Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1318

    #31
    Dokument 21: Riga, Freitag im April 1905 (vor Doras Taufe).
    Meine liebe Florrie,
    ich habe mich sehr gefreut, gestern auf dem Tisch Deinen Brief zur Essenszeit zu finden, als ich Baby versorgt hatte. Das Life Certificate schicke ich unterschrieben zurück. Ich habe mich nicht darüber geäußert, weil ich weiß, daß Du viel zu tun hast. Ich habe nicht gewußt, daß Du so viel gemacht hast. Übertreibe es nicht, sonst wirst Du krank. Hast Du keine Zeit für Vergnügungen mehr? Es paßt wahrscheinlich nicht in Dein Programm. Ich werde mich vor solch einer gelehrten Nichte fürchten! Du mußt Deine Ausbildung abschließen und hierher kommen, um Dir hier russisch und deutsch anzueignen!
    Wir waren bei unserem Pastor, um über die Taufe von Baby zu sprechen. Sie soll an Palmsonntag sein und ich hoffe für die Feier auf gutes Wetter.
    Ich habe eine starke Erkältung und Kopfschmerzen und fühle mich überhaupt dämlich. Baby war diese Woche müde und verwandelte unermüdlich die Nacht zum Tag, so daß ich kaum Schlaf hatte. Ich weiß nicht, wovon sie besessen ist, wo sie doch alle Nächte vorher so gut war. Mrs. Whittle und Mrs. Mitchell kommen heute nachmittag zum Tee und ich muß schnell noch weggehen und ein paar Stücke Kuchen kaufen. Ich hatte keine Zeit Kuchen zu backen, weil wir heute beim Konsul und beim Pastor waren. Wir fuhren und hatten ein lustiges Pferd. Zuerst bockte es und schlug aus, war schlecht aufgelegt. Als wir schneller wurden, überrundete es jede Droschke, der wir uns näherten. Das liebt Onkel Rudolf sehr, so wie auch die Fahrer. Ich fürchte mich aber sehr vor Zusammenstößen, da die Männer immer versuchen, den anderen Droschken so nahe wie möglich zu kommen. Wir haben uns darüber unterhalten, hier im Gewerbe Verein einige Abende zu einer Kinematographen Ausstellung zu gehen, wenn wir Baby allein lassen können.
    Schade, daß Olive ihren Brief nicht beendet hat. Wie gefällt es ihr, Mutters Kind zu Hause zu sein? Ich wünsche mir, ich könnte zu Euch kommen und Euch alle sehen, da ich oft das Verlangen nach einem Gespräch habe. Aber, liebe Florrie, Du mußt erkennen, daß es unmöglich ist.
    Ich mache für Baby eine cremefarbene Serge-Kutte, mit Stickereien und werde ihr eine kleine aus Baumwolle für den Sommer machen. Alice schickte mir einen Schnitt, den sie in Zeitungen eingewickelt hatte.
    Auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an Euch alle. Wie geht es Deinem Garten und Paddy?
    Deine Liebe Tante Lily.
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1318

      #32
      Dokument 22 Riga Dienstag (vor Ostern 1905 /Doras Taufe war Palmsonntag)
      Mein lieber Arthur,
      Dein Brief mit Inhalt kam zur Mittagszeit an. Vielen Dank. Wegen der I.P.: Für Dich macht es weniger Arbeit, gebe ich zu, aber Du bist der einzige, der davon nicht profitiert. Wie könnten sonst die Zeitschriftenhändler usw. ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn jeder nach Deinen Vorsätzen handeln würde, und ich wollte Ada etwas Gutes tun. Das arme Mädchen wird sich nicht so viele Zeitungen leisten können, da sie eine schlechte Nachricht von ihrer Firma bekam, die in eine "Ltd.Co." umgewandelt wurde und die Kosten vermindern will. Mit ihren Kenntnissen von Stenographie und Fremdsprachen (französisch, deutsch und italienisch) sollte sie eine gute Anstellung bekommen, aber es wird einige Zeit dauern und ich weiß nicht, wie sie es in der Zwischenzeit überstehen wird. Das Wetter bei uns war wie heute sehr wechselhaft. Zur Kirche waren wir mit Babs unterwegs und mußten uns auf dem Rückweg beeilen, weil es regnete. Sie wurde Sonntag getauft, benahm sich gut und zeigte viel Interesse an allem und jedem. Wir ließen sie noch nicht photographieren, wollen aber warten, bis sie etwas großer ist. Ich werde ein Bild schicken, sobald ich eines habe. Du kannst sicher sein, daß es mir leid tut, daß ich sie nicht herüber bringen und zeigen kann. Wir möchten gerne wissen, wie man Ätzkalk oder Bleichkalk herstellt, weil Rudolf überlegt, es im kleinen Rahmen zu produzieren. Deshalb habe ich mich auch nach Wasserglas erkundigt.
      Ich brauche mir hier keine Sorgen darüber zu machen, Eiervorräte anzulegen. Sie werden jetzt je 60 Stück für 1,20 Rubel, das sind 2 Kopeken oder 1 1/2Pence je Stück verkauft und wir verbrauchen etwa 60 Stück pro Woche. Morgen werden sie etwas teurer sein. Jeder kauft sie, kocht sie hart und färbt sie für Ostern. Wenn eine große Nachfrage ist, steigen die Preise (Wenn Einmachzeit ist, wird der Zucker auch teurer!). Ich habe Dich für den Tag in der Stadt beneidet. Ich kann mich darauf nicht freuen, weil wir in der Stadt leben und im Vergleich zu England hier das Einkaufen sehr langsam vor sich geht. Es macht keinen Spaß, obwohl wir gestern in einem netten Spielwarengeschäft waren und für Babs einen Hochstuhl und einen Kinderwagen gekauft haben. Sie ist noch zu klein für den größeren, muß aber bald einen haben, da man einen vierrädrigen schlecht jedesmal zwei Stockwerke herauf und herunter tragen kann, wenn man mit ihr ausgeht. Sie fängt jetzt an, Bisquit und Eier zu essen und trinkt Orangensaft. Letzte Woche fing sie damit an, aber ist noch sehr müde. Sie nimmt nichts weiches aus einem Teelöffel, außer Medizin und Orangensaft, den sie sehr mag.
      Ich bin jetzt fertig mit "The Last Days of Pompeii". Es war so schön es wieder zu lesen. Es ist nicht so schwülstig wie die von Lytton, stimmt’s?
      Man sagt, daß die Bediensteten nächste Woche streiken wollen. Ich glaube es, denke aber nicht, daß Katta mitmachen wird. Jeder streikt jetzt. In Moskau sind sie ohne Brot, weil 15.000 Bäcker streikten, als der Teig zum Backen fertig war. Ich backe selbst, so betrifft uns das mit dem Brot nicht.
      Mittwoch: Ich warte, daß Babs aufwacht, gefüttert wird und ihr "Ritual" bekommt. Jetzt ist es schön. Letzte Woche gingen wir an einem Abend zu einem Vortrag. Aber ist das nicht lustig? Ich habe es nur teilweise verstanden. Onkel Rudolf hat mir heute eine Frühlingsjacke gekauft, da meine für den Winter so schwer ist und mich beim Gehen so ermüdet. Es ist ein langer, grauer Umhang, der mit einer schwarzen Seidenkordel verziert ist. Dann später im Sommer kann ich meinen 3/4-langen rehfarbenen tragen. Das Geschäft geht wirklich sehr schlecht. Nichts passiert und jeder scheint vor einem Krieg mit England Angst zu haben. In Petersburg, sagt man, daß die Gefühle gegen England so heftig sind, daß die englischen Kinder nicht in die Schule gehen können. Mir geht es viel besser, nur hatten wir beide wieder eine fürchterlich Erkältung. Onkel Rudolf sagt, daß die Rigaer Luft schlecht ist. Ich hatte in meinem Leben noch nie so viele Erkältungen und scheine nichts anderes zu tun, als mich zu erkälten und habe außerdem das Gefühl, Fett zu werden. Wenn es einem gut geht, sagt man "Laugh & grow fat" Lache und werde dick, wie Du weißt. Der Himmel weiß, wann ich das liebe alte England wieder sehen werde.
      Liebe Grüße an Euch alle von Deiner lieben Tante Lily.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • Frank K.
        Erfahrener Benutzer
        • 22.11.2009
        • 1318

        #33
        Dokument 23: Riga, Postfach 254, Frühjahr 1905

        Mein lieber Alf,
        mich interessiert, ob meine beiden letzten Postkarten angekommen sind. Du schreibst niemals, daher kann man nichts berichten.
        Die Lage scheint hier jetzt gerade ziemlich ruhig zu sein, aber wer weiß, wie lange das so bleiben wird - nach den Ereignissen in Kronstadt. Ich scheine kein Vertrauen mehr zu etwas in diesem Land zu haben. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, bin ich froh, daß die Nacht ruhig vorbeigegangen ist. Odessa war doch furchtbar! Aber die englischen Zeitungen haben es nicht nötig, etwas anderes zu schreiben. Wenn jemand arbeitet, glaube ich, hat er es verdient. Seht doch diese 150 armen Arbeiter an, die von ihrer Arbeit in den Kinder-Wasserwerken ohne Vorankündigung vertrieben wurden. Wenn hier so etwas passiert wäre, dann hätte irgend ein schnüffelnder Wichtigtuer es sofort an eine englische Zeitung geschrieben und es hätte unaufhörliche Schreckensstimmen gegen den Zar usw. gegeben! Da dies aber in England passiert ist, erwähnt es niemand. Es hat mich so betrübt, all das über diese armen Frauen zu lesen, die zu Balfour gegangen sind. Ich denke, daß er sich danach gnädigst zu einen fünf- oder sechsgängigen Essen hingesetzt hat.
        Ich mag Rußland nicht und stimme seinem Handeln nicht zu, aber ich kann es nicht mit ansehen, wie sich England einmischt. Rußland kümmert sich auch nicht um die Chinesen dort draußen. Es gab andere Schrecken in Odessa, von denen Ihr niemals gehört habt. In einer Schule, in der die Letten revoltierten, wurden sie alle im Hof erschossen und sie ließen die Kosaken auf sie los. Viele Wagenladungen wurden von den Roten und dem Volk davongeschafft. Am selben Tag wurde die Schule für kleine Kinder geschlossen und die Kinder nach Hause geschickt. Die Kosaken fielen über sie (es ist nicht bekannt, auf wessen Befehl) her und ermordeten schlichtweg 30. Man sagt, daß das durch die Studenten provoziert wurde, aber in England will niemand dafür Protestversammlungen abhalten. Hier war einer an einem Tag in der Börse Aufruhr. Einer zog ein revolutionäres Pamphlet heraus, um es vorzulesen (Rudolf war auch dort). Die anderen zogen ihre Revolver heraus und schickten nach den Soldaten. Dann schlossen sie schnell die Börse, da sehr, sehr wenige einen riesen Aufstand gemacht hätten. Das Börsen Komitee ging mit ihnen zum Gouverneur (wir scheinen hier einen sehr zurückhaltenden Mann zu haben), aber es war nur wegen einer winzigen Kleinigkeit. Während des ganzen Streiks haben hier die Männer in der russischen Töpferei gearbeitet. Ihre Frauen standen mit Knüppeln, Steinen usw. bewaffnet an den Toren und hielten die Streikenden und Aufrührer fern. Diese Männer machten dann eine Dankprozession wegen der Manifeste mit dem Bild des Zaren und die Revolutionäre störten sie dabei sehr. Dadurch kam es dann zu einem Kampf. Der Gouverneur verbot daraufhin alle weiteren Kundgebungen bis auf Weiteres. Ich möchte hier um keinen Preis jemand in solch einer Machtposition sein. Wenn hier jemand in Riga massakriert wird, fürchte ich, werden es die Deutschen und Ausländer sein, da die Letten so aufgerührt wurden, daß sie ihren eigenen König haben wollen, weil sie einen tiefen Haß gegen die Russen und wirklich alle Ausländer haben.
        Es ist eine wirklich schlimme Lage und eine traurige Zeit. Acht oder neun Tage lang war alles geschlossen und weder Straßenbahnen, noch Züge, noch Droschken fuhren. Wir haben zwei Büchsen Kondensmilch (sie kosten hier furchtbar viel!) für Babs für den schlimmsten Fall gekauft, aber wir kamen durch, ohne sie aufmachen zu müssen. Ich behalte sie für den Notfall, falls wir nachts zu den Dampfern, wie in Kronstadt, fliehen müssen. Die Männer, die die Schiffe entladen haben (Dockarbeiter) arbeiten wieder. Sie haben ihre Forderungen durchgesetzt, die sehr hoch waren: 4 Rubel für einen Achtstundentag! Wenn die Eisenbahnarbeiter das bekommen, wundere ich mich nicht über den Streik, aber man kann sich auf Unruhen gefaßt machen. Ich hörte, daß ein Weichensteller 12 Rubel pro Monat, die Wohnung, Wolle und Petroleum umsonst bekommen hat.
        Baby geht es gut und ich denke uns auch, aber wir möchten gerne wissen, wo die Sonne bleibt. Wir haben sie bestimmt einen Monat lang nicht mehr gesehen und diese düsteren Tage gehen einem wirklich nicht auf die Nerven! Baby wandert um die Möbel herum, kann aber noch nicht allein gehen. Ihr Stuhl ist zu einem kleinen Tisch umgebaut. Wenn man sie hineinsetzt, klettert sie auf den Sitz und tanzt. Sie ist keine Minute ruhig, außer, wenn sie ein Buch hat. Die Schwester von Alice schickte ihr ein kleines, in Leinen gebundenes Buch und sie durchsucht es nach dem Pferd. Ich wünschte, Du würdest etwas wegen dem Geld schreiben oder machen, um das ich Dich schon so oft gebeten habe. Es ist so ermüdend, nie eine Antwort zu bekommen. Du kannst sehen: Je mehr Geld man in Rußland für Geschäfte zur Verfügung hat, desto mehr Geschäfte kann man auch machen. Da er aber in England bar einkaufen muß (Du weißt, wie konservativ die Engländer über Kredit denken!) und hier auf drei oder vier Monate Ziel verkauft. Mir hat es so leid getan, von Ted zu hören. Ich hoffe, er hat jetzt eine andere Stelle gefunden. Grüße bitte alle Mädchen, Jungen und Sallie und schreibt doch bald mal! Du kannst mir auch manchmal eine Karte schicken, wenn Du keine Zeit zum Schreiben hast.
        Deine Lily.
        Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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        • Frank K.
          Erfahrener Benutzer
          • 22.11.2009
          • 1318

          #34
          Dokument 24: Riga, Sonntag, Frühjahr 1905

          Lieber Arthur,
          ich habe Deinen Brief vor einigen Tagen bekommen. Der Ausschnitt aus der Times hat Dir nicht viel gesagt. Wenn das alles ist, was Du von Rußland gehört hast, dann ist das harmlos. Hier ist so weit alles ruhig, nur wissen wir nicht, ob sie wieder streiken werden oder nicht.
          Eine Schule mit kleinen Kindern haben sie besetzt und schlichtweg 30 von ihnen getötet. Auch von Kronstadt wird nichts berichtet, wo 14.000 Seeleute gestreikt haben und total betrunken von 6Uhr abends bis 7Uhr morgens wild um sich geschossen und die Stadt in Brand gesteckt haben. Rudolf sagt, daß ein russischer Seemann, wenn er betrunken ist, zu einer wilden Bestie wird und alles bekämpft und gegen jeden kämpft.
          in der Börse kam es auch zu einem Zwischenfall. Einer zog ein rotes, revolutionäres Manifest heraus. Rudolf sagte, daß einige Männer ihre Revolver bereitmachten, aber zuvor die Glocke geläutet wurde, um die Börse zu schließen, worauf hin sie mit Hilfe der Soldaten heraus geschmissen wurden. Draußen fand noch ein kleiner Kampf statt, bei dem insgesamt drei oder vier von ihnen verletzt wurden. Sie hatten ein Bild des Zaren beleidigt, das einige patriotische Russen durch die Straßen trugen, um sich über die Manifeste hinwegzusetzen. Es waren Männer aus einer Töpferei, die während des ganzen Streiks durcharbeitete, während ihre Frauen die ganze Zeit bewaffnet vor den Toren standen, um die Aufrührer fernzuhalten.
          Ich denke, daß es England besser anstehen würde, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was ist eigentlich mit den Arbeitslosen? Was würden sie dazu sagen, wenn Rußland sie wegen der Chinesen an der Grenze bevormunden würde?
          Unsere große Furcht in Riga gilt den Letten. Was werden sie unternehmen? Werden sie die anderen umbringen, wenn sie versuchen, die baltischen Provinzen zu bekommen, da sie sehr zahlreich, mächtig, revolutionär und hassvoll allen „Ausländern“ gegenüber, besonders den Deutschen sind? Ich hoffe nur, daß, falls etwas geschieht, es nicht dann sein wird, wenn die Düna gefroren ist, so daß wir dann voll und ganz abgeschnitten sind. Wenn wir doch nur über den Winter nach England kommen könnten! Ich habe für Baby solche Angst.
          Zum ersten Mal seit einem Monat haben wir gestern die Sonne gesehen und es ist heute herrlich gewesen. Nach kräftigem, hartem Frost ist etwas Schnee gefallen, gerade einmal genug, um mit dem Schlitten zu fahren. Heute ist Baby zweimal in einem neuen, dicken, grauen Mantel, draußen gewesen, den ich ihr gestern gemacht habe. Mrs. Schultz kam Freitag, um meine Maschine zu benutzen. Sie machte einen für ihr Kind und ich schnitt nach einem Muster von ihr Stoff aus und machte gestern alles fertig. Sie sieht so nett und groß darin aus. Letzte Woche haben wir ihr ein hübsches Bett gekauft, das auf beiden Seiten Netze hat, die verhindern sollen, daß sie herausfällt. ... der Rest des Briefes fehlt.
          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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          • Frank K.
            Erfahrener Benutzer
            • 22.11.2009
            • 1318

            #35
            Dokument 25: Riga, Freitag im Juni 1905

            Lieber Arthur und liebe Jennie,
            Ich habe Euch schon lange zu schreiben versucht, aber Ihr wißt nicht, wie schwer es gerade jetzt ist, 5 Minuten Zeit zu finden. Babs muß so viel wie möglich draußen sein. Dr. Berg sagt, daß sie den ganzen Tag an der Luft sein sollte, damit sie im Herbst oder Winter nicht krank wird. Wie wünsche ich mir und ihr einen Mund voll Luft aus Blackpool!
            Wir hatten schrecklich heißes Wetter und waren einige freie Tage - Feiertage - am Strand. Gestern haben wir in einer Pension gebucht und werden von morgen bis Montag dort bleiben. Das Wetter ist jetzt wieder so kühl und windig wie nur möglich geworden. Gestern hatte ich eine schreckliche Erkältung und Kopfschmerzen. Ich habe Katta und Babs allein in den Schützen Garten geschickt, damit sie der Musik bis zur Badezeit zuhören, weil Mrs. Schultz mich besuchen kam. Sie fährt am Montag nach Paris, um ihr Baby allen ihren Verwandten zu zeigen. Wollt Ihr alle nicht auch Babs sehen? Ich wünsche mir so, daß wir alle herüber kommen könnten! Meine Liebe zu diesem Land ist noch immer nicht größer geworden, da sie hier so verrückte Dinge tun. Mittwoch gingen wir an den Strand und landeten mit Babs und dem Gepäck am schmutzigen, lauten Bahnhof. Dort stellten wir fest, daß ein Feiertag ist und der Zug nicht fährt, weil der Geburtstag der Zarin war. Eine Stunde später sollte der nächste Zug fahren. Wir gingen wieder nach Hause und waren pünktlich wieder da. Jetzt standen wir vor der Tafel auf der stand: „Es werden keine Fahrkarten mehr verkauft“, als ob kein Platz mehr wäre. Das sollte bedeuten, daß kein Quadratzentimeter mehr frei war. Also gingen wir nach Hause und wollten ins Theater gehen, aber es waren keine Vorstellungen, weil am nächsten Tag ein Kirchenfeiertag war!
            Himmelfahrt: Du kannst in der Zeitung über die Bombe nachlesen, die hier am 2. Mai geworfen wurde. Es wurde auch eine am 1.Mai in Wöhrmanns Park geworfen, wo nur zwei Pferde verletzt wurden, aber es wurde wahrscheinlich geheim gehalten. Die Leute, die dort waren, sagten, daß die Kosaken auf einmal überall im Park waren und deshalb die Menschen nicht herauskamen. Die Bombe wurde glücklicherweise schlecht geworfen und traf einen Offizier am Knie, bevor sie auf dem harten Pflaster auftraf, so daß sie nicht so viel Schaden anrichtete. Das war gegen 10 Uhr. Wir waren etwa um 6 Uhr zu Hause. Zuerst saßen wir in der Veranda, tranken Kaffee und hörten Musik. Als Katta und das Baby sicher zu Hause ankamen, gingen wir in den Kaisergarten. Als uns ein Schauer überraschte, fuhren wir zum Cinematograph im Park. Ich bin dankbar, daß wir zu Hause ankamen, bevor der Aufruhr begann, da die Kosaken, wenn sie da sind, unberechenbar sind und die Leute, die sie beschützen, genau so gefährdet sind, wie die Aufrührer. Vergangene Woche gingen wir in den Kaisergarten zu einem Varieté. Die getroffenen Schutzmaßnahmen waren dort besonders auffällig. Die ganze Nacht habe ich vor einer Bombe Angst gehabt. Kosaken ritten herum, zusätzliche Polizisten, Offiziere und Feuerwehrleute standen mit Schläuchen bereit. Meine große Sorge ist, was mit dem Baby passieren wird, wenn Rudolf und ich verletzt oder getötet werden. Du bist so weit weg und sie ist so ein sensibles, liebes Baby. Wenn man sie ansieht, scheint ihr kleiner Mund für einen Schrei bereit zu sein, aber nichts geschieht. Jeder hebt sie in den Zug usw. Eine Frau meinte, was ich doch für ein Glück hätte, solch ein charmantes Kind zu haben.
            Sonntag 4Uhr nachmittags. Wir haben Katta nach Assern geschickt.
            Mrs. Whittle kommt in ein oder zwei Wochen nach Bolton. Wenn ich Euch Ihre Adresse gebe, könnt Ihr mir ein Opernglas schicken. Ich denke, daß es ihr nichts ausmacht, so eine Kleinigkeit mitzubringen. Hat eigentlich A. Hughlin geschrieben und gesagt, man soll es dem Steward der „Sergic“ schicken? Sie meinte, sie würde es tun, da es ihr Fehler war. Ich habe es und auch andere Dinge nicht mitgebracht, obwohl ich es wollte. Sie hatte mir versprochen, es einzupacken, vergaß es aber. Und jetzt will ich es haben. Wenn es Dir nichts ausmacht, welches Du behalten willst, dann würde ich gerne ein kleines haben. Ich wünschte, Mrs. W. könnte Euch treffen und von mir erzählen. Sie meinte, sie würde keine Zeit haben, jemanden zu besuchen. Sie fährt zur Hochzeit ihrer Nichte, die nach China geht.
            Baby hat am Sonntag ihren ersten Zahn bekommen und es geht ihr wegen einer Erkältung nicht so gut. Wir waren gestern Nachmittag bis 8Uhr im Schützen Garten, hörten der Musik zu und tranken Tee auf der Terrasse, die etwas geschützt liegt. Dann gingen Katta und das Baby nach Hause und wir fuhren mit dem Boot hinüber nach Hagensberg, um ein Haus anzusehen. Es hat eine nette Veranda, einen kleinen Garten und man hat nur 5 Minuten zum Boot zu gehen, aber es gibt kein fließend Wasser und die Miete ist zu hoch. Unser Vermieter hat die Miete auch um 25 Rubel pro Jahr angehoben, aber wir suchen uns ein anderes Haus.
            Mrs. Wraper ist in London und will A. Hughlins besuchen. Ich würde gerne Annie sehen, wenn sie den Brief bekommt.
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            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1318

              #36
              Fragment Frühjahr 1905:
              ... wir wollten mitteilen, daß wir nicht kommen können, konnten aber nicht telegraphieren, da wir die Adresse nicht kennen. Aber jetzt glaube ich, daß es wieder warm wird. Wenn es so bleibt, dann werden wir morgen einen unserer üblichen Ausflüge machen. Sie sind einerseits schön, aber doch sehr ermüdend. Wenn man die Nacht über irgendwo verbringt, bekommt man meist kein passendes Bett. Die Betten sind meist zu kurz und zu eng, um sich zu herumzudrehen. Unsere zwei Betten zu Hause sind dagegen eine Pracht. Ich versuche gerade mit Baby, während sie auf ihrem Stuhl neben mir sitzt, zu schreiben, während sie die ganze Zeit ihre Spielsachen, die ich ihr gebe wieder auf den Boden wirft, so daß ich mich die ganze Zeit danach bücken muß. Sie sollte schon schlafen. Da aber Katta ausgegangen ist, geht es mir schlecht, weil sie nur ½ Stunde geschlafen hat. Gestern mittag hat sie drei Stunden geschlafen.
              Vielen Dank für die Postkarte, die aber nicht sehr künstlerisch ist. Ich bin enttäuscht, da sie mehr ein Flecken als ein Bild ist. Ich warte darauf, mehr über Jennies Krankheit zu hören. Ich hoffe, daß es ihr schon wieder besser geht und ihre Augen nicht darunter gelitten haben. Was macht Florrie für Fortschritte mit ihren Studien? Ich habe auch noch nicht gehört, ob es Ada Wood gelungen ist, eine andere Stelle zu bekommen. Ich glaube fast nicht, da sie noch nicht geschrieben hat. Rudolf hat ihr geschrieben, aber es kam keine Antwort. Hoffentlich findet sie bald etwas. Die Zeitungen kamen durch, ohne daß Stellen geschwärzt waren. Hast Du das über Gorki in den letzten zwei Ausgaben der I.P. gelesen? Schickt mir doch etwas heimatliche Nachrichten.
              Liebe Grüße Deine Lily.
              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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              • Frank K.
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                • 22.11.2009
                • 1318

                #37
                Dokument 31: Frühsommer 1905.
                Ich habe sie ein halbes Dutzend Mal gefragt, sie hat aber nie geantwortet. Jetzt ist es aber vorbei. Ich wußte immer, daß sie nicht den geringsten Wahrheitssinn und das geringste Ehrgefühl besaß.
                Ich mußte sogar einen abschließbaren Schreibtisch kaufen, um sie davon abzuhalten, meine Briefe zu lesen. Ich möchte so gerne etwas zu lesen haben. Ich habe Jerome auf deutsch gelesen, aber es ist nicht so interessant, da ich alles von ihm auf englisch auswendig kenne. Die Geschichte in der Zeitung ist nur viel zu kurz. Ich lese es sogar in 10 Minuten durch - und das auf deutsch! Jetzt ist es verboten, die Angriffe und Überfälle usw. abzudrucken. Jeden Tag werden die Menschen gewarnt, vorsichtig zu sein, da auch am Tag wieder viele Übergriffe waren. Rudolf hörte, daß die Soldaten hier in der Kaserne einige Offiziere erschossen hätten, hörten aber nichts weiteres davon.
                Eine Hängematte ist hier der größte Luxus, den ich mir hier für Geld leisten werde. Sie sind hier so verbreitet und solche spaßigen Dinge. Wir sind hier wirklich in der Wildnis und weit weg von allen englischen Sachen. Man kann aber in einem kleinen Laden hier richtige "Peter´s Milk Chokolate" kaufen. Richtige von Peter´s und keine nachgemachte!
                Baby hat mich in ihrem Kampf letzte Nacht erstaunt, als sie zuerst saß und dann sich auf einer Seite hochgezogen hat und stand. Ich habe Wasser über sie gegossen, daß sie sich nicht erkältet. Das machte ihr richtig Spaß, macht sich aber nichts aus, da sie die ganze Zeit in Bewegung ist und sie schwer zu halten ist. Rudolf sagt, daß sie mehr wie ein Junge ist, als ein Mädchen.
                Liebe Grüße an alle,
                PS. Kostet das "Grand" 4 Pence pro Monat? Ich denke ich werde es nächstes Jahr anstatt den I.P. nehmen.
                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                • Frank K.
                  Erfahrener Benutzer
                  • 22.11.2009
                  • 1318

                  #38
                  Dokument 26 a: Bullen Krug, Dienstag, im Juni 1905

                  Lieber Arthur und Liebe Jenny,
                  wir haben uns hier schließlich in der Wildnis für den Sommer einquartiert und ich bin dankbar, daß ich in dieser großen Hitze aus der Stadt herausgekommen bin. Ich hatte das Gefühl, daß noch weitere Atemzüge in dem Krach und der Hitze mich zum Wahnsinn treiben würden. Hier ist es herrlich, aber wirklich schlecht für den armen Rudolf, weil wir hier eine Stunde von der Bahnstation und 1/2 Stunde vom Dampfer entfernt sind. Diese Entfernungen muß man gehen und um 5.30Uhr aufstehen und um 10Uhr ins Bett gehen. Man braucht von Riga drei Stunden, so daß ich fürchte, daß er nicht jeden Tag kommen kann, weil es so ungemütlich für ihn in der Stadt ist, wenn wir hier sind. Für uns aber ist es angenehm hier. Wir sind hier, wie wir sagen, auf der falschen Seite des Sandhügels, auf dem Bäume stehen. Dahinter ist das Meer. Um uns herum ist Nadelwald bis an den Fluß. Ich habe Rudolfs Mutter geschrieben, ob sie und eine ihrer Töchter nicht zu uns kommen wollen, da Rudolf denkt, daß es langweilig wird, wenn er nicht kommen kann. Doch mir macht die Einsamkeit großen Spaß. Man kann sich unmöglich mit solch einem quirligen Ding, wie es Babs ist, einsam fühlen, da sie mich den ganzen Tag in Bewegung hält. Rudolf brachte mir gestern eine Hängematte, aber es ist noch die Frage, wann sie (Dorothy) mir erlauben wird, sie zu benutzen. Ich habe nichts mehr zu lesen und es ist eine Ewigkeit her, seitdem ich etwas bekommen habe. Ich fühle mich zu erschöpft, um deutsche Sachen anzufangen, außer dem Feuilleton in der Zeitung. Das ist die Übersetzung des englischen Wortes "tale". Vielleicht erleichtert es das Lesen. Die Häuser, die näher am Bahnhof liegen, sind furchtbar teuer. Man bekommt dort keines unter 200 Rubel für den Sommer. Es ist schon komisch, einfach £25 nur für das Haus auszugeben, wo es doch solche Streichholzschachteln sind, die nur mit Dachpappe gedeckt sind. In dieser Bude waren wir den ersten Mittsommer, als wir hierher kamen. Ich komme gerne her und würde sie gerne kaufen. Es ist einfach so, wie der Ort der Hochzeitsreise. Es ist der einzige schöne Urlaub, den ich habe. Wenn es für Rudolf nur einfacher wäre, wäre ich wirklich glücklich. Dieses Haus hat ein dickes, geteertes Dach, zwei große Räume, eine große Veranda, eine Küche, einen Keller und oben noch zwei große Zimmer. Wir haben alles -möbliert- für 35 Rubel bekommen und haben nur zwei Matratzen, zwei Korbstühle und Babys Stuhl am Sonntag mit dem Dampfer mitgebracht. Das größte Problem hier ist das Essen, da hier nur ein einziger Laden ist. Wir sind abhängig von fliegenden Händlern, die Fleisch, Gemüse und andere Dinge verkaufen. Bisher haben wir noch keinen Fleischer gesehen, um für Babs irgendeine Suppe zu kochen. Ich habe ihr gerade einmal ein Ei von einer Waschfrau sichern können. Unser Nachbar hält 15 Kühe, so daß sie frische Milch bekommt. Wir können 1 1/2 Quart bekommen, da alle andere weggeschickt wird. Jetzt ist es draußen glühend heiß. Ich bemitleide den armen Rudolf in dieser stickigen unruhigen Stadt. Hier in der Veranda ist es schön kühl und es singt draußen ein Vogel aus Leibeskräften. Meine Hängematte ist noch immer nicht befestigt, da ein Strick fehlt.
                  Wir bekamen gestern den Probeabzug von Babs´ Bild und ich hoffe Euch eines in drei oder vier Wochen zu schicken. Sie sieht darauf nicht annähernd so schön aus, wie in Wirklichkeit. Es scheint, als ob er sie immer gleich aufnimmt. Ihre Hände und Füße sind unscharf. Wir wollten ein anderes mit uns zusammen aufnehmen lassen, aber sie war dann zu müde, um es zu überstehen. In dieser Hitze lassen wir sie barfuß und mit so wenig Kleidern wie möglich herumgehen. Sie sitzt neben mir und grabscht nach meinem Papier, meinem Stift und quietscht immer wieder mit ihrer Gummi-Puppe.
                  4.30Uhr. Ich wurde von einem Russen, der Gemüse verkauft, unterbrochen. Ich vermisse den Markt so sehr. Wenn wir hier nur auch einen hätten, wäre es wunderbar. Babs ist gerade wieder nach einem Bad und einem 2 1/2 stündigem Schlaf aufgewacht, so daß wir jetzt in den Wald gehen können. Es ist hier auch noch kein Metzger aufgetaucht! Es wird wahrscheinlich nach einem englischen Leben nicht so passen. Man lebt ein oder zwei Jahre in ein paar Zimmerchen 2. oder 3. Stockwerke hoch, ohne daß man einen Inch Lebensraum in dieser Zeit hat. Die Damen wandern in ihren Jacketts und die Erwachsenen baden am Ufer. Man denkt nicht daran, einen Hut aufzusetzen und Katta geht die ganze Zeit barfuß. Du weißt, daß A.H. die Hälfte von meiner Erbschaftssteuer übernehmen würde, wenn Mrs. W. die andere Hälfte zahlt. Nun gut, Mrs. W. bezahlte sie und schrieb es an A.H. Ich will Rudolf bitten, ihre Antwort beizulegen, damit Du ihren Charakter erkennen kannst. Haben eigentlich die Anwälte den Vertrag für die Anteile zugeschickt? Ich habe niemals etwas bekommen. Weißt Du eigentlich, ob es eine Möglichkeit gibt, meinen Anteil günstig zu verkaufen? Jetzt muß man aber eher an das Baby denken. Ich würde lieber hier das Geld anlegen, als es auf solch eine lächerliche Art und Weise zu verschwenden. Ada Wood, das arme Ding, ist in Liverpool noch immer ohne Stelle. Ich bin nun auch zu faul, mehr zu schreiben und Babs hat es geschafft, herauszukommen. Ich hoffe, daß es Jennie und allen anderen gut geht, auch wenn es schon lange her ist, daß Du geschrieben hast. Schick mir doch die Unterlagen. Liebe Grüße Eure Lily.
                  Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                  • Frank K.
                    Erfahrener Benutzer
                    • 22.11.2009
                    • 1318

                    #39
                    Dokument 26: Bullen Krug, Nach Johanni, Ende Juni 1905:
                    Mein lieber Arthur,
                    es ist noch nicht sicher, wieviel ich schreiben kann, da mich Babs die ganze Zeit mit Bewunderung anschaut, aber bald etwas finden wird, das ihr mehr Spaß machen wird. Rudolf ist in der Hängematte eingeschlafen, die er zwischen zwei Pfählen direkt neben der Veranda aufgespannt hat, daß ich dort auch liegen kann, wenn Baby schläft und hören kann, wenn sie aufwacht. Wir warten noch bis Katta die Geschirre abgewaschen hat, um dann in den Wald gehen. Rudolf und ich waren dort den ganzen Morgen, als Baby schlief. Jetzt spielt sie "Peep" mit mir.
                    Rudolf sagt, daß der Kreuzer Potempkin noch immer dabei ist, Plätze zu beschießen. Bei uns ist es aber zum Glück sehr ruhig. Sogar der Johanni-Freitag (Mittsommer-Tag), an dem es so langweilig war, ging - so weit wir wissen - ruhig vorbei, aber wir wissen auch nicht alles, was hier passiert. Es mag ja gerade eben auch alles in Ordnung sein. Ich habe das Land sehr lieb gewonnen. Aber die Zeit zwischen Oktober und Mai würde ich am liebsten - als literarische Anmerkung- "überspringen", wenn auch nur Rudolf sein Pech überspringen könnte und ermuntert würde, mehr wie Mark Japley. Dann in Riga konnte ich mir im Winter keine solch hohe Räume, in denen man nichts sieht, vorstellen, wo es doch das ungemütlichste ist. Man kann neben keinem Feuer sitzen! Nur über diesen Hügel herüber, dann ist es wie in Southport und hier fühle ich mich wie zu Hause! In den Nadelwäldern kann ich mich nicht heimisch fühlen, auch wenn sie sehr nett sind. Sie stimmen mich etwas melancholisch. An einem Tag sahen wir einen Specht, an einem anderen Tag ein Eichhörnchen, das einen Baum hinaufkletterte und dann von Baum zu Baum sprang, bis es zu weit weg war. Die erste Nacht tauchte ein uralter Mops auf, der uns nicht mehr verlassen will. An Johanni gab ich Katta frei und sie blieb die ganze Nacht weg. Er ist so auf sie fixiert, daß er, als sie uns verließ, mit ihr ging. Sie nahm ihn durch den Wald bis zum Bahnhof in Bilderlingshof mit, weil sie dachte, dort ein anderes Heim für ihn zu finden, aber vergeblich! Als wir um 4Uhr Kaffee tranken, kam er wieder an. Er ist eine Plage und wir können ihn nicht mit nach Riga nehmen. Hier scheint ihn niemand zu kennen. In der Stadt kann man keinen Hund halten. Sie müssen alle einen Maulkorb tragen, an der Leine geführt werden und man muß für sie zahlen. Wenn sie vor 8Uhr (oder 10Uhr) von den (autorisierten) Hundefängern aufgegriffen werden, werden sie in einem Lastwagen weggebracht und getötet. Mrs. W. hat auch einen kleinen Hund, der ein elendes Dasein hat. Er ist jung und möchte immer herum rennen und spielen. Wenn man Mrs.W., die fast blind und alt ist, mit ihm ausgehen sieht, wie er ihr fast den Arm herausreißt, kann man beide nur bemitleiden.
                    Jetzt sind alle fertig und wir können losgehen. Man zieht sich hier nicht um und setzt nicht einmal einen Hut auf den Kopf. Wir haben hier drei Türen, von denen man zwei abschließen kann und die dritte auf eine außerordentlich primitive Art zusperren kann, indem man einen großen Eisennagel durch eine kleine eiserne Öse steckt. Wenn ich nach dem Essen Zeit habe, werde ich noch viel mehr schreiben, wenn aber nicht, dann lasse ich es dabei.
                    Liebe Grüße an Euch alle. Du hast mir nicht erzählt, wie es dem Auge von Jennie geht.
                    Deine Lily.
                    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                    • Frank K.
                      Erfahrener Benutzer
                      • 22.11.2009
                      • 1318

                      #40
                      Dokument 29: Bullen Krug, Donnerstag, Juli 1905.
                      Lieber Arthur und liebe Jenny,
                      habt Ihr Euch schon einmal gefragt, was "Bullen Krug" bedeutet? Also: Bullen ist die Mehrzahl von Bulle und Krug ist, wie Rudolf sagt, das ländliche Wort für Gasthaus. Wir sind wirklich an einem Punkt des Landes, an dem man nicht weitergehen kann, da hier die Aa in das Meer fließt. Wenn dieser nette Ort nur etwas besser erreichbar wäre! In England würde es schnell verbessert, aber hier kümmert es niemand. Sobald die Leute hier Geld bekommen, werden sie meistens unausstehlich.
                      Als ich das erste Jahr hierher kam, waren zwei Dampferlinien in entgegengesetzter Richtung gut organisiert. Jetzt, nachdem man alle verkauft hat, ist es furchtbar. Gerade wenn die Männer um 7Uhr morgens gehen und abends um 5.30Uhr wieder kommen, fährt dort ein Seelenverkäufer, der kaum weiterfahren kann. Wenn Wind aufkommt, dann wird es wirklich gefährlich bei Bolderaa an der Dünamündung. Trotz aller Beschwerden will er nichts ändern und hält die schönen Boote für andere Gelegenheiten zurück. Es ist so schmutzig, daß die Herren nicht unter Deck gehen und dort ausruhen können, wie auf der "Condor" oder der "Adler". An einem Tag fuhr der Dampfer sogar eine halbe Stunde zu früh ab und ließ viele einfach zurück. Das ist die Art und Weise, wie die Leute in diesem Land ihre Wichtigkeit zeigen. Wenn man hier zurückhaltend und vorsichtig ist, glauben sie, daß man sie nicht beachten muß. Auch denken dann die Bediensteten, daß man ein Nichts ist. Man sagt hier, daß die Engländer grob und unzivilisiert sind. Laßt sie nur einmal hier sechs Monate leben, dann würden sie sich von ganzem Herzen nach englischen Manieren sehnen.
                      Ich möchte ganz genau wissen, was Ihr von Babs haltet. Berichtet es mir schnell, da ich sehnsüchtig darauf warte. Malt Florrie eigentlich noch? Ich würde so gerne von ihr ein Bild in eine Zeitung oder in Papier eingepackt zugeschickt bekommen. Was macht ihr Französisch - Korrespondent, hat sie ihn über die Zeitung kennengelernt? Wie gefällt ihr die Büroarbeit? Ich wünschte, ich könnte mit Mrs. Whittle etwas herüber kommen.
                      Um Euch zu zeigen, wie sich die Leute anstellen, um zu Geld zu kommen, gibt es Beispiele: Die Vermieterin kam eines Tages herüber und fragte mich nebenbei, wer im Obergeschoß wohnt. Dort sind zwei Wohnungen, in denen, wie wir annehmen, gute Zimmer für Bedienstete sind und sagte, daß Katta dort schläft, worüber sie schockiert war! Zur Zeit ihrer Mutter wurden diese Zimmer als Sommerwohnung vermietet! In einem Jahr wohnte dort ein Lehrer und seine Frau. Zu diesem Haus gehören zwei Hütten, die wie Hühnerställe aussehen (ich denke dort ist nur ein Raum). In einer Hütte lebt eine Dame und in der anderen ein Schauspieler mit seiner Frau.
                      Letzte Nacht amüsierte sich Katta mit zwei Igeln. Es war lustig, ihnen zuzusehen. Habt Ihr jemals welche wild lebenden Igel gesehen? Kannst Du mir - nebenbei bemerkt - sagen, wie man Käfer los wird? Unser Stadthaus ist voll von ihnen. Wir haben hier nichts, was so schlimm ist, wie Kakerlaken, Fliegen und Raupen, wohin man sieht. Ich will nicht mehr in unsere dummen, lauten Räume in der Stadt zurückgehen. Wir würden uns gerne, wenn wir könnten, ein kleines Haus mit einem Garten kaufen und einen Foxterrier dazu. Das Leben in einem Haus wie unserem ist einfach kein Leben, eher ein dahin vegetieren. Rudolf sagt, daß diese Häuser von außen wunderbar aussehen, aber innen wie Gefängnisse sind.
                      Sonnabend wollten wir eigentlich zu eine kleinen Vergnügung gehen, so daß ich Rudolf um 8Uhr am Boot traf, um nach Edinburg zum Kurhaus zu gehen. Er kam mit dem dreckigen Boot an und wollte deshalb, daß wir zu Fuß nach Bilderlingshof gehen und dann mit dem Zug oder mit der Droschke weiter. Wir haben aber den Zug verpaßt und der Fuhrmann wollte so viel, daß wir den ganzen Weg gingen. Dort saßen und aßen wir und hörten den Varieté zu, das um 1Uhr noch nicht zu Ende war. Dann gingen wir und sahen noch in den Ballsaal, tranken Kaffee und dachten dann daran, nach Hause zu gehen. Natürlich waren die Droschken um diese Zeit noch immer teurer, so daß wir beschlossen zu Fuß zu gehen und kamen um 3.30Uhr nach Hause. Zum Glück schlief Babs bis 8Uhr und Katta nahm sie dann. Ich blieb bis um 10Uhr liegen. Ich bin etwa 10 Meilen gegangen und es war furchtbar, durch den Sand, über Äste und über schlüpfrige Nadeln. Als wir um 2.30Uhr durch Bilderlingshof kamen, war dort noch immer ein Fest, es spielte eine Kapelle und die Menschen tanzten so lebhaft, wie mitten am Tag.
                      Ich muß jetzt Schluß machen. Rudolf sagt, immer, daß ich eine richtige alte Jungfer mit dem Briefe schreiben bin, aber er vergißt, daß ich Euch nicht sehen und alles erzählen kann, obwohl ich es doch so möchte. Ich kann nicht einmal die Hälfte oder ein Viertel unseres Lebens, über unsere Mitmenschen und alles andere berichten und amüsiere mich oft, wenn ich darüber nachdenke, daß ich zu Euch kommen könnte und am ersten Abend alles erzählen würde. Was würde das für eine lustige Zeit sein! Ich denke, daß Ihr auf mich anstoßen würdet und mich zum Essen nötigen würdet, obwohl ich doch so viel zu erzählen habe und weder essen noch trinken könnte, wenn Ihr mich alle auf einmal ausfragen würdet. Stimmt’s?
                      Sobald das Essen vorbei war, sind wir sofort in den Wald aufgebrochen. Jetzt sind überall Ginster-Beeren. Später kommen Strickbeeren - die sind Euch unbekannt - aus denen man Marmelade und auch saure Marmelade für Fleisch macht. Ich vermisse die ganze Marmeladenzeit, denn wenn man keine macht, bekommt man hier nirgends welche zu kaufen.
                      Mit dem Essen geht es uns hier gut. Fleischer kommen viermal in der Woche, Gemüsefrauen einmal und die Bäckersfrau jeden Tag. Man kann sicher sein, daß sie oft ausverkauft sind, wenn sie unsere Ecke erreichen. Das ist aber nebensächlich. Katta und ich sind jetzt so klug und lauern ihnen im Wald auf. Die Russen kommen täglich mit ihren Früchten und tragen solch unheimliche Mengen auf ihrem Kopf, daß man denken könnte, ihr Genick würde brechen (gerade kam einer, von dem ich Birnen gekauft habe). Sie sind immer zivilisiert, nicht so wie die Letten.
                      Danke für den Scheck. . .... (Briefende fehlt)
                      (am Blattrand steht Vergiß nicht die Rezepte gegen Käfer.
                      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                      • Frank K.
                        Erfahrener Benutzer
                        • 22.11.2009
                        • 1318

                        #41
                        Dokument 30: 12./25.08.1905 Bullen Krug

                        Liebe Jennie,
                        ich habe mich gefreut, Deine, Florries und Arthurs Briefe zu bekommen. Vielen Dank für die lieben, alten, schäbigen Gläser, die Mrs. W. zurückgebracht und ins Büro geschickt hat, so daß sie Rudolf hierher bringen konnte, da er wußte, daß ich sehnsüchtig darauf wartete. Danke für die Käferrezepte. Ich weiß aber noch nicht, ob sie wirken werden, da die meisten sehr widerstandsfähig sind und durch die meisten üblichen Mittel nicht vertrieben werden. Rudolf meint, daß die Bevölkerung sich hier nicht um sie kümmert und sie eher liebt und sie auch nicht vertreiben will. Ich freue mich, daß Du einen schönen Urlaub hattest. Wie hat es Paddy gefallen, daß Du ihn doch genommen hast? Unser armer alter Mops muß erschossen werden, wenn wir wieder nach Riga gehen, da es für uns unmöglich ist, ihn in der Stadt zu halten. Die ekelhafte Frau, die nach ihm gefragt hatte, will ihn auch nicht haben, weil sie findet, daß er zu alt ist. Wir können nicht daran denken, ihn im kommenden Winter verhungern zu lassen. Ich freue mich so, daß Dir Babs gefällt. Es ist einer meiner Sorgen, daß ich sie nicht zu Euch bringen, kann und Ihr alle sie sehen könnt. Ich habe mich immer gefragt, warum Ihr Eure Kinder nicht in Urlaub lassen wollt, aber jetzt kann ich es verstehen. Ich würde um nichts in der Welt Baby auch nur eine einzige Nacht weggehen lassen. Ihr ging es sehr schlecht, da sie Durchfall hatte (der Doktor meinte, daß es fast eine Epidemie gegeben hätte) und sie war sehr am Boden zerstört, aber ihr geht es jetzt schon wieder besser. Ihre Nahrung besteht aus Nestle (, aber deutscher Herkunft) und Milch. Zum Mittagessen ißt sie eine Schale Huhn- oder Kalbfleisch mit einem oder zwei Teelöffeln Sahne und einem Zwieback darin. Sie hat einen schwachen Magen und kann noch keine Eier essen. Dr. Becker sagt, daß es viele nicht können, bis sie zwei Jahre alt sind. Sie liebt Sahne mehr als Milch. Hier an diesem Ort ist sie jetzt allein mit Katta und mir und schläft jetzt sehr gut. Gestern schlief sie vor dem Essen 2 1/2 Stunden. Dann um 7.30Uhr wurde sie gefüttert und schlief bis 5.30Uhr morgens durch. Als ich aufstand (sie schlief noch immer), machte ich sie sauber und fütterte sie. Sie schlief dann bis 8Uhr weiter. Um 9Uhr wurde sie noch einmal gefüttert. Es ist jetzt 11Uhr. Ich ließ sie und Katta am Fluß zurück, bin nach Hause gekommen und habe wahrscheinlich den Russen verfehlt, der mir 2 Hühner bringen wollte. Zuhause mit dem Büro, der Stadtumgebung usw. schläft sie nie so gut, aber wir müssen zurück. Wir sind jetzt 8 Wochen hier gewesen und es ist für Rudolf schwer, daran denken zu müssen, daß er am Dienstag wieder zurück muß. Dann werden wir nicht mehr so viel herausgehen, da es zur Zeit sehr gefährlich ist, wo Menschen sogar am hellichten Tag auf offener Straße angegriffen und ausgeraubt werden. An einem Tag hatten wir große Angst. Als der Fleischer kam, sagte er, daß einige Unruhestifter den Bierfahrer im Wald überfallen haben und ihm gesagt hätten, sie würden in einem großen Haufen kommen und alle Häuser am Strand niederbrennen. Bald danach hörten wir an einem Tag, wie einige Damen beim Baden (in einiger Entfernung) von einigen Männern beunruhigt wurden und wir glaubten an einen ruhigen Ort zu kommen. - Aber es geschah nichts! Ich sagte Katta, daß sie, wenn sie kommen sollten, Baby in einem dicken Tuch einpacken solle, so daß wir zur Hintertür heraus zum Fluß fliehen und einen Mann finden können, der uns nach Waaren Krug, auf der anderen Seite, hinüber rudert, um auf Rudolfs Dampfer zu warten. Hier ist nur ein Polizist und einige Küstenwachen. In Bilderlingshof wurde ein Polizist erschossen, weil er einige Männer entdeckt hat, die einen Keller ausraubten. Sie sind hier so darauf aus, Leute zu erschießen und zu erstechen. Sogar hier passieren auch viele Raubüberfälle, über die ich berichten kann. Wilma, Rudolfs Schwester, die weit weg auf dem Land lebt, schrieb mir gestern und berichtete, daß Raub und Mord alltäglich sind und daß man jede Nacht den Lichtschein von Bränden sieht. Ihre ältesten zwei Mädchen, die 10 und 12 Jahre alt sind, Gerda und Valeska - die armen Kinder - werden uns nächste Woche verlassen, um nach Hause zu fahren, weil die Schule wieder anfängt. Bis jetzt hatten wir eine Gouvernante. Sie sagt, daß Gerda die ganze Zeit heult und Valeska alles nicht recht verstehen kann. Ich hoffe, daß mich Babs nie verlassen muß.
                        Es ist jetzt 3Uhr nachmittags. Baby hat jetzt geschlafen und kommt, nachdem das Mittagessen vorbei ist. Wenn ich diesen Brief fertig habe, muß ich die Knickers für Babs weiter nähen. Eigentlich wollte ich hier ihre Wintersachen fertig nähen, aber ich war sehr faul, konnte mich gut ausruhen und hatte hier eine schöne Zeit. Es war wohl die schönste Zeit, seitdem ich in dieses Land gekommen bin, obwohl ich wenig zu lesen hatte. Als ich gestern nähte, kam Rudolf etwa 1 1/2 Stunden vor der üblichen Zeit mit einem Korb voll schöner Kuchen herein, dann machte ich Kaffee und wir hatten einen schönen Feiertag. Er kam mit dem Zug nach Bilderlingshof und mußte dann eine Stunde durch den Wald gehen. Mich erwartet zu Hause eine nette Überraschung: eine Eichengarderobe mit einem Spiegel über die volle Länge in der Mitte. Soll ich dabei nicht stolz sein! Ich möchte sie gerne sehen, aber wir werden so voll sein, daß bald keinen Platz mehr haben werden. Unsere Betten, der Waschtisch und die Nachttische sind alle aus Eiche, so wie auch unsere Eßzimmer Möbel und die Garderobe, die in diesem Zimmer steht, weil sonst nirgends Platz dafür ist. Die nette alte schottische Dame, die Riga vor einem Jahr im Mai verlassen hat, hat mir dieses Jahr so eine schöne weiße Kinderschürze über einen Kapitän für Baby als Geburtstagsgeschenk geschickt. Ist es nicht nett von ihr, da sie Baby noch nicht gesehen hat und mich vorher auch nur einige Monate kannte. Ich möchte gerne wissen, ob Du Mrs. W. getroffen hast, aber ich fürchte, daß sie gekommen ist, als Du fort warst, oder sie hatte überhaupt keine Zeit zu kommen.
                        Gestern hatten wir ein großes Essen mit Fischsuppe, gebackenem Fisch und Manna. Heute habe ich mich zu Pfannkuchen entschlossen. Der Fleischer (eine Frau) war letzte Woche so grob zu mir und wollte mir nicht das abschneiden, was ich wollte. Daher werde ich von ihr diese Woche nichts kaufen. Die Streiks waren in Riga schlimm. Die Fleischer haben jemandem mit einer Axt getötet und einen anderen schwer verletzt, weil sie sich weigerten, ihre Geschäfte zu schließen. Dann streikten die Bäcker. In all diesen Fällen haben die Streikenden Petroleum über das ganze Brot, Fleisch, den Fisch usw. gegossen, so daß man es nicht mehr verkaufen konnte. Sie sind darin so ekelhaft!
                        In einer großen Firma hier haben alle Männer ein großes Brett, das mit großen Nägeln gespickt war, mitgebracht und es auf die Straße, wo sie waren, gelegt, damit sie machen konnten, was sie wollten. Und wenn die Kosaken kommen, würden ihre Pferde verletzt würden. Einer der Offiziere aber sah es und brachte vier Kanonen für alle Fälle in Stellung. Wir leben hier doch wohl in einem ehrenvollen Land?
                        Ich denke nicht, daß wir hier noch einen Sommer verbringen werden, da es zu schwierig ist, dort hinzugelangen und Rudolf an einen Ort mit mehr Leben will, an dem es Abendkonzerte usw. gibt. Die Ruhe ist gerade das Richtige für das Baby. Sie hat Musik und Spaß sehr gerne, kann aber danach nicht schlafen. Wenn man zu ihr das Wort "Musik" sagt, bewegt sie ihren kleinen Arm sofort auf und ab, als wollte sie ein Orchester dirigieren. Sie sitzt auf Kattas Knien, ißt gerade ein Bisquit und beobachtet mich, während ihr Essen gewärmt wird. Dann, wenn sie getrunken hat ist sie für ein "Ta-Ta" weg. Sie wird dann draußen sein, da sie draußen das beste Baby der Welt ist. Im Haus ist sie nur winzig und will jedes Tier, vom kleinsten Kücken bis zum größten Pferd oder zur größten Kuh, anfassen, das sie sieht. Katta hat ihr eine Lumpenpuppe gemacht, die sie mit sich herumziehen kann, wie sie will. Da ihr Geburtstag ist, habe ich ihr einen großen rot und blauen Gummiball gekauft, der so groß wie ihr Kopf ist und von ihr über alles geliebt wird.
                        Ihr würdet alle zusammen viel Spaß in N.B. haben. Als ich 15 oder 16 war, war ich dort mit den Eltern drei oder vier Tage lang in einem Hotel. Ich dachte damals, daß es ein schöner Platz ist. Dort waren so viele nette Bäume. Wir haben in einer Nacht einen Igel in der Küche gehabt und Katta meinte, daß dort eine Maus war. Er machte dort solch einen Krach als er versuchte, herauszukommen, daß wir nachsehen mußten. Wir konnten ihn aber nicht fassen, da er sich hinter der Plite zu einer Kugel zusammengerollt hatte. Dann gingen wir aus der Küche, ließen die Tür offen und zogen uns ins Schlafzimmer zurück. Etwas später hörten wir ihn die Treppenstufen vor der Veranda herunterkugeln, so daß wir zuschließen konnten und danach sofort einschliefen. An einem Nachmittag kam das liebste aller kleinen, und spazierte mit herum. Wenn sie aber alt genug sind, gehen sie nur nachts herum. Ich bin so traurig, daß das Landleben jetzt vorbei ist. Liebe Grüße an alle ... Deine Lily
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                        • Frank K.
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                          • 22.11.2009
                          • 1318

                          #42
                          Dokument 32; Montag 11Uhr vormittags (Spätsommer 1905)
                          So weit ist es jetzt ruhig. Der Bürgermeister erließ gestern Proklamationen, in der er dazu aufrief, die Ordnung einzuhalten und die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber diese Sozialisten entrissen sie alle den Verteilern und zerrissen sie. Wir gingen am Nachmittag zu Familie Schultz (ganz in der Nähe) und hörten dort, daß befohlen wurde, die Arbeit heute wieder überall aufzunehmen. Wenn aber die Aufrührer eingreifen, haben die Soldaten den Befehl zu schießen. Heute fahren die Straßenbahnen wieder und die Geschäfte sind geöffnet. Ich muß schnell in ein Geschäft in unserer Nähe eilen, um für Babs ein Paar Schuhe zu kaufen. Ihre Schuhe sind unansehnlich und ihre Hausschuhe sind zu kalt auf unseren zugigen Fußböden.
                          Ich höre von so vielen schrecklichen Dingen und bin so dankbar, daß ich sagen kann, daß ich bis jetzt noch nichts ansehen mußte. Ich nehme an, daß der Zensor unsere gesamten Zeitungen zurückhält. Hier hat man seit langer Zeit keine englischen Zeitungen gesehen. Wir wissen nicht, was geschieht und Rudolf sagt, daß die Freiheit der Presse die ausländischen Zeitungen nicht betrifft. Jemand war gerade da und sagte, daß Irepeff in Petersburg 10.000 Menschen erschossen hat und Hinland geflohen ist, aber man kann solche Übergriffe nicht glauben.
                          Ich habe so schreckliche Angst um das Baby. Heute sind zwei englische Damen heimgekommen. Eine hat diesen Sommer ihr erstes Baby verloren, die andere hat ein Mädchen und ihren Jungen in der ersten Woche verloren, nachdem sie nach Riga gekommen war. Es ist jetzt Mittagszeit und wir haben noch keine Post bekommen. Mrs. Wood (die Schwester von Alice) hat Baby ein kleines in Leinen gebundenes Buch geschickt, das sie sehr liebt. Ich hätte nicht gedacht, daß sie sich schon für ein solches Buch interessiert!
                          Liebe Grüße von uns beiden - Lily -
                          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                          • Frank K.
                            Erfahrener Benutzer
                            • 22.11.2009
                            • 1318

                            #43
                            Dokument 33: Riga, Montag, September/Oktober 1905

                            Meine liebe Jennie,
                            ich habe mich gestern so über Deinen Brief gefreut. Es hat den ganzen Tag von morgens bis abends so gegossen, daß keiner von uns herausgehen konnte. Als Rudolf um 6Uhr abends zur Post ging, brachte er Deinen Brief mit. Baby ist zur Zeit wirklich so schön und es geht ihr so gut, daß ich mir so wünsche, daß Ihr sie jetzt sehen könntet. Ich sage das immer und denke, daß Rudolf schon gelangweilt sein muß, wenn er mich das wieder sagen hört. Ich habe sie vor zwei Wochen zu Dr. Becker gebracht. Er untersuchte sie und meinte, daß sie zur Zeit recht gesund sei. Der Pastor und seine Frau kamen heute vorbei und waren erstaunt, wie groß sie schon ist. Sie ist so ein Liebling, hält mich aber bis 2.30Uhr morgens wach. Sie schrie nicht, aber war sehr lebhaft und unruhig. Mir wurde so kalt, daß ich sie mit ins Bett nahm und sie zwischen uns legte (unsere Betten sind eng zusammengestellt). Das gefiel ihr sehr sie drehte sich zu Rudolf um und rief "A-ah! Pappy!" und wollte spielen. Das ging etwa ein Dutzendmal so.
                            Rudolf ist nach Mitau gegangen und wird nicht vor 1Uhr morgens heimkommen. Dort war er auch letzten Sonnabend und ich habe gerade eben bemerkt, daß er wieder seine Schlüssel vergessen hat. Ich werde wahrscheinlich bei Baby aufbleiben, da sie normalerweise gegen 1Uhr aufwacht.
                            Das neueste alarmierendste Geschehen in Riga sind die vielen Brände. So viele Häuser werden mutwillig angezündet (meistens auf dem Dachboden). Die Aufrührer haben schon lange angedroht, die Stadt anzuzünden und es sieht so aus, als ob sie es jetzt versuchen. Es wurden einige Männer gefangengenommen. In einem Fall wurde entdeckt, daß ein Diener es selbst getan hatte. Diese Männer hatten ihm dafür 25 Rubel gegeben. Man kann sehen, daß man hier niemandem trauen kann! Der Milchmann hat Katta am Sonnabend erzählt, daß er einige Männer auf der Straße sagen hörte, sie wollten unser Haus anzünden. Katta war deshalb sehr aufgeregt, aber wir sind durch so viele Schrecken schon soweit abgestumpft, daß wir dem nicht viel Glauben schenken. Wir sind ein ganzes Stück vom Dachboden weg und haben eine Steintreppe (das Haus, in dem Rudolf vorher wohnte, hat mich erschreckt. Es hatte ein enges Holztreppenhaus. Ich war so dankbar darüber, dort heraus zu kommen). Die arme Mrs. Schultz hatte letzten Montag einen Brand. Ihr Dachboden wurde an drei Stellen angezündet. Es verbrannten nicht viel von ihren Sachen, aber sie leben direkt unter dem Dachboden (im 4. Stockwerk). Was noch schlimmer ist: das Wasser kam durch die Decke! Der Vermieter kann es nicht reparieren, bis die Versicherungsgesellschaft die Zerstörung gesehen hat. Das ganze Dach ist weg. Gestern hat es den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch gegossen, so daß alles überflutet wurde. Sie kam heute zu mir, um meine Maschine eine Stunde lang zu benutzen, da sie keine hat und erzählte mir alles genauestes.
                            Jetzt ist es nach 10Uhr. Ich gebe Babs eine Flasche und gehe dann ins Bett. Katta wäscht noch, da es diesen Morgen so herrlich war, daß sie mit Baby 3 Stunden draußen war. Baby regt sich über alles auf, aber ich hoffe, daß sie, wenn alles gut geht, nächstes Jahr draußen hinter mir her trotten wird, so daß die Arbeit denn besser vorangehen wird. Wenn sie nur schon allein laufen könnte! Sie kann mit aufstehen, wenn ihr geholfen wird und liebt es zu gehen und zu rennen. Sie ist so ein glückliches Baby, so wie es auch Vera war.
                            Dienstag 6Uhr abends: Ich bekam gestern abend einen langen Brief von Edie. Es schien ihnen allen gut zu gehen, als Sallie letztes Mal schrieb, was aber schon lange her ist. Sie schrieb, daß Bertie im Frühjahr heiraten will und ich hoffe, daß sie glücklich wird. Ich denke es, da ich Oss sehr gern habe. Ich bin sehr enttäuscht, daß Nellie nicht Stanley Collinson genommen hat, aber ich wollte es ihr nicht schreiben. Ich habe es nicht bemerkt, wie alle Eure Mädchen erwachsen geworden sind, da es doch noch nicht so lange zurück erscheint, daß sie Kinder waren. Wir waren heute Nachmittag mit Katta und dem Baby bei Mrs. Whittle, aber sie war nicht zu Hause, so daß wir umsonst hingefahren sind. Anschließend gingen wir wegen Babys Zwieback zum Bäcker und dann wieder nach Hause.
                            Jetzt regnet es wieder und das Wetter ist gräßlich. Wir haben die Sonne seit fast einem Monat nicht mehr gesehen, wodurch es mir so schlecht geht. Alle Bäume am Stadt Kanal, in den Anlagen und in den Parks sind einfach herrlich, und die Farben sind fast schöner als im Frühling. Dir würde der Anblick gefallen. Ich bin sicher, daß Dir auch der Markt gefallen würde, auch wenn es zur Zeit sehr unangenehm ist. Ich denke, daß Du in Deinem ganzen Leben noch nie so viel Fleisch gesehen hast, wie wir es hier in dieser Jahreszeit haben. Ich selbst habe so etwas auch noch nie gesehen, wenn man es mit englischen Verhältnissen vergleicht. Gestern wollte ich Steaks kaufen (sie werden hier in große Klumpen mit den Knochen drin geschnitten, daß man das Endstück für Suppe verwenden kann) und ging an den Ständen vorbei und kritisierte alle Fleischer, die ihr Fleisch priesen. Auf einmal sah ich ein Stück und fragte nach dem Preis: 14 Kopeken (3 1/2P), (er glaubte, daß ich nichts davon verstehe) und ich sagte einfach: "Viel zu teuer!" und ging weiter. Dann rief er „13". Ich nahm es nicht zur Kenntnis und er sagte dann : "Kommen Sie bitte zurück und sagen was sie geben wollen, „12?" Also bekam ich 5 Pfund für 60 Kopeken. Heute habe ich für Baby ein kleines Huhn und noch ein Huhn für zusammen 30 Kopeken bekommen. Die anderen Dinge sind furchtbar teuer. Ihre Nahrung (wie Nestles Essen) kostet etwa 1,30 Rubel in einer kleinen Büchse. Jede Kerze kostet 1 1/2Pence und 26 Kopeken je 5 Stück (zusammen 1 Pfund). Zucker kostet 3 1/4 je Pfund und Stückzucker ist noch teurer.
                            Kannst Du Arthur fragen, wenn mein nächster Scheck kommt, ob er mir die aufgelisteten Sachen für ein Jahr bestellen kann. Schickt ihnen einfach meine Anschrift und mein Postfach an ihre Abschrift. Ich denke daß es 2/9 kostet. Es wir Zeit für das Bad von Baby. Ich hoffe, daß sie wieder so gut wie letzte Nacht schlafen wird. Ich gab ihr nach 10Uhr ihre Flasche und sie schlief bis 7.30Uhr durch. Ich habe nicht einmal gehört, wie Rudolf um 1Uhr geklingelt hat und Katta ihn hereinließ. Er brachte mir eine nette Kiste mit Konfekt mit. Ich würde sie gerne teilen! Wann hast Du die Bilder machen lassen?
                            Liebe Grüße an alle. Deine Lily.
                            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

                            Kommentar

                            • Frank K.
                              Erfahrener Benutzer
                              • 22.11.2009
                              • 1318

                              #44
                              Dokument 34: Riga, Montag (etwa 12.10.1905)
                              Meine liebe Florrie,
                              Dein Brief und Vaters Brief, sowie der Scheck kamen hier zusammen etwa vor 2 Stunden an. Danke für alles. Du denkst, daß ich schrecklich schnell mit dem Beantworten der Briefe bin, aber ich fange einfach jetzt schon an und weiß nicht, wann ich fertig werde. Baby ist gebadet und ins Bett gebracht. Ich warte gerade im Büro, bis Rudolf seine Briefe fertig geschrieben hat, die dann das Fräulein zur Post bringt. Danach werden wir Essen gehen. Bevor ich es vergesse: Meine Liebe, verwende bitte nicht so dickes Papier zum Schreiben, wenn Du auch dünneres hast. Dieser Brief hatte zuviel Gewicht! Ich habe vor kurzer Zeit Onkel Rudolf von den schönen Märchen von Grimm erzählt, die Vater mir gegeben hat. Ich weiß nicht mehr, wo sie jetzt sind. Ich habe auch ein uraltes Buch von Andersen, das mir Großvater zu meinem 10. Geburtstag gegeben hat. Frag Vater, ob er sich dran erinnert. Es hat einen grünen Rücken. Ich meinte natürlich das Buch "Owl & the Pussy Cat". Ich denke es hat damals 6/- gekostet, wird aber jetzt billiger sein. Ist es nicht auch nett?
                              Rudolf hatte eine schreckliche Erkältung, die ich jetzt bekommen habe. Ich hielt 10 Tage durch, bekam sie aber jetzt, wo es ihm wieder besser geht. Gestern nach dem Essen, an Kattas freiem Tag, fuhren wir hinüber zum Park nach Thorensberg. Es ist eine schöne Fahrt über die Düna auf der Ponton Brücke. Es war ein herrlicher Nachmittag! Baby hält eine Droschke für das Allerschönste und strahlt jeden an. Ich bin sicher, daß Du Dich über sie freuen würdest, weil sie so viel Spaß hat und alles nachmacht, was wir machen, aber sie kann noch immer nicht allein gehen. Ich werde glücklich sein, wenn sie es endlich kann. Jetzt ist es noch schwer, weil sie schon aus ihrem Stuhl heraus will und wir sie nicht herum krabbeln lassen, außer auf den Betten, weil diese Fußboden, auf denen keine Teppiche liegen, so zugig sind. Ich haben jetzt Reitstunden und gehe zweimal in der Woche. Das ist, wonach ich mich mein ganzes Leben gesehnt habe. Onkel Rudolf geht auch mit mir mit, aber reitet noch nicht. Es wäre für ihn zu langweilig, bis ich es richtig kann. Onkel Rudolf ritt auch auf einem solchen großen grauen Pferd wie ich. Es heißt Malchik (der russische Name für "Junge"). Sobald man absteigt, kommt er und schmeichelt einem, um liebkost zu werden und bettelt nach Brot und Zucker. Es ist so ein nettes altes, aber nervöses Pferd. Ich denke, daß er am ersten Tag von einer zerbrochenen Scheibe erschreckt war, die jemand mit einem in Papier gewickelten Stein eingeworfen hatte. Als ich abgestiegen war, nahm ihn der Junge dorthin und ließ ihn daran riechen und es untersuchen. Das nächste Mal machte er ohne Grund einen kleinen Tanz. Wenn ich ihn im Griff habe, wird es mir nichts ausmachen. Aber jetzt frage ich mich, was er als Nächstes machen wird. Er versteht die Rufe seines Herrn viel schneller als ich und befolgt seine Befehle ohne große Hilfe durch mich.
                              Vor einigen Tagen haben wir vom Tod von Irving gelesen. Ich fühlte fast so mit, als wenn jemand, den ich kenne, gestorben wäre, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe.
                              Dienstag, 12Uhr: Baby schläft jetzt. Ich war schon auf dem Markt und habe Rindfleisch, Butter, Käse, Äpfel und Fisch gekauft. Jetzt brät das Fleisch und der Yorkshire Pudding ist im Backofen. Katta ist fleißig und wischt im Schlafzimmer usw. Staub, daß wir dann mit Babs herausgehen können, wenn sie aufwacht. Heute ist ein herrlicher Tag. Ich will das Mittagessen früh fertig haben und danach Frau von Stürmer, die Pastorsfrau, anrufen. Sie kamen vor kurzer Zeit und meinten, daß ich nie kommen würde, aber es ist für mich so unbequem, viel auszugehen. Man muß Mrs. von S. vor 4Uhr anrufen, weil sie danach telephoniert. Bei ihr gibt es den schönsten Tee und das beste Brot mit Butter, das sich jemals versucht habe (ihre Bedienung backt jeden Tag) und hat so schönes chinesisches Geschirr. Sie ist solch eine nette alte Dame und Mr. von S. ist so lebhaft, wie ein junger Mann, obwohl er schon 72 Jahre alt ist. Manchmal essen wir so spät zu Mittag, weil dann jemand wegen einem Geschäft hereinkommt, wenn gerade das Essen auf dem Tisch steht. Wenn es ein Jude ist, dann weiß er nicht, wann er zu gehen hat.
                              Ich habe Mrs. Schultz gestern gebeten, mit dem Kind und der Bedienung zum Tee zu kommen, weil es jetzt für Babs zu kalt ist, so viele Stunden draußen zu sein. Sie kam schließlich um 4Uhr allein vorbei, da das Baby eingeschlafen war. Sie hatte ihrer Bedienung gesagt, daß sie nachkommen sollten, wenn das Baby aufwacht, aber es schlief wohl sehr lange, weil sie nicht kamen und Mrs. S. um 6.30Uhr wieder ging. Sie hat uns diesen Sonntag zum Kaffee eingeladen und darum gebeten, das Baby mitzunehmen. Es ist Kattas freier Sonntag und auch der freie Sonntag von ihrem Mädchen, so daß ich denke, daß wir es zusammen mit unseren Babys schön haben werden, auch wenn ihres schon gehen kann. Ihre Brüder und ihre Schwester werden auch da sein. Ich weiß jetzt schon, daß Babs bei so vielen Fremden schreien wird. Mrs. S. spricht kein englisch, aber ich denke, daß sie eine nette Frau ist. Nächsten Sommer kommt sie für zwei Monate nach London. Mr. S. muß dorthin geschäftlich und wird sie mitnehmen. Natürlich wird es ihm bezahlt. Er ist hier bei einer Buchhandlung und Druckerei.
                              Denkt von Euch Mädchen keine daran, weiter auf die Schule zu gehen, wie es Edie gemacht hat? Ich bin sicher, daß es sich in Newton bezahlt machen würde. Eine von Euch sollte hierher kommen und im Kindergarten (Fröbel-System) lernen, wo fast alle Kinder zuerst hingehen. Es gibt hier so viele Kindergärten. Dann kannst Du zurückgehen und wirst sehr gefragt sein. Lernt eine von Euch deutsch? Ich bin sicher, daß es einfacher ist als französisch. Dort ist die Aussprache so schrecklich!
                              Das von Vaters Bild hört sich gut an, aber ich kann nicht verstehen, warum er die Drucke verachtet, da sie doch so herrlich sind. Alice hat mir ein schönes Aquarellbild zum Geburtstag geschickt, auf dem ein großer Fels mit Möwen ist, die dort herumfliegen und herrlicher Seegang auf der unteren Seite. Wir lassen es jetzt rahmen.
                              Baby ist sehr lustig. Ich denke, daß sie jetzt groß genug ist, um Kinderkleider zu tragen. Ich mache ihr gerade einige. Gestern habe ich ihr eines angezogen und sie bewunderte es sehr. Sie sah es an, strich es glatt und bemerkte dann, daß man schön damit "Peep" spielen kann. Sie schlief gestern nach dem Bad von 7.30Uhr bis heute früh 8.30Uhr (ich habe sie noch einmal um 10Uhr gefüttert, aber sie wachte nicht auf). Ich hatte eine ruhige Nacht und war froh, weil mich meine Erkältung doch sehr ermüdete.
                              Mittwoch 12.Uhr: Gestern, als ich Dir gerade um 1Uhr mitten am Tag geschrieben habe, wurde ein armer Mann nahe bei uns mitten in der Stadt erschossen. Und wie immer: die Männer entkamen. Es kamen plötzlich 4 oder 5 gut angezogene Männer, als er zur Bank fuhr, schossen auf die Droschke, erschossen ihn und verletzten das Pferd und den Fahrer. Sie entkamen mit 26.000 Rubeln. Sonntag nachmittag hielt ein Polizist eine Droschke mit sechs Männern in Hagensberg an, weil 4 der Männer darin so rüpelhaft waren. Sie erschossen ihn und entkamen natürlich. Er sollte in 2 Wochen heiraten. Montag Abend um 7Uhr wurden drei und um 9Uhr ein Schnapsgeschäft in unserer Nähe ausgeraubt. Im einen wurde ein Mann getötet. Ich hörte auch von Miss von S., daß Mr. und Mrs. Whittle am Sonntag abend dasaßen und lasen, als bei ihnen zwei große Steine durch ihr Wohnzimmerfenster geworfen wurden (sie haben eine Wohnung parterre). Sie ist jetzt so durcheinander, daß sie sich in kein Zimmer traut, das zur Straße liegt und sich jetzt noch nur im Zimmer zum Hinterhof aufhält.
                              Die Bande, die Häuser angezündet hat, wurde gefangen, verprügelt und für 20 Jahre nach Sibirien geschickt. Das ist eine härtere Strafe, als sie für einen Mord bekommen. Es ist ein verrücktes Land, das um nichts in der Welt angenehm ist.
                              Es hat die ganze Nacht hindurch geschneit und schneit noch immer. Ich muß am Nachmittag zum Reiten nach Hagensberg. Auf Wiedersehen und Grüße an alle. Babs ist gerade aufgewacht. Sie hat mich letzte Nacht von 1-3Uhr wachgehalten, nachdem sie schon von 10-12Uhr nicht schlafen konnte, weil die Leute über uns solch einen Krach machten. Bist Du noch bei Vulcan? Ich denke, daß der Dezember auch vorübergehen wird. Mach Dir nichts daraus. Deine liebe Tante Lily.
                              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                              • Frank K.
                                Erfahrener Benutzer
                                • 22.11.2009
                                • 1318

                                #45
                                Dokument 35: Riga, 22.10./04.11.1905

                                Lieber Arthur,
                                ich nehme an, daß alle englischen Zeitungen über "The Freedom of Russia" - die Freiheit in Rußland - jubeln werden. Ich weiß nicht, aber ich habe im Guardian von gestern vor einer Woche, der gestern mit dem Dampfer am Mittwoch oder Donnerstag gekommen ist, davon gelesen. Sie sollen hier jetzt "freie" Menschen sein, wo doch keine Züge fahren, sie selbst nicht arbeiten und sie es auch anderen nicht erlauben, die arbeiten wollen. Sie gehen sogar herum und erzwingen sich Zugang zu Privathäusern und zwingen die Bediensteten, mit zu ihren Treffen zu gehen. Wir haben sie gestern gesehen, als wir im Hotel waren. Einige Kosaken und Dragoner ritten vorbei und nahmen von nichts Notiz, aber ich nehme an, sie konnten es nicht, um nicht in Unruhen verwickelt zu werden. Katta fürchtet, daß sie auch hierher kommen werden. Wir haben ihr erlaubt, daß sie zu den Treffen gehen kann, aber sie will nicht. Das Fräulein im Büro war sofort weg. Alle Geschäfte sind geschlossen und keine Wagen und Züge fahren. Rudolf sagt, daß man nur lettisch auf den Straßen hört und jeder zu einem Treffen eilt. Sie haben jetzt das Theater gewaltsam besetzt und versuchen ihr bestes, um deutsche Zeitungen daran zu hindern, zu erscheinen.
                                Rudolf mußte unsere Zeitung in seiner Tasche verstecken, als er gestern nachts durch die Straßen ging, um zu verhindern, daß sie sie ihm wegnehmen. Sie fordern, daß die Kosaken, die Soldaten und die Polizisten abgezogen werden und der jetzige Bürgermeister und der Rat entlassen werden (damit sie Letten haben können). Eine Abordnung ging und forderte, allein zum Bürgermeister vorgelassen zu werden. Er sagte, daß er sie nacheinander zu dritt empfangen würde, wenn sie ihm zeigen würden, daß sie unbewaffnet sind, was sie aber ablehnten. Daher hat er sie nicht empfangen. Jeder denkt jetzt, daß es in einem Aufstand und einem Massaker enden wird. Ich denke, es ist schade, daß man ihnen allen die Oberhand ließ. Natürlich ist der Gouverneur jetzt in einer ekelhaften Lage. Wir trösten uns damit, daß wir denken, daß sie nicht alle auf einmal umbringen können und wir nahe beim Hafen sind. Wenn wir aber umgebracht werden, mußt Du versuchen unter allen Umständen Baby zu finden. Ich nehme an, daß Katta sie nicht verlassen wird. Sie wird wahrscheinlich mit ihr nach Assern flüchten, wo ihr Vater in Schlonck lebt und bei ihren Brüdern sein wird. Ich würde am liebsten mit allen zusammen hier heraus sein. Es macht mich doch so nervös, da es das letzte Mal das ganze Jahr hindurch andauerte.
                                Hast Du von dem armen Mann gelesen, den sie in der Mittagszeit letzte Woche in der Nähe von uns erschossen haben, als er zur Bank fuhr und sie ihm 35.000 Rubel gestohlen haben? Sie schickten dem Fahrer 150 Rubel. Sie schossen ihm in seinen linken Arm und erschossen auch noch sein Pferd. Sie gingen auch in Libau mit Revolvern in eine Bank und nahmen mitten am Tag einige tausend Rubel mit. Letzten Sonnabend töteten sie wieder einen Offizier, der nach Hause fuhr, weil er nicht aus seiner Droschke aussteigen wollte. Der arme Kerl wurde im Wagen verletzt. Als er herauskam und versuchte, zu einem Apotheker zu gehen, warfen sie ihn zu Boden, schossen fünfmal auf ihn, raubten ihn aus und brachen ihm noch seine rechte Hand, bevor er starb.
                                Am Sonntag war bei der Beerdigung eine große Menschenmenge. Rudolf sagt, daß sie ihn zuerst umbringen und dann alle zusammenkommen, um zu sehen, wie er begraben wird. Mr. Bergfried fragte (Bergfrieds kamen gestern abend zum Essen): "Warum mußte er sterben? Nur weil er in einer Droschke fuhr?" Bergfrieds kamen gerade, als wir angefangen hatten, die Zeitung zu lesen, die Rudolf in Sicherheit gebracht hatte. Das Herz stand mir still, als sie klingelten. Ich dachte, daß es die Aufrührer wären, war aber froh, daß es nicht so war. Es ist eine Wohltat, sich heutzutage mit jemandem unterhalten zu können!
                                Am Sonntag wurden auch einige Leute erschossen. Auf einen Offizier (in der nächsten Straße von uns) schossen sie acht mal aber trafen nicht ihn, sondern einen Passanten. Ich nehme an, daß sie zufrieden waren, überhaupt jemanden getroffen zu haben. Wenn man alles zusammen sieht, ist es eher Anarchie als Freiheit!
                                Sonntag 11Uhr vormittags: Ich mache den Brief jetzt fertig und bringe ihn zur Post, weiß aber nicht, wann Du ihn bekommen wirst (wenn überhaupt). Sie haben wieder alle Züge stillgelegt und wir bekommen weder Briefe, noch Zeitungen. Rudolf bekam gestern einige 10 oder 12 Tage alte. Eine brachte ihm gestern ein Kapitän. Man sagt, daß sie morgen zu kämpfen beginnen wollen. Seit gestern ist Babys Milchgeschäft geschlossen. Die Leute gingen hinein und zwangen sie dazu. Es gehört einem Baron Engelhardtshof. Sie besitzen ein großes Unternehmen, haben überall Niederlassungen, halten ihre eigenen Kühe und machen alles selbst. Sogar die Milch wird von Ärzten untersucht und in versiegelten Flaschen für 15 Kopeken je Liter verkauft (Das ist hier in diesem dreckigen Land ein großer Vorteil). Seitdem die Unruhen begannen für 25 K. Wir können nur annehmen, daß diese Sozialisten den Preis nicht noch höher treiben, da der normale Preis 10 K. für einen Stof ist. Ein russischer Stof sind 1 1/2 Liter. Man bekommt jetzt sehr wenig Milch, wenn keine Züge fahren, die sie bringen können. Ich möchte nur wissen, wie das mit den Kämpfen noch weitergehen soll!
                                Ich habe jetzt gelesen, daß sie gestern in Baku in ein Haus eingebrochen sind und das Baby aus dem Fenster geworfen haben. In diesem Augenblick dachte ich, ich müßte diese Idioten in gutem, treffenden Englisch sagen, was ich von ihnen halte. Am nächsten Tag hörten wir, daß sie in der Stadt in ein Geschäft gekommen sind und forderten, daß es geschlossen wird. Der Besitzer sagte "Nein!" Sie wollten nichts kaufen und wurden aufdringlich. Daraufhin zog er seinen Revolver heraus und sagte: "Jetzt werde ich Euch zeigen, wie ein Deutscher schießt!" und erschoß einen. Danach hörten wir, daß es nur ein "leerer" Schuß war (das tut mir schrecklich leid!) und sie auf einem ihrer nächsten Treffen beschlossen, ihn umzubringen.
                                Mir ist es gelungen für Baby einen Liter Milch für 20 K. hier von einem Arzt zu bekommen, der auch Milch für Kinder hat. Unsere Milch, die wir heute bekommen haben, war sauer. Was die Dinge noch viel schlimmer macht, ist, daß das Wetter schrecklich düster ist. Ich weiß nicht, wann die Sonne wieder scheinen wird. Wenn nur die Hälfte als Regen herunterkommen würde, wäre es das Beste, was uns passieren kann und ihre Hitze etwas abkühlen!
                                Die Treffen werden meistens auf dem Griesenberg, einem Hügel außerhalb der Stadt abgehalten. Das Fräulein hat Katta erzählt, daß dort auch ein Platz für Schulkinder ist, die auch eine rote Fahne haben und wo auch Kinder sprechen. Eine Sache, die sie sagen, ist, daß sie ihren Katechismus nicht lernen wollen. An einer (lettischen) Schule auf der anderen Flußseite brachen alle Kinder (20 und 23 Jahre alt) aus, gingen zu den anderen Kindern und forderten sie auf, auch heraus zu kommen, Steine zu werfen und gegen ihre Lehrer grausame Schwüre auszusprechen. Schließlich gingen sie zu einer Mädchenschule, die auch dort am Hof angeschlossen ist. Dort zeigte ihnen jemand einen Besenstiel, und einen Eimer Wasser, worauf sie abzogen. Was kann man aber in der Zukunft von den Kindern erwarten, die sich so benehmen!
                                Mrs. Priestley ist so nervös und krank. Sie sagt, daß sie froh wäre, wenn sie hier weg könnte und nur ihre Kleider, die sie an hat, mitnehmen könnte. Aber was kann man machen! Man kann nicht sein Haus, sein Eigentum, sein Geschäft und alles andere der Gnade dieser Scheusale überlassen. Wenn sie in England, dem "Land der Freiheit" wären, würden sie lernen, sich ordentlich zu benehmen. Hier ist die Bestrafung für einen Mord ein kurzer Gefängnisaufenthalt und die Gefangenen scheinen eine lustige Zeit, im Vergleich zu englischen Gefängnissen, zu haben. Ich habe solche Angst und weiß nicht, ob Du jemals diesen Brief bekommen wirst. Liebe Grüße an alle. Tante Lily.
                                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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