandlungen hatten Erfolg, das Zügle setzte sich nach rückwärts in Bewegung, der mit dampfendem Teekessel und fliegenden Röcken der beinahe verloren gegangene Ehefrau entgegen.

            Mit strahlenden Gesichtern stieg das wieder vereinigte Ehepaar zu uns und der Zug setzte seine Fahrt wieder fort. Der dankbare Ehemann ließ mich ob meines klugen Ratschlages zu einem Glase Tee ein und auch der Wächter durfte teilhaben.

            Für die endlos lange Strecke entschädigte uns deren Schönheit.

            Das Uralgebirge hatte ich mir allerdings viel gewaltiger gedacht, erreichten doch die Bergspitzen nicht einmal die Höhe unserer heimischen Berge. Die größten Gegensätze sah man hier dicht nebeneinander. Der eine Berg ist mit schönstem Nadelwald bestanden und dicht daneben ragt ein völlig kahler Felskegel zum Himmel. In jener Gegend gibt es noch zahlreiche Bären und Wölfe, aber auch Elch-, Auer und Birkwild ist reichlich vertreten.

            Um 7 Uhr abends erreichten wir das Ziel der heutigen Reise, das Fabrikdorf Tirlan. Von dort aus mußte die Fahrt per Achse fortgesetzt werden. Ich glaubte, daß wir hier übernachten würden, aber mein Begleiter requirierte sofort einen Wagen, in dem wir bei beginnender Dunkelheit abfuhren. Es war eine wilde und unheimliche Fahrt. Bald ging es durch reißende Flüsse und Bäche, bald über hohe Felsrücken, da daß wir in dem ungefederten Korbwagen ganz erbärmlich durcheinander geschüttelt wurden.

            Um Mitternacht kamen wir in einem Baschkirendorf an und kehrten beim Dorfältesten ein, de uns am anderen Tage weiter fahren sollte. Stumm empfing er uns und wies uns eine Pritsche als Lagerplatz an, auf welcher Felle und Pelze lagen, auf denen wir bis zum nächsten Morgen schliefen.

            Unser Wirt, ein großer Mann mit weißem Bart, lud uns in sein Gemach ein und bewirtete uns mit Brot, Tee, Butter und Stutenmilch. Dies war auf einer Decke auf dem Fußboden serviert. Der Baschkir und ich setzten uns mit untergeschlagenen Beinen dazu, was aber dem Polizisten nicht gelang, was unserem Wirt ein geringschätzendes Lächeln entlockte. Seine Sympathien schienen nicht auf seiner Seite zu sein, denn während er mich immer wieder zum Zugreifen aufforderte, beachtete er jenen gar nicht. Meiner Kleidung und meinem Benehmen nach hielt er mich wohl für einen Glaubensgenossen. Dies merkte auch der Polizist und er erklärte unserem Wirt, daß ich ein entsprungener Gegfangener, ein Germanze sei. Dieser war wohl darüber erstaunt, änderte aber nichts in seinem Benehmen mir gegenüber.

            Das Gemach, in welchem wir saßen, war mit Teppichen belegt und in einer Ecke lag ein besonderer, auf welchem die Gebete verrichtet wurden. An der Wand hing ein Teppich mit einem eingewebten Bilde der Moschee in Mekka und verschiedene, mit der Laubsäge ausgeschnittene Sprüche aus dem Koran.

            Der Baschkir interessierte sich sehr für den Krieg, besonders für die türkische Front und machte aus seiner Zuneigung für die Türken keinen Hehl, was den Polizisten veranlaßte, aufzuspringen und den Wagen für die Weiterfahrt zu fordern. Um mich nicht der gleichen groben Verletzung der Gastfreundschaft schuldig zu machen blieb ich sitzen, bis auch unser Wirt aufstand um einen Wagen zu besorgen. Die Wut des Polizisten wurde groß, als sich der Baschkir von mir auf die zwischen Mohamedanern übliche Art, dem eigentümlichen Händedruck und den mit besonderer Geste gesprochenen Gruß „Allah akbar“ verabschiedete, diesem aber nur ein Kopfnicken gönnte.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #36
              Wenn Schimpfen weh täte, wäre die nachfolgende Fahrt ein Leidensweg für mich geworden, aber es tat nicht weh.

              Als später die Revolution ausbrach und die gewöhnlichen niederen Polizisten jener Gegend meist erschlagen wurden, machte mir ein Gedanke, auch dieser könnte unter den Ermordeten sein, keinen großen Kummer.

              Nach einer Fahrt von zwei Stunden, während welcher ich die kleinen, elend aussehenden Pferdchen bewunderte, die die ganze Strecke im Galopp zurücklegten, waren wir am Ziel unserer Reise, in der Stadt Werchne-Uralsk angelangt.

              Auf der weiten Steppe vor der Stadt weideten zahlreiche Pferde und an ihren Hirten erkannte ich, daß es Kosakenpferde waren. Es war regnerisches Wetter und die kleinen Holzhäuser schienen in eine, Sumpf zu stehen. Die Bezeichnung Stadt war für diese elende Barackensiedlung eigentlich nur Hohn und doch ist Werchne-Uralsk sogar eine Kreisstadt.

              Als wir in den Hof des Polizeieigebäudes einfuhren, schien eben ein Trupp Zivilgefangener dort eingetroffen zu sein, eben wurden ihre Namen aufgerufen. Als mein Begleiter dem Polizeimeister die Papiere übergab und dieser sie durchgesehen hatte, sagte er, das passe gerade gut, da könne ich morgen gleich mit den anderen weiterreisen. Dann schickte er mich wieder hinaus in den Hof zu den anderen Gefangenen.

              Diese schienen von dem ihnen zugeteilten, zerlumpten, struppigen Tartaren wenig erbaut zu sein, denn sie rückten merklich von mir ab. Als ich ihnen aber erklärte, warum ich so aussehe und wer ich sei, schlug ihr Benehmen in das Gegenteil um und jeder wollte etwas von meinen Erlebnissen wissen.

              Unsere Unterhaltung wurde von einem Polizisten unterbrochen, der uns aus dem Hof hinaus in einen nahen Schafstall brachte, der unser Nachtquartier sein sollte. Meine neuen Gefährten erzählten, sie seien bisher in Samara untergebracht gewesen, sie aber jetzt auf dem Wege in ein ihnen zugewiesenes Dorf seien.

              Man kann sich meine Verwunderung vorstellen, daß ich, der ich eine lange Gefängnisstrafe erwartet hatte, so ganz ohne Strafe davonkommen und wieder, wenn auch in beschränkter Freiheit leben durfte. Da wir Zivilgefangenen uns selbst unterhalten mußten, wenn wir nicht gerade im Gefängnis waren, machte mir meine Mittellosigkeit große Sorge. Wovon sollte ich nun leben? Wann würde ich wieder Verbindung zu mir Bekannten erreichen, die mir helfen konnten?

              Während meine Gefährten ihre Vorräte auskramten und mehr oder weniger ihren Hunger stillten, mußte ich ihnen mit knurrendem Magern zusehen. Als ein gut gekleideter Herr meine Verlegenheit bemerkte, bot er mir von seinen reichen Vorräten an so daß ich ein Abendbrot hatte wie seit vielen Monaten nicht. Wie ich später erfuhr, war dieser Herr der Generalvertreter der I.G Farben für ganz Russland, der infolge seiner guten Verbindungen mit Regierungsangestellten auch jetzt über bedeutende Mittel verfügte.

              Diesem Mann verdanke ich, daß ich auch später vom Hungertode bewahrt blieb, ja sogar viel besser leben konnte als die meisten meiner Genossen. Das nächste was er tat war, daß er mir ein Hemd und eine Hose gab. Nun fehlten mir nur noch Weste und Rock und da die Gefahr einer Verlausung durch mich drohte, opferten auch andere die noch fehlenden Sachen. Froh packte ich meine verlausten Sachen zusammen und warf sie auf den Düngerhaufen. Nachdem ich meinen nackten Adam sorgfältig abgestreift hatte, kroch ich froh in meine neuen Kleider. Sehr elegant sah ich nicht aus, eher wie eine Vogelscheuche, aber was tat das schon, war ich doch jetzt meine vielbeinigen Peiniger los.

              Von dem dortigen Polizeimeister sprach man mit großer Erbitterung. Einige der Anwesenden hatten in Samara mit ihren Frauen gewohnt. Hier in Werchne-Uralsk wurden sie getrennt und in verschiedene Orte geschickt. Ebenso wurden auch Geschwister getrennt. Ein lungenkranker Mann hatte den Polizeimeister gebeten, er möge ihn in der Stadt wohnen lassen, damit er nicht ohne ärztliche Hilfe sei. Zu diesem aber hatte er gesagt, daß ohne er auch ebenso gut auf dem Dorfe sterben könne. Dort starb er auch.

              Am nächsten Tage wurde uns eröffnet, daß wir unverzüglich die Reise nach dem 130 Werst entfernten Dorfe Kaga antreten müßten. Wie wir nach dort gelangen sollten, war unsere Sache. Und wieder half mir Vorländer, der Mann, der meine Neueinkleidung veranlaßt hatte. Er bot mir einen Platz in dem von ihm gemieteten Wagen an, in welchem wir die Stadt bald hinter uns ließen.

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              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #37
                In einem Baschkirendorfe blieben wir zur Nacht. Wir ahnten damals nicht, daß wir später in diesem Dorfe würden leben müssen. Am nächsten Morgen fuhren wir sehr zeitig ab da wir Kaga noch an diesem Tage erreichen wollten. Es war gegen 7 Uhr abends, als wir am Bestimmungsort eintrafen. Auf der Straße standen viele der hier wohnenden Gefangenen, da sich unsere Ankunft bereits herumgesprochen hatte.

                Unter den uns Erwartenden sah ich – ich traute meinen Augen nicht, Poley und Haage. Die Freude und das Hallo waren natürlich groß und ich nahm ihren Vorschlag, wieder mit ihnen zusammen zu wohnen, sofort freudig an. Wir hatten uns sehr viel zu erzählen, denn auch Poley hatte Verschiedenes erlebt. Sehr schlecht war er auf den Polizeimeister zu sprechen, denn dieser hatte ihm übel mitgespielt. Er trug immer eine Förstermütze, auf die er sehr stolz war. Da es eine Uniformmütze war, nahm er sie beim Gruß nie ab. Der Polizeimeister hatte sie ihm vom Kopfe geschlagen mit der Bemerkung, daß er als Gefangener diese Mütze nicht tragen dürfe. Das hatte ihn furchtbar gekränkt und die Folge war ein heftiger Wortwechsel den der Polizeimeister dadurch beendete, daß er einige Polizisten herbeirief, die den armen Poley furchtbar verbläuten. Das erzählte mir Poley nicht selbst, sondern Haage.

                Das Dorf Kaga lag in einem Kessel, von allen Seiten von hohen, kahlen Bergen eingeschlossen. Am Eingang des Dorfes stand eine Tafel mit der Aufschrift: „Dorf Kaga, 6764 Einwohner. Entfernung bis zur nächsten Bahnstation 233 Werst. Größe 642 Lofst“. Diese Angaben waren aber nicht mehr richtig. Seit die am Ort gewesene große Fabrik abgebrannt war, waren nur noch wenige bewohnbare Häuser vorhanden und die Einwohnerzahl war auf etwa 500 zusammengeschmolzen.

                Am Tage nach meiner Ankunft meldete ich mich vorschriftsmäßig beim beim Isprawnik (Polizeiverwalter) an, der mir genaue Verhaltensmaßregeln einschärfte. Verboten war: die Wohnung abends nach 6 Uhr zu verlassen, auf der Straße deutsch zu sprechen, mit weiblichen Personen zu gehen, Musik zu machen, uns zu versammeln und auf die Berge zu steigen. Jeden Morgen um 9 Uhr mußten wir im Gemeindehause erscheinen und unseren Namen in eine Liste eintragen. Außerdem wurden wir noch jeden Tag vom Pristaf (Landjäger) kontrolliert.

                Als erstes versuchte ich die durch meine Flucht abgerissenen Verbindungen wieder anzuknüpfen, mußte ich mir doch von irgend einer Seite Geld beschaffen Ich schrieb auch nach Orenburg und bat, mir meine dort deponierten Sachen nachzuschicken.

                Während der drei Monate, die ich in Kaga verbrachte, ist es mir herzlich schlecht ergangen. Ich habe so manchen Tag nur von Tee gelebt oder dem, was mir geschenkt wurde. Alle meine Briefe blieben unbeantwortet. In meiner Not schrieb ich an einen Verwandten meiner verstorbenen Frau in Kasan und das war meine Rettung. Dieser unterstützte mich, so daß ich vor einem schnellen Verhungern bewahrt blieb.

                Ich war nicht der einzige, der ohne Geldmittel war. Es gab einige, die ohne Verwandte oder Bekannte in Russland waren, die nur vorübergehend dort beschäftigt waren oder zu Besuch dort geweilt hatten. Diese waren nur auf die beschränkte Hilfe der Gefährten angewiesen. Einer jedoch hatte dieses Bettelleben satt, er ging hin und erhängte sich.

                Wir wollten den Bauern bei der Arbeit helfen um etwas zu verdienen und diese forderten uns auch dazu auf, da aber die Felder außerhalb des Dorfes lagen, wurde es nicht erlaubt.

                Ich weiß nicht wie es kam, es hatte sich im Dorfe das Gerücht verbreitet, ich sei ein Tierarzt. Eines Tages erschien ein Bauer mit einem kranken Pferd und bat mich, es zu kurieren. Infolge meines Berufes war Tierheilkunde nichts Fremdes. Das Pferd hatte Kolik. Ich machte ihm einen Prießnitz-Umschlag, andere Mittel standen mir nicht zur Verfügung. Das Pferd wurde gesund und damit war mein Ruf als Tierarzt begründet. Dieses Amt habe ich darauf länger als zwei Jahre lang mit mehr oder weniger Erfolg ausgeübt. Das Honorar für meine erste Kur waren ein Brot und ein Krug Milch, also Lebensmittel für zwei Tage.

                Oft war es schwer, den Leuten ohne Instrumente und Medikamente zu helfen. Die nächste Apotheke war 25 Werst entfernt und die Bauern schwer zu bewegen, eines kranken Tieres wegen diesen weiten Weg zurückzulegen. Viele gingen deshalb zu meiner Konkurrentin, einer alten Frau, welche ohne Medizin, nur durch Gebete und Handauflegen Mensch und Vieh heilte. Ob sie damit Erfolg hatte, weiß ich nicht, es ist aber immerhin möglich, hatte doch Streich mich in der bisherigen ablehnenden Haltung diesen Dingen gegenüber irre gemacht. Hatte sie einmal Erfolg, so erzählte sie überall, sie verstehe ihre Kunst viel besser als der deutsche Feldscher und brauche dazu keine Gifte aus der Apotheke. Gegen diese unbequeme Konkurrenz mußte ich etwas unternehmen. Da half mir ein Zufall.

                Eines Tages brachte mir ein Bauer ein lahmendes Pferd. Bei der Untersuchung fand ich, daß sich ein Steinchen zwischen Tragerand und Hufeisen geklemmt hatte. Ich bat nun den Bauern, meine Konkurrentin aufzusuchen, die ja behauptet, mehr zu können als ich. Sollte ihr Mittel aber nicht anschlagen, dann sollte er wieder zu mir kommen, ich würde ihm bestimmt helfen. Ich wußte, daß in diesem Fall ihre Kunst versagen würde. Dem Bauern sagte ich, sollte wider Erwarten keine Besserung eintreten, dann möge er mich morgen um dieselbe Zeit mit dem Pferde wieder aufsuchen. Ich ging darauf zu einigen meiner Genossern und forderte sei auf, am nächsten Tag zu der mit dem Bauern vereinbarte Zeit zu mir zu kommen und möglichst viele der einheimischen Dorfbewohner mitzubringen, da etwas Interessantes zu sehen sein würde.

                Am andern Tag zur festgesetzten Zeit, als bereits eine Menge Menschen sich vor dem Hause eingefunden hatten, kam auch das Bäuerlein mit seinem nun noch mehr hinkenden Pferde angezogen. Ich beauftragte ihn, die Gesundbeterin herzuholen. Während er im Hause verschwand,, hob ich das Bein des Pferdes und ohne daß es einer bemerkte, hatte ich das eingeklemmter Steinchen entfernt. Als gleich darauf der Bauer mit dem ob der vielen Menschen mißtrauischen Weibe erschien, sagte ich zu der Versammlung etwa folgendes:

                „Wir haben hier im Dorfe eine Frau, welche angibt, Krankheiten durch Gebete heilen zu können. Auch behauptet sie, mehr zu können als ich, daß ich nur mit Giften arbeite. Hier unser Freund Jefim Gabrielowitsch hat ihr nun gestern dieses Pferd vorgeführt, das sie nach ihrer Methode behandelt hat. Den Erfolg sehen Sie: das Pferd lahmt heute noch mehr als gestern. Ich will nun beweisen, daß ich keiner Gifte bedarf und daß sie gegen die Kunst eines deutschen Arztes eine arme Pfuscherin ist. Ich will ihr und Ihnen allen beweisen, daß es nur meines Willens bedarf, um dieses Pferd gesund zu machen und ich behaupte, daß dieses Pferd seine Lahmheit verloren haben wird, ehe es seinen Stall erreicht hat.“ Das Weib lachte höhnisch und selbst meine Genossen machten ungläubige Gesichter. Als ich aber den Bauern aufforderte, nach Haus zu ziehen, denn sein Pferd sei geheilt und dieses nach anfänglichem Hinken immer freier ging und nach etwa hundert Schritten überhaupt nicht mehr hinkte, war es mir ein wirkliches Vergnügen, die erstaunten Gesichter zu sehen. Während meine Genossen mich verblüfft ansahen, schlugen einige Russen ein Kreuz und meine geschlagene Konkurrentin rief, das hätte ich nur mit Hilfe des Teufels gekonnt. Meinen Trick habe ich nicht verraten, auch meinen Genossen nicht. Sie haben sich lange den Kopf über meinen Kniff zerbrochen und bei den Russen galt ich von da an als Wunderarzt. Die Gesundbeterin war ihre Kundschaft aus dem Tierreich los.

                Im Rufe eines Wunderheilers zu stehen hatte aber auch seine Schattenseiten. Wen mir eine Kur nicht gelang, so mußte ich manchmal zu den wunderlichsten Ausreden greifen um dies glaubhaft zu begründen.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #38
                  Diese Begebenheit trug dazu bei, daß die Russen glaubten, uns wäre nichts unmöglich. In all ihren Nöten kamen sie zu uns und forderten unsere Hilfe, die sie auch fast immer fanden. Ein Mechaniker reparierte alle unbrauchbar gewordenen Uhren, Nähmaschinen und Ackergeräte, ein Apotheker spielte den Arzt und war bald gesuchter als der einheimische Feldscher, der auch nicht viel von Heilkunde verstand. Als sich einer von uns Leinwand für Hemden kaufte, entstand das Gerücht, er wolle sich ein Luftschiff bauen um mit diesem zu entfliehen. Von der Beschränktheit der Leute zeugt ein anderes Gerücht das besagte, Kaiser Wilhelm lasse die fettesten Russen schlachten und füttere damit die andern.

                  Infolge dieser und anderer Gerüchte entstand zeitweilig eine feindliche Stimmung gegen uns die sich dadurch äußerte, daß man uns die Fensterescheiben einschlug. Von Seiten des Pristav ging uns die Warnung zu, daß uns einige junge Männer überfallen wollen. Wir gingen nur mit Knüppeln bewaffnet aus, ohne dass man sich aber an uns heranwagte. Nur Kapitän Steven wurde einmal angerempelt, da er die Hilfe eines Knüppels

                  Der Pristaf tat, was er nur konnte, um uns vor Überfällen zu schützen, er stellte selbst nachts Wächter auf, um die Fenstereinwerfer zu fassen. Daß er so um uns besorgt war, hatte auch seinen Grund. Vorländer leistete zu seinem kärglichen Gehalt einen nicht unbedeutenden Zuschuß und diese Einnahmequelle wollte er sich erhalten. Bei Ausbruch der Revolution, als wir schon in einem Baschkirendorfe wohnten, erschien er plötzlich bei uns in Zivil und bat uns um Hilfe. Helfen konnten wir ihm nicht, aber Vorländer schenkte ihm einen Geldbetrag, mit dem er seine Fliucht fortsetzte.

                  Am unangenehmsten war es immer zur Zeit der Einberufungen. Schon eine Woche vorher gingen und fuhren die Einberufenen singend und Harmonika spielend durchs Dorf. Meist waren sie dabei angeheitert und mit ihrem künstlich erzeugten Mute schrien sie, bevor sie gingen müßten noch einige Deutsche erschlagen werden.

                  Meine Wirtin hatte drei verheiratete Töchter,.zwei deren Männer waren im Krieg gefallen, der dritte gefangen, und die drei Frauen mit ihren Kindern befanden sich wieder im Elternhause.
                  Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #39
                    Am Tage der Abreise der neuen Soldaten gab es oft ergreifende Szenen. Da war es meist mit dem letzten Rest von Mut vorbei. Der Jammer der Mütter und Frauen erfüllte dann das Dorf und die Väter blickten finster drein. Mußten sie doch die bisher vom Gesetz geschützten ältesten, oft einzigen Söhne hergeben. Bei vielen der Väter machte sich Erbitterung bemerkbar. „Wo sind jetzt die Retter Russlands, die Kosaken und was tun sie?“ fragten sie. „Wir hören von ihnen weiter nichts als dasß sie während der Kämpfe hinter unseren Söhnen stehen um die Zurückweichenden mit der Lanze wieder nach vorn zu treiben. Und dafür erhalten sie Land, sind steuerfrei, ihre Kinder werden auf Schulen geschickt und genießen noch sonstige Vergünstigungen!“

                    Die Bauern hatten recht. Merkwürdig still war es um die angeblichen Wundertaten der Kosaken geworden. Hatten sie doch nach Zeitungsnachrichten zu Anfang des Krieges Unglaubliches geleistet. So hatte z.B. der Kosak Grütschkoff ganz allein 13 deutsche Ulanen teils erstochen, teils erschossen. Eine Abteilung von 20 Kosaken hatte eine ganze Kompanie gefangen genommen und eine solche von 100 Mann ein ganzes Regiment. Grütschkoff wurde in ganz Russland als Held gefeiert. Er wurde dem Zaren vorgestellt und erhielt alle drei Georgskreuze und wurde zum Offizier befördert. In allen Kinos wurde sein Bild gezeigt und eine Zigarettenmarke wurde nach ihm benannt. Sein Ruhm war so groß, daß er nicht einmal erlosch als er selbst schon am Galgen hing.

                    Und warum kam er an den Galgen? Weil sich herausgestellt hatte, daß er die Ulanen nicht allein sondern mit sechs seiner Kameraden überwältigt hatte. Er wollte aber den Ruhm für sich allein haben und darum erschoß er sie. Leider waren zwei von ihnen nicht ganz tot. Sie wurden gefunden und geheilt. Der eine blieb ein Krüppel, der andere wurde an die türkische Front geschickt. Als diesen eine türkische Kugel tödlich verwundete, bekannte er das Verbrechen Grütschkoffs. Man glaubte ihm nicht, aber das Verhör des Krüppels bestätigte seine Angaben. Und so mußte der gefeierte Held baumeln.

                    Wie schon gesagt, der Ruhm der Kosaken war erloschen. Nur ab und zu hörte man noch von ihnen, aber nur, daß diejenigen, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, dort äußerst grausam behandelt würden. Selbst in den harmlosen Gemütern der Bauern dämmerte es, daß über Russland ein großes Unglück hereingebrochen war. Die Millionenheere schwanden dahin und die starken Festungen fielen wie Lehmbauten. Immer weiter nach Osten wälzte sich die Flut des Feindes und die Namen „Hindenburg“ und „Mackensen“ wurden mir mit Schrecken genannt.

                    Von der Kanzel in Kaga herab sprach der Pope von „Mackensen, der Geisel Gottes“ und mahnte zu Gebet und Buße. Besondere Bettage wurden eingerichtet um für den Sieg der russischen Truppen zu bitten. Ein wundertätiges Muttergottesbild aus Petersburg wurde von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf getragen und kam auch nach Kaga. Eines Nachts wurde ich durch Psalmengesang aus dem Schlafe geweckt. Da ich mir die Ursache nicht erklären konnte, fuhr ich in die Hosen und sah aus dem Fenster. Mitten im Hof stand ein Tisch und auf diesem ein Muttergottesbild, ein Teller mit Brot und eine Tasse mit Salz. In dem Salz steckte eine brennende Kerze. Vor dem Tisch stand ein Pope in vollem Ornat, der mit lauter Stimme sang. Um ihn herum standen Männer mit Fackeln. Der Hof war voller knieender Frauen, welche beteten undweinten. Ehe ich noch recht begriffen hatte, was dies bedeuten solle, ergriffen zwei Männer das Bild und der ganze Spuk wälzte sich zum Hof hinaus.
                    Ich fragte meine Wirtin, ob jemand gestorben sei, sie aber sagte mir, das sei das wundertätige Bild aus Petersburg, das ohne Pause, weder tags noch nachts von Ort zu Ort und von Haus zu Haus getragen werde.

                    Sie erzählte mir wunderliche Geschichten von dem Bilde, z.B. lasse es sich in das Haus eines Gottlosen nicht hineintragen, es würde vor der Tür so schwer, daß es niemand weiter tragen könne. Ebenso würde nicht jeder zum Kuß zugelassen sondern einem Unwürdigen sei es nicht möglich, sich dem Bilde zu nähern. Einmal, als das Bild in einer fremden Kirche stand, machte es sich auf und ging allein nach Petersburg. Der Weg führte durch einen Wald und dort traf es auf einen Baschkiren, der es mit einem Beil in Stücke schlug. Trotzdem aber kam es heil in Petersburg an. Der Baschkir aber erblindete.

                    Der Pope des Dorfes war ein leuchtendes Vorbild seiner Gemeinde. Sobald er betrunken war, und das war er sehr oft, verprügelte er seine Frau. Im Dorfe hatte er eine Freundin, in deren Bett er versuchte, seinen ehelichen Kummer zu vergessen. Um sich von seiner Frau trennen zu können, betrieb er seine Entlassung aus dem Priesterstande.

                    Von der Kanzel herab erzählte dieser würdige Diener Gottes die schändlichsten Dinge, welche die Deutschen begangen haben sollten. Oft kamen Bauern zu uns und fragten, ob das denn wirklich wahr sei was der Pope sage und ob es wohl die Soldaten an der Front wirklich so gut hätten wie er manchmal sage, was sie denn eigentlich glauben sollen, da er sich doch gerade darin so oft widerspreche.

                    Eine praktische Einrichtung zur Verdeckung der an der Front herrschenden Zustände waren die Soldatenbriefe, welche den Mannschaften dort ausgehändigt wurden um in die Heimat geschickt zu werden. Diese zeigten auf der ersten Seite ein schönes Bild das zeigte, wie die Kosaken unter den Österreichern aufräumten. Die zweite und dritte Seite war bereits vorgedruckt und nur die letzte frei. Diese war nötig, um die vielen Grüße an Verwandte und Bekannte unterzubringen, so daß für andere Mitteilungen kein Platz mehr vorhanden war. Ich habe mir einen solchen Brief besorgt und ihn beigeheftet.
                    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #40
                      Seine deutsche Übersetzung lautet:

                      „Geliebter teurer Engel! Auf den Flügeln der Liebe sende ich Dir diesen Brief. Möge er Dir erzählen, daß ich durch die Barmherzigkeit Gottes lebendig und gesund bin, was ich auch von Dir von ganzer Seele wünsche. Ich benachrichtige Dich, daß mein Dienst sehr gut ist und ich mit allem zufrieden bin und in meiner Seele ist nur ein Gedanke: Dieser Gedanke Tag und Nacht erinnert mich an Dich, an Deine wundervollen, klaren Äuglein immer und überall.
                      Deine liebliche Erscheinung steht beständig vor mir und ich durste nach einem Wiedersehen mit dir. Ich rapportiere dir meine Liebe und bitte um Einsicht darein, was ich Dir schreibe und zwar, daß die Sehnsucht nach Dir eine sehr große ist.
                      Stets denke ich an Dich meine Sonne, an die goldnen Tage als wir uns trafen, dann glänzten Deine Äuglein wie die Sterne in finsterer Nacht. Zweifle nicht an meiner Treue und bitte vergiß mich nicht, sondern liebe mich wie ich Dich liebe. Wenn ich Flügel hätte so käme ich zu Dir um, wenn auch nur für einen Augenblick Dein verklärtes Gesicht zu sehen.
                      Erfreue mich mein Engel mit einer Nachricht und schreibe mir wie du lebst und ob Du auch an mich denkst. Wenn ich Deinen lieben Brief lese so ist es mir als ob du bei mir wärst und kann dann leichter die Trennung ertragen.
                      Glaube mir, du Teure, daß der Tag des Wiedersehens sehr nahe ist und daß unsere Wünsche in Erfüllung gehen werden. Kehre ich zurück in die Heimat, so werden wir mit Gesang und Klang zusammen leben, den Eltern zu r Freude und für uns in größter Liebe.
                      Denke stets Du, meine Teure daran, daß das Bächlein zwei Bäume trennt, aber ihre Wurzeln flechten sich ineinander. Das Schicksal trennt auch zwei Freunde, doch ihre Herzen sind nie getrennt.
                      Nun bis auf Wiedersehn. Ich sende Dir tausend Küsse und bitte Dich, mit der Antwort nicht zu zögern. Noch bitte ich Dich meinen untertänigsten Gruß allen Verwandten und Freunden und Kameraden zu übermitteln.
                      In Erwartung Deiner Antwort verbleibe ich Dein Dich ewig liebender und treuer …“

                      Soweit der gedruckte Teil des Briefes, ein dem geistigen Niveau des einfachen Soldaten angepaßtes albernes Phrasengemisch. Darauf folgte die Unterschrift „Michael Martinowitsch“ und der von ihm geschriebene Nachsatz:

                      „Ich schreibe Dir einen Brief teure Axenia Jegorowna und in den ersten Zeilen will ich Dir mitteilen, daß man uns auf die Positionen geschickt hat und daß wir uns auf der Position befinden. Ich bin gesund am leben 1915tes Jahr 27. April.
                      Unsere Abteilung befindet sich gegenwärtig auf Erholung auf eine Woche oder drei Tage. Auch schreibe ich Dir Axenia und habe Euch zwei Postkarten abgeschickt. Habt Ihr dieselben erhalten oder nicht?
                      Guten Tag meine teuren Verwandten, teure Alexenia und teure Schura, sende Euch Teuren meinen untertänigsten Gruß und wünsche Euch alles Gute von Gott dem Herrn, ade auch Michael Datlow.“

                      So der ganze Brief.

                      Er wurde am 27. April 1915 geschrieben. Es war wohl das letzte Schreiben. Michael Martinowitschs und die Erholung war wohl sehr kurz. Vier Tage später fiel er bei Warschau. Als seine Frau diesen Brief erhielt, ruhte er längst in der Erde.

                      Nicht alle Briefe lauteten wie dieser. Es gab besondere für Frauen, Bräute und Eltern. Die ist einer für Bräute, doch ist er auch für Ehefrauen brauchbar. Einmal sah ich einen alten Vater der Tränen über die Zärtlichkeiten seines Sohnes vergoß, als man ihm dessen Brief vorlas. Er konnte ja nicht lesen und wußte nicht, daß alles vorgedruckt war und auch der Sohn konnte nicht lesen und hatte deshalb auch nicht bemerkt, daß er einen Brief erwischt hatte, der für Eheleute bestimmt war.

                      Kurios aber wurde ein solches Versehen, wenn eine Braut einen für Eltern bestimmten Brief erhielt aus dem sie mit Staunen erfuhr, daß sie einen Sohn an der Front habe. Ein solcher Brief richtete stets große Verwirrung an und es kostete dann viel Mühe, diese rätselhaften Geschichten zu klären. Mit großer Freude wurden immer die Nachrichten begrüßt, die besagten, daß der Sohn in Gefangenschaft geraten sei. Nun war er doch wenigstens vor dem Tode sicher.

                      Die Karten der in Gefangenschaft Geratenen mußten wir meist vorlesen und beantworten, wenigstens aber die Adressen schreiben und immer wieder wurden wir gefragt, ob die Deutschen wirklich so grausam seien wie die Zeitungen immer berichten. Sie wollten es nicht recht glauben, da sie in uns doch ganz manierliche und hilfsbereite Menschen kennen gelernt hatten. Wir konnten ihnen so manche üble Hetz- und Greuelnachrichten ausreden.

                      Eines Tages kam ein altes Bäuerlein zu mir mit der Bitte, ihm eine Paketadresse zu schreiben. Er wollte seinem im Gefangenenlager Altengrabow lebenden Sohne ein Pfund Butter schicken. Ich redete es ihm mit dem Hinweis aus, daß die Butter auf der langen Reise sicher verderben würde, wenn sie überhaupt dort eintreffe , daß sein Sohn auch ohne die Butter auskomme werde wie ja auch ich schon seit Monaten ohne Butter auskäme.

                      Dem Bäuerlein leuchtete dies auch ein und er schenkte mir die Butter mit den Worten: „Ich hoffe, dass Gott das, was ich an dir tue, meinem Sohn in Deutschland vergelten wird.“ So kam ich ganz unverhofft zu einem Pfund der so lange entbehrten Butter.

                      Am selben Tage erhielt ich von einer Nachbarin etwa 1o Pfund Fleisch. Das verdankte ich einem Bären, der eine Kuh derselben im Walde gerissen hatte aber für sie und mich noch etwas übrig gelassen hatte. Dank dem Bauern und dem Bären habe ich eine Woche im Überfluß gelebt und konnte davon noch einem andern Hungerleider etwas abgeben. Solche für mich glücklichen Zufälle kamen leider recht selten vor.

                      Ich habe mich immer gewundert, daß dem Vieh in Steppe und Wald nicht öfter etwas paßierte. Die Pferde, Kühe, und Schafe wurden morgens aus dem Hofe hinausgelassen und niemand kümmerte sich tagsüber um sie. Oft kamen sie abends gar nicht zurück und blieben tagelang verschwunden. Die Kuh einer Nachbarin kam erst nach drei Wochen völlig abgemagert zurück. Der Grund des langen Ausbleibens war Verirren oder Versprengen durch Bären und Wölfe.

                      Wenn ein Pferd gebraucht wurde, so mußte es immer erst stundenlang gesucht werden. Fand man es nicht, so wurde eben die beabsichtigte Arbeit verschoben. „Morgen wird es schon von selbst kommen.“ Sagten die Bauern und damit war der Fall vorläufig erledigt.
                      Zuletzt geändert von Helen; 09.05.2010, 09:48.

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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #41
                        Im September 1915 drang wieder einmal das Gerücht zu uns, daß wir weiter verschickt werden sollten. Die polnischen „Flüchtlinge“ sollten kommen und auch in Kaga sollten ihrer aufgenommen werden. Eine Bekanntmachung des Gouverneurs empfahl „die vor dem grausamen Feinde“ flüchtenden Polen der Fürsorge des russischen Volkes Das Volk wußte ja nicht, daß die Polen nicht vor den Deutschen geflohen waren sondern von den Russen vertrieben worden waren. Die Woge dieser Vertriebenen näherte sich nun der Grenze Asiens, Elend und Seuchen im Gefolge.
                        Der Gouverneur von Orenburg, der Verfasser des Aufrufs, dem wir so manche bittere Stunden verdankten, hat von seiner Regierung keinen Dank geerntet. Mit seinem Bruder, dem Kriegsminister Suchomlinow fiel er gleichzeitig und das weite Sibirien wurde ihr Lohn.

                        Am 8. Oktober mußte ich mir ein anderes Quartier suchen, weil ich mich mit meiner Wirtin gezankt hatte und diese mir kurzerhand den Stuhl vor die Tür setzte. Ich schnürte also mein bescheidenes Bündel und ging auf Wohnungssuche. Ich fand Unterkunft bei einem Bauern, mußte mich aber verpflichten, sein Vieh umsonst zu behandeln.

                        Zwei Tage wohnte ich dort, da erhielten wir plötzlich den Befahl, Kaga innerhalb drei Tagen zu verlassen und uns in dem 50 Werst entfernten Baschkirendorfe „Sermenewa“ eine Unterkunft zu besorgen.

                        Am 12 Oktober machte ich mich mit einigen Genossen, denen das Geld für einen Wagen ebenfalls fehlte, auf den Weg. Unsere Bündel gaben wir denen mit, die sich einen Wagen gemietet hatten. Wir übernachteten in der freien Steppe, wo mich ganz erbärmlich fror und kamen am anderen Tage in Sermenewa an. In dem selben Hause, in dem ich bei der Hinreise nach Kaga übernachtet hatte, fand ich für diese Nacht ein Unterkommen.

                        Das Quartiersuchen erwies sich am anderen Tage als viel schwieriger als wir angenommen hatten. Wenn wir gehofft hatten, daß die Einwohner als Mohammedaner uns freudig und billig aufnehmen würden, so hatten wir uns getäuscht.

                        Die besten Wohnungen besaßen die wenigen am Ort lebenden Russen, Nachkommen von nach hier verbannten kriminellen oder politischen Sträflingen. Diese guten Wohnungen waren aber von den besser gestellten Genossen, die einen Tag vor uns hier eingetroffen waren, bereits weggemietet worden. Wohnungen, für welche die ortsübliche Miete 3 Rbl. betrug, wurden von den Baschkiren nicht unter 10 Rbl. abgegeben. Der Starrost (Gemeindevorsteher) ging von Haus zu Haus und setzte die Miete fest. Ich war so glücklich, bei einer Russenwitwe für den noch annehmbaren Mietpreis von 5 Rbl. unterzukommen. Die meisten mußten sich mit Baschkirenwohnungen begnügen und was das heißt, kann nur der beurteilen, der in ihnen gewohnt hat.

                        Da ich in Sermenewa über zwei Jahre, bis November 1917 lebte und ich in folgendem auf die verschiedenen Schicksalsgenossen zu sprechen komme, will ich diese nun einzeln vorstellen:
                        Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #42
                          Habe ich meine Genossen vorgestellt, so will ich nun versuchen, unseren Aufenthaltsort zu schildern.

                          Sermenewa liegt wie Kaga inmitten des Uralgebirges auf asiatischem Gebiet. Die Berge treten aber nicht so nahe an das Dorf heran wie in Kaga. Der Ort ist von Hügeln umgeben, in einer Entfernung von 500 m fließt die fischreiche „Bjelaja“ vorbei. Durch den Ort selbst fließt der „Jandick“, ein kleines Flüßchen, das im Sommer meist austrocknet.

                          Der Ort hat etwa 1000 Einwohner, 20 Russen, 2 Tartaren und der Rest sind Baschkiren. Tartaren und Baschkiren bekennen sich zum Islam. Die Obrigkeit stellen die Baschkiren, einen Starschena (Amtsvorsteher), einen Starost (Gemeindevorsteher), mehrere Desjatskis (Amtsdiener) und einen Semski-Natschalnik. Dieser ist ein Russe und der höchste Beamte des Kreises. Außer diesen waren noch dort ein russischer Urjadnik (Gendarm) und ein Strasnik (Landjäger). Dem Urjadnik war die Sorge um uns, d.h. unsere Überwachung anvertraut.

                          Auf der „Wollost“, dem Gemeindehause, waren drei russische Schreiber beschäftigt. Dort hatten der Semski-Natschalnik und der Starschena ihre Amtszimmer. Auch tagte dort das „Wolostne Sud“, das Gemeindegericht. Dies setzte sich zusammen aus einem Baschkiren als Vorsitzendem, zwei Baschkiren als Beisitzer und einem russ. Schreiber.

                          Viele von uns, darunter auch ich, hatten Gelegenheit, sich von dem tadellosen Funktionieren dieses Gerichtes zu überzeugen, wir wurden immer ohne viele Zeremonien schnell und prompt verknackst. Die Strafen fielen immer merkwürdig milde aus, so daß es uns nicht sonderlich gestört hat, wenn wir auch manchmal unschuldig eingelocht wurden. Das Gefängnis war ein urgemütlicher Aufenthaltsort, den man schon aus Interesse besucht haben mußte. Nur die Wanzen verleideten den sonst angenehmen Ort.

                          Dieser große Beamtenapparat in dem kleinen Dorfe war nötig, da dem Starchena noch 32 andere Dörfer unterstanden. Am Ort befanden sich eine Moschee und eine Schule. Der Lehrer war ein Russe, der Mullah ein Tartar. Wie alle Baschkiren war auch der Mullah Schaf- und Pferdehalter. Er besaß allerdings nur ein Pferd, er lebte von den Naturalien, die ihm die Gläubigen für seine geistlichen Handlungen lieferten.

                          Das Volk der Baschkiren zählt etwa 10.000 Köpfe und wohnt zerstreut zwischen den Uralbergen, im Tale der Bjelaja. Es steht kulturell weit unter dem der Tartaren und Kirgisen. Es lebt von der Pferdezucht, der Jagd und der Fischerei. Im Frühjahr, am Ende des Monats Mai ziehen die Familien mit ihren Tieren nach den Weidegründen und kehren erst im Herbst in die Dörfer zurück. Sie ernähren sich während dieser Zeit fast nur von „Kumis“, das ist gegorene Stutenmilch, die eine berauschende Wirkung hat und von den Ergebnissen der Jagd und der Fischerei.

                          Kumis wurde von uns gern gekauft, es war wohlschmeckend und wurde als sehr gesundheitserhaltend gelobt. Alle Arbeit, im Sommer wie im Winter wird von den Frauen verrichtet. Die Männer gehen nur der Jagd und der Fischerei nach. Im Winter liegen sie auf ihren Fellen und erzählen sich Geschichten wobei sie „Kisluschka“ trinken, ein sehr berauschendes Getränk aus Honig, Brot und Hopfen. Sie verhalten sich also genau so, wie man es unseren Urvätern nachsagt.

                          Vor Eintritt des Winters wird in jeder Familie ein Pferd geschlachtet, das den Winterbedarf an Fleisch deckt. Schweine gibt es dort nicht, da der Genuss von Schweinefleisch dem Mohammedaner verboten ist.

                          Der Vermögensstand der Baschkiren richtet sich nach der Anzahl der ihm gehörenden Pferde. Wer viele Pferde besitzt, hat auch meist mehrere Frauen. Die ärmsten unter ihnen müssen unbeweibt bleiben. Da die Frauen gekauft werden müssen. Bei der Geburt eines Mädchens herrscht bei ihnen große Freude, denn dies kann ja einmal verkauft werden, während ein Junge später nur Geld kostet.

                          Der Durchschnittspreis für eine Frau sind 1 Pferd, 5 – 10 Schafe, 1 Hemd, das einzige, das die Frau in ihrem Leben trägt. Von vermögenden Eltern werden auch weit höhere Preise angelegt.

                          Die Verheiratung der Kinder ist ausschließlich eine Angelegenheit der Eltern. Der Vater sucht sich eine Schwiegertochter aus. Ist man sich über den Preis einig geworden, so werden die beiden jungen Leute verständigt und es wird ein Tag vereinbart, an welchem sich der Bräutigam seiner Zukünftigen vorzustellen hat.

                          Dies geschieht unter Beobachtung ganz bestimmter Vorschriften. Der junge Mann reitet zum Wohnort der für ihn Erwählten, darf aber nicht in das betreffende Gehöft reiten, sondern muß das Pferd bei einem Nachbarn einstellen. Dann schleicht er mit verhülltem Gesicht in das Haus seiner Braut und verschwindet dort in einem Zimmer hinter einem für diesen Zweck angebrachten Vorhang. Die Braut wird nun zu ihm geschickt und nun sehen sich die zukünftigen Eheleute zum ersten Male.

                          Länger als eine Stunde darf der Besuch nicht ausgedehnt werden. So wie er gekommen ist, verhüllt und heimlich wie ein Dieb hat der Freier wieder zu verschwinden.

                          Nun beginnen die Vorbereitungen zur Gründung eines neuen Hausstandes. Dazu gehört zu nächst ein Haus, mit dessen Bau unverzüglich begonnen wird. Bäume werden gefällt, auf zwei Seiten behauen und nach kurzer Frist ist ein Blockhaus fertig. Das Fällen der Bäume und die Gespannarbeiten verrichten die Väter und Brüder, alle andern Arbeit die Frauen.

                          Inzwischen kann schon die Hochzeit stattfinden. Die Trauung vollzieht der Mullah. Dass das neue Haus bereits fertiggestellt ist erübrigt sich, da die jungen Eheleute am Tage nach der Trauung wieder ins Elternhaus zurückgehen und sich im folgenden Jahre nur alle sechs Wochen einmal besuchen dürfen.

                          Als ich einmal den Mullah nach dem Zweck dieser für die jungen Eheleute doch recht unbequemen Einrichtung fragte, sagte mir dieser: „Das verstehst du doch nicht, das ist wegen der Gesundheit.“

                          Dieser Priester hatte auch für andere religiöse Gebräuche sonderbare Erklärungen. Das Gebot des täglichen fünfmaligen Gebets begründete er damit, daß der Mensch fünf Finger an der Hand hat, meine Frage nach der Vorschrift der täglichen Waschungen und des Rasierens des ganzen Körpers wies er mit der Bemerkung ab, daß dies einen Ungläubigen nichts angehe.

                          Meine Ansicht, daß Mohammed seine Anhänger, welche damals fast durchweg Nomaden waren, zur Reinlichkeit erziehen wollte und zur leichteren Bekämpfung des Ungeziefers das Rasieren gebot, wies er entrüstet als Verleumdung zurück und fast hätte ich mir dabei seine Feindschaft zugezogen.

                          Da er am Ort und darüber hinaus großen Einfluß besaß, wäre es unklug von mir gewesen ihn zu verärgern. Ich gab mir viel Mühe, ihn wieder zu versöhnen. Daß mir das gelungen ist, beweist die Tatsache, daß er sich mit mir photographieren ließ, eine Unvorsichtigkeit, die ihm noch viel Kummer machen sollte.
                          Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
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                            • 164

                            #43
                            Die Kirgisen wurden nicht zum Wehrdienst herangezogen, wohl aber die Baschkiren. Oft hatten durch die von der Front beurlaubten Soldaten Unannehmlichkeiten. Sie erzählten immer, wie viele Deutsche sie dort umgebracht hätten und prahlten, sie würden es auch hier so machen. Es blieb aber beim guten Willen. In betrunkenem Zustand nannten sie uns Brüder, weil die Deutschen an der Seite ihrer Glaubensgenossen, der Türkei kämpften. In diesem Zustand vergaßen sie ihre Furcht vor der russischen Obrigkeit und sprachen ihre geheimen Gedanken aus.

                            Selbst der stellvertretende Starschena, der uns bedrängte wo er nur konnte, ging einmal im Rausch so weit, mir zu sagen: „Ich weiß, daß du mein Bruder bist und deine Brüder an der Seite der meinen kämpfen. Wir alle bitten Allah, er möge euch den Sieg geben und diesen da (mit verächtlichem Blick auf das an der Wand hängende Bild des Zaren) vernichten. Allah sei Dank, daß ein Kaiser Wilhelm lebt. Ich aber bin russischer Beamter und man beobachtet uns scharf.“

                            Derselbe Mann ließ einmal gegen Elfert ein Protokoll aufnehmen, weil er auf der Straße Deutsch gesprochen und ihn beleidigt haben sollte. Elfert bestritt, ihn beleidigt zu haben, aber vor Gericht traten zwei Baschkiren auf, die bezeugten, die Beleidigung gehört zu haben, obwohl er mit Elfert ohne Zeugen gesprochen hatte.

                            Elfert erhielt drei Tage Arrest, die er am Ort absaß. Jeden Tag kam einer der zwei Zeugen zu ihm und verhöhnte ihn.

                            Eines Nachts 11 Uhr in einem Gehöft ein Brand aus. Wir eilten zur Brandstelle, obwohl es verboten war, die Wohnung nach 6 Uhr zu verlassen. Auch Kownatzki begab sich dorthin. Auf seinem Wege wurde er von einem Manne überholt, der ihn anschrie: „Du Hundesohn, warum läufst du nicht schneller?“ Sich umsehend und den Vize-Starchena erkennend, erhielt er von diesem einen Schlag, daß er zu Boden stürzte. Zeugen dieses Vorfalls waren Frau Sperling und deren Schwester.

                            Kownatzki hat alle Hebel in Bewegung gesetzt um eine Bestrafung seines Angreifers zu erzwingen. Es kam auch zur Verhandlung vor dem Ortsgericht, aber der Verklagte erschien nicht, die Verhandlung wurde vertagt. Nach Monaten fand eine zweite Verhandlung statt, in welcher der Beklagte nachwies, daß er z.Z. des angeblichen Vorfalls auf dem Brandplatze war. Die Zeugen Kowatzkis wurden wegen Befangenheit abgelehnt. Auf diesen Brand, der für mich beinahe üble Folgen gehabt hätte, komme ich noch zurück.

                            Unsere erste Beschäftigung in Sermenewa war die Besorgung von Möbeln. Der Baschkir kennt weder Tisch noch Stühle. Er sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden oder auf der Pritsche, die eine Seite des Zimmers einnimmt. Die neuen Mieter fanden also keine Sitzgelegenheit vor, da das Sitzen mit untergeschlagenen Beinen eine ungewohnte Angelegenheit war, die außer mir, der ich während meiner Flucht gelernt hatte, niemand beherrschte.

                            Wir machten uns Bettstellen, Tische, Bänke und Stühle aus Birkenstämmchen. Die Möbel sahen anfangs sehr schön aus, sobald aber das Holz trocknete, wurden sie wackelig und mußten umgearbeitet werden. Einige von uns erlangten in der Anfertigung dieser Sachen eine große Geschicklichkeit, es entstanden kleine Kunstwerke, die unsere Wirte nicht genug bewundern konnten. Besonders Kapitän Steven erfand immer wieder neue Formen.

                            Der Kapitän vor seiner Villa, links Material für seine Möbelfabrikation.
                            Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                            • Helen
                              Erfahrener Benutzer
                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #44
                              Die Baschkiren waren nicht dazu zu bewegen, unsere Stühle zu benutzen, sie fanden es äußerst komisch, die Beine herunterhängen zu lassen. Sie setzten sich bei gelegentlichen Besuchen stets neben den Stuhl auf den Fußboden.

                              Es dauerte gar nicht lange, so glaubten die Baschkiren, so wie schon die Russen in Kaga, daß wir alles verständen und anfertigen könnten. Bald brachten sie uns alte Wanduhren, Gewehre, Samoware, Gramophone, Nähmaschinen und anderes zur Reparatur. Wenn einer von uns etwas derartiges erhielt, so nahm er es vereinbarungsgemäß an ganz gleich, ob er davon etwas verstand oder nicht. Es wurde dann von irgendeinem von uns in Ordnung gebracht und an den Abnehmer zurückgegeben, der es als von ihm selbst repariert wieder ablieferte. So entstand der Glaube, daß jeder von uns alles könne.

                              Die meisten Reparaturen mußten Haage, Klinger, Rosenbach, Seidel und Harlow ausführen, da sie am besten dazu geeignet waren, aber auch andere entwickelten ungeahnte Talente.

                              Meine Tätigkeit war auch hier wieder die Naturheilkunde und ich wurde auch hier wieder „Doktor“ genannt. Leider brachte mir meine Praxis nicht viel ein. In den seltensten Fällen wurde ich honoriert, aber mein Metier verschaffte mir einen gewissen Einfluss, den ich bei der abergläubischen Bevölkerung für mich und meine Gefährten gewissenhaft ausnutzte.

                              Besonders ein Fall verschaffte mir einige angenehme Wochen und die durch ihn erlangten Vorteile waren mehr wert als Geld und Naturalien.

                              Ein Kutschpferd des Semski-Natschalnik hatte sich eine Sehnenzerrung zugezogen. Ich wurde geholt und gab dem Kutscher zur Behebung entsprechende Anweisungen. Er befolgte sie jedoch nicht und da ich auf meinen Ruf bedacht sein mußte, meldete ich dies seinem Herrn, der ihn kurzerhand entließ. Sofort ergriff ich diese Chance und bot mich selbst als Ersatz an, da ich mir als Kutscher des höchsten Beamten für mich und meine Gefährten Vorteile versprach.

                              Er lachte aber und wollte davon nichts wissen. Da fand ich in seiner bei ihm lebenden Freundin, der Tänzerin Marja Feodorowna aus Moskau, eine Fürsprecherin. Dieser machte anscheinend die Aussicht, einen halbwegs gebildeten, für dortige Begriffe gut aussehenden Kutscher zu besitzen viel Spaß, und ihrer Überredungskunst gelang es ihren Freund umzustimmen.

                              Ich zog also als Kutscher und Pferdepfleger in das Haus des Semski-Natschalnik. Nach russischer Sitte mußte ich dort meinen Familiennamen ablegen und wurde mit Vor- und Vatersnamen, also Germann Ottonowitsch genannt. Sie verschaffte mir auch einen neuen Mantel, die "Burka“, eine Bärenfellmütze und Lederhandschuhe, offenbar wollte sie bei ihren Ausfahrten mit mir renommieren, wozu ich durchaus nichts einzuwenden hatte. Es machte mir einen Heidenspaß mit meiner Herrschaft bei den die Hüte herunter reißenden Genossen vorbeizusausen.

                              Der Semski-Natschalnik hatte den guten deutschen Namen „Möller“. Von seiner Freundin wurde er Karl Wasiljewitsch genannt und da er also Karl und sein Vater Wilhelm hieß schloß ich daraus, daß er deutscher Abstammung sein müsse. Um dies festzustellen, bat ich ihn, mich der deutschen Sprache bedienen zu dürfen, da mir die russische schwer falle. Auf sein Zögern hin war es wieder Marja Feodorowna, die mir seine Zustimmung verschaffte. Er machte aber die Einschränkung, daß ich in Gegenwart Dritter nur Russisch sprechen dürfe.

                              Seine Einwilligung gab mir die Gewißheit, dass er deutscher Abstammung sei und sein volles Verstehen meiner nun angewendeten deutschen Sprache ließ mich vermuten, daß in seinem Elternhaus Deutsch gesprochen wurde.

                              Zur Belustigung seiner Freundin spielte sich nun unser Verkehr in zwei Sprachen ab, er sprach Russisch, ich Deutsch. Oft rief sie mich während der Abwesenheit des Hausherrn zu sich, um von mir Deutsch zu lernen. Etwas Sorge machte mir die Tatsache, daß sie Hauptsächlich Redewendugnen lernen wollte, die sie bei ihrem Liebesspiel mit Karl Wasiljewitsch anwenden konnte.

                              Das waren reizvolle und prickelnde Stunden für mich und nur die Besorgnis, mein Brotherr könne einmal dazwischenfahren und mich an die frische Luft setzen, ließ keine rechte Freude daran aufkommen.

                              Ich sprach auch mit meiner Gönnerin von meiner Befürchtung, aber sie lachte mich nur aus und versicherte, daß Karl Wasiljewitsch von den Unterrichtsstunden wisse und nichts dagegen einzuwenden habe. Das beruhigte mich zwar wenig, denn konnte ich diesem leichten Flittchen glauben? Als ich aber hörte, daß sie in der Unterhaltung mit dem Hausherrn öfter deutsche Brocken einflocht, mußte ich wohl an seine Kenntnis unserer Unterrichtsstunden glauben.

                              Es waren angenehme Wochen, die ich im Hause dieses Landrats verlebte. Für mein leibliches Wohl sorgte die Köchin Xenia Alexandrowna in wahrhaft mütterlicher Weise, obwohl sie jünger war als ich. Ich hatte oft Mühe, mich ihrer allzu großen Fürsorge zu entziehen ohne sie zu beleidigen.
                              Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                              • Helen
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                                • 04.02.2010
                                • 164

                                #45
                                Dank der Freigebigkeit Marja Feodorownas war ich immer reichlich mit Zigaretten versehen. War der Bestand des Hausherrn erschöpft, so stopften wir von dem Tabakbestand einen neuen Vorrat. Als er mich dabei einmal überraschte, und ich mich zurückziehen wollte, sagte er, ich solle ruhig erst meine Arbeit beenden. Während ich nun weiterstopfte, lag er im Sessel und ging meinen frischen Erzeugnissen zuleibe und lauschte dem Klavierspiel seiner Freundin.

                                Diese beiden Menschen ließen es mich nicht merken, daß ich ein Gefangener und ihr Dienstbote war. Den Grund dafür habe ich erst erfahren, als durch die Versetzung des Natschalniks diese schöne Zeit ein jähes Ende nahm.

                                Beim Abschied erzählte er mir, und zwar bediente er sich dabei der deutschen Sprache, daß sein Vater ein Berufsgenosse von mir sei, der wie ich aus Deutschland gekommen sei und nach Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit noch heute die Güter eines russischen Fürsten verwalte. Er habe in mir den Landsmann seines Vaters gesehen, dem er versucht habe, sein Los zu erleichtern.

                                Wie froh war ich nach dieser Erklärung, sein mir manchmal unerklärlich gewesenes Vertrauen nicht mißbraucht zu haben. Marja Feodorowna gab mir beim Abschied einen verschlossenen Umschlag, in dem ich einen Geldbetrag fand, der mich für längere Zeit über Wasser hielt.

                                Das Scheiden von diesen beiden Menschen wurde mir recht schwer und noch heute gedenke ich ihrer mit Dankbarkeit.

                                Nach Abschluß meiner Tätigkeit als herrschaftlicher Kutscher ziog ich wieder ins Dorf und wohnte dort mit Huth, Poley und Haage zusammen. Meine Dorfkundschaft war froh, daß ich nun wieder Zeit hatte, ihr Vieh zu kurieren.
                                ---
                                Der angesehenste und reichste Mann war der Starschena, er besaß 70 Pferde und zu seinem Amtsbezirk gehörten 32 Dörfer. Bei einem solchen Pferdebestande hatte ein Tierarzt beständig etwas zu kurieren. Vom Semski-Natschalnik war ich ihm als Tierarzt empfohlen worden und so zog er mich öfters zu Rate. Er hatte bisher einen Feldscher mit der Überwachung seiner Pferde betreut, aber nun entließ er diesen, wahrscheinlich weil ich billiger war, denn mir brauchte er ja nur so viel zu bezahlen wie er wollte und wenn er nichts bezahlte, mußte ich auch zufrieden sein.

                                Obwohl ich fast täglich seine Herde besuchen mußte, ohne dafür etwas zu erhalten, habe ich ihm jedoch in meinem eigenen Interesse und dem meiner Gefährten gewissenhaft gedient, da er im Falle meiner Weigerung uns den Aufenthalt dort sehr hätte erschweren können.

                                Durch eine Taktlosigkeit seinerseits kam ich leider vorübergehend in Schwierigkeiten, die für mich beinahe übel geendet hätten. Als ich eines Tages über seinen Hof ging rief er mich in das Zimmer. Mit einem anderen Baschkiren saß er auf der Pritsche, vor sich einen dampfenden Topf mit Hammelfleisch und neben sich den fast geleerten Kisluschkakrug. Ich mußte mich zu ihnen setzen und da ich das auf die dort übliche Art tat lobte er mich und sagte, daß ich der einzige Gefangene sei, der anständig sitzen könne. Mit der Hand suchte er aus dem Topf einen schön befleischten Knochen heraus und gab ihn mir zum Abknabbern. Ich mußte solange mitessen, bis der Topf leer war. Die Knochen warfen wir in die Zimmerecke.

                                Plötzlich hatte er den unglücklichen Einfall seine beiden 18 und 20jährigen Söhne zu rufen. Sie mußten das Grammophon anstellen und dann forderte er sie auf zu tanzen. Nun waren aber die Söhne Schüler eines Seminars und weilten zu Besuch hier. Sie fühlten sich in ihrem Stolz verletzt und das nicht zu Unrecht, sahen sie doch, in mir einen Ungläubigen, einen Angestellten ihres Vaters, der noch dazu Kriegsgefangener war und nur der Umstand, daß sie einen Gast ihres Vaters nicht beleidigen durften, ließ sie das Gebot ihres Vaters ausführen. Aber aus ihren mir zugeworfenen Blicken erkannte ich, daß ich mir zwei erbitterte Feinde geschaffen hatte. Zum Unglück kam noch ein weiterer unglücklicher Zufall hinzu. Als ich nach Hause ging, wollte ich noch einmal das Gehege der Pferde aufsuchen. Über den Hof gehend stand ich plötzlich vor der bildhübschen Schwester der beiden Brüder. Da sie mich hier nicht vermutet hatte, zeigte sie sich mir mit unverhülltem Gesicht. Erschreckt wandte sie sich mit einem Aufschrei zur Flucht. Da ich wußte, daß ich mich nun, wenn auch unbeabsichtigt, eines schweren Vergehens schuldig gemacht hatte, verließ ich schleunigst den Hof bevor die Brüder hinzu kamen. Sie hätten mir sicher die Achtung ihrer Sitten auf ihre Art beigebracht.

                                Vor der Abreise der Brüder habe ich den mir gefährlich gewordenen Hof nicht wieder betreten, obwohl der Starchena mehrmals nach mir schickte. Ich hielt es nicht für nötig, diesen halbgebildeten Steppensöhnen Gelegenheit zu geben, mir die Achtung ihrer Sitten beizubringen.

                                Obwohl die Frauen und Mädchen ein wenig beachtetes Dasein führen, werden sie doch von den Männern eifersüchtig bewacht und wehe den Fremden oder gar Ungläubigen, der sich ihnen unerlaubt nähert. Die Frauen gingen unverschleiert, sobald sich aber einer von uns auf der Straße näherte, hielten sie die Ärmel ihres Mantels vors Gesicht und es war angebracht, ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, sondern den Blick abzuwenden.

                                Und doch kam es vor, daß diese strengen Gesetze übertreten wurden. Schräg über meiner Wohnung wohnte eine junge Baschkirin, deren Mann sich an der Front befand. Dieser schien der Mann sehr zu fehlen, was wir aus den uns oft zugeworfenen Blicken glaubten schließen zu müssen. Wohl trug sie die untere gesichtshälfte stets verhüllt, wir stellten sie uns aber sehr schön vor, wie ja auch ein bestrumpftes Bein schöner ist als ein unverhülltes. Da wir mit ihr Erbarmen fühlten, hätten wir ihr gern geholfen aber das Risiko dieser Hilfsaktion hielt uns zurück.

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