Tagebuch eines Schiffsmissionars (im Herbst 1871 auf dem Segelschiff "Electrik" nach New York)

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  • Wolfg. G. Fischer
    Erfahrener Benutzer
    • 18.06.2007
    • 4918

    #61
    Sonntag, 29. Okt. 1871

    Tagebuch:

    Nachdem die Lebensmittel verteilt waren, ging ich ins Zwischendeck, um anzuzeigen, dass um 10 Uhr auf dem Verdeck Gottesdienst sein werde. Zur angesetzten Stunde begann derselbe.

    Heute waren viel mehr Passagiere gekommen, zu meiner Verwunderung sogar einige der Mädchen.

    Als ich mit Gebete geschlossen hatte, blieben viele stehen. Da erfuhr ich, dass sie erwartet hatten, ich würde kürzlich geborene Kinder taufen.

    Nachmittags las ich den Leuten im Hospital den Teil einer Predigt vor. Einige Mädchen versuchten durch Springen auf dem Halbdeck, uns zu stören. Der Steuermann brachte sie zur Ruhe.

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    • Wolfg. G. Fischer
      Erfahrener Benutzer
      • 18.06.2007
      • 4918

      #62
      30. Okt. 1871

      Tagebuch:

      Diese Nacht ist plötzlich ein Kind gestorben, es war kaum einen Tag krank und wurde gleich über Bord gesetzt.

      Im Zwischendeck herrschte wieder viel Streit und Zank. Der Kapitän hat zwei Männern den Auftrag gegeben, auf Ordnung zu sehen, bei der Ausgabe des Essens zugegen zu sein, auch Beschwerden der Leute entgegenzunehmen, und dann diese dem Kapitän anzuzeigen.

      Heute hatte sich eine Frau geweigert, ferner vor ihrem Bett den Schmutz wegzufegen. Als ihr der Mann dann sagte, er würde das dem Kapitän melden, hatte sie gedroht, nächstens, wenn sie Essen hole, ihm die Schüssel vor die Füße zu werfen. Ein anderer Auswanderer hat erklärt, er wolle dem Kapitän zehn Taler geben, wenn er seine Aufseher heimlich verschwinden ließe.

      Da sich die Leute immer heftiger zankten und der Steuermann sie nicht trennen konnte, ging der Kapitän hinab und sagte, er werde sofort einige in Eisen legen, wenn sie nicht auf der Stelle auseinander gingen. Das half.

      Von heute an soll jeden Morgen das Zwischendeck ausgeräuchert werden, damit keine Krankheit ausbreche.

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      • renatehelene
        • 16.01.2010
        • 1983

        #63
        Hallo,

        ach bin ich froh, daß ich nicht "auf" diesem Schiff war oder gab's da auch
        "erste Klasse Kajüten"

        LG Renate

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        • Wolfg. G. Fischer
          Erfahrener Benutzer
          • 18.06.2007
          • 4918

          #64
          31. Okt. 1871

          Hallo Renate,

          wobei ich durchaus den Eindruck habe, dass dies noch eine der besseren Segelschiffpassagen war.

          LG Wolfgang




          Tagebuch:

          Den Kranken geht es besser, mit Ausnahme der Wöchnerin waren alle eine Stunde auf dem Verdeck. Die Fürsorge für die Kranken von Seiten des Kapitäns wird von allen Leuten an Bord dankbar anerkannt. Stundenlang steht er im Hospital und hört sich die Wünsche und Klagen der Leute an. Ich bin ihm beim Verbinden, Pflasterstereichen etc. behilflich, hole die Kranken zusammen, kurz, ich bin sein Heilgehilfe. Dabei kommen mir meine Kenntnisse von der Krankenpflege, die ich im Rauhen Haus erworben habe, gut zu statten.

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          • Wolfg. G. Fischer
            Erfahrener Benutzer
            • 18.06.2007
            • 4918

            #65
            1. Nov. 1871

            Tagebuch:

            Heute morgen sah ich, wie eine Mutter ihrem kleinen Kind von neun Monaten ein Stück Schweinefleisch gab. Ich konnte nicht umhin, meiner Missbilligung darüber Ausdruck zu geben. Die Mutter entgegnete, sie könne ihr Kind nicht stillen, Nahrung müsse es aber doch haben, übrigens könne sie mit dem Fleisch machen, was sie wolle. Ich teilte dies dem Kapitän mit, welcher dem Kind das Fleisch nehmen und der Mutter dafür kondensierte Milch geben ließ.

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            • Wolfg. G. Fischer
              Erfahrener Benutzer
              • 18.06.2007
              • 4918

              #66
              2. Nov. 1871

              Tagebuch:

              Windstille, wir kommen kaum eine viertel deutsche Meile vorwärts. Da die Sonne so warm scheint, müssen alle Betten und wollenen Decken hinauf, um gelüftet zu werden.

              Mehrere Kinder haben den Keuchhusten.

              Schon einige Abende wird auf Deck nach einer Handharmonika getanzt, jedoch muss der Steuermann um 9 Uhr Ruhe gebieten.

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              • Wolfg. G. Fischer
                Erfahrener Benutzer
                • 18.06.2007
                • 4918

                #67
                3. Nov. 1871

                Tagebuch:

                Meine kleinen Freunde lernen fleißig. Heute konnten sie ohne Buch das Lied singen: "Immer muss ich wieder lesen ....." Einige kommen und beten mir Verse aus dem Mecklenburger Gesangbuch vor.

                Leider habe ich nur ein Exemplar des kleinen luth. Katechismus mit Bildern, der im Rauhen Haus gedruckt wurde. Die Kinder lernen daraus.

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                • Narbonne
                  Erfahrener Benutzer
                  • 01.08.2010
                  • 438

                  #68
                  Tagebuch über eine Auswanderung

                  Hallo Wolfgang,
                  ich habe erst heute die Tagebucheintragungen über die Atlantiküberquerung gelesen, es ist richtig spannend. Ich bin schon sehr gespannt wie es weitergeht ?
                  Vielen Dank für diesen interessanten Eindruck.
                  Ich konnte mir bisher nicht richtig vorstellen was für eine Motivation und vor allem Mut hinter diesen Auswanderungswünschen stand. Ich würde mich das nicht mal heute trauen und vor allem wie teuer das war.
                  V. Grüße
                  Narbonne

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                  • Wolfg. G. Fischer
                    Erfahrener Benutzer
                    • 18.06.2007
                    • 4918

                    #69
                    5. Nov. 1871

                    Hallo Narbonne,

                    es freut mich, daass Du mit den Einträgen etwas anfangen kannst.

                    LG Wolfgang




                    Tagebuch (kein Eintrag am 4. Nov.):

                    Gestern abend hatte ich mit den beiden Kajütenpassagieren ein längeres Gespräch über die christliche Lehre.

                    Heute nachmittag las ich eine Predigt von W. Baur. Ich wurde aber unterbrochen. Es kam ein Schiff in unsere Nähe, da war es mit dem Vorlesen zu Ende. Es war die Bark Maria aus Stettin.

                    Gegen Abend begann es zu wehen, wir machten drei deutsche Meilen.

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                    • Wolfg. G. Fischer
                      Erfahrener Benutzer
                      • 18.06.2007
                      • 4918

                      #70
                      6. Nov. 1871

                      Tagebuch:

                      Eine solch stürmische Nacht wie die vergangene haben wir noch nicht gehabt. Der Wind heulte und peitschte die See. Wir flogen rechts und links in unseren Betten.

                      Heute gegen Mittag wurde das Wasser etwas ruhiger. In dieser Nacht ist wieder ein Kind von 11 Monaten gestorben.

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                      • Wolfg. G. Fischer
                        Erfahrener Benutzer
                        • 18.06.2007
                        • 4918

                        #71
                        7. Nov. 1871

                        Tagebuch:

                        Nachgerade fangen die Leute an, auch über Einrichtungen, die zu ihrem Besten sind, zu klagen. Weder mit dem Essen noch mit dem Trinken sind sie zufrieden, und jedes verständige Wort scheint vergebens. Dabei lassen sie ihre Kinder im Schmutz herumlaufen und umherliegen.

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                        • renatehelene
                          • 16.01.2010
                          • 1983

                          #72
                          Hallo Herr Fischer,

                          is' ja kein Wunder; bei so einer langen Schiffsreise wird man halt
                          "ramdösig"; wir wissen aber, daß sie in New York, mit wenigen
                          Ausnahmen, angekommen sind.
                          Es gibt eine super DVD "Windstärke 8"; war wohl eine Serie bei ARD;
                          es wird eine Überfahrt der "Bremen" von Bremerhaven nach New York
                          "nachgestellt".

                          LG Renate

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                          • Hueterin
                            Erfahrener Benutzer
                            • 14.01.2009
                            • 133

                            #73
                            Danke, ich bin erst heute wieder in Ahnenforschung unterwegs und habe das Tagebuch vom Anfang durchgelesen. Es interessiert mich, weil auch meine Großeltern so eine Reise gemacht haben, allerdings erst im 1907 und nach 2 Jahren sind sie wieder zurückgekommen. Sie hatten ihre 4 Kinder zwischen 1 und 7 Jahre bei den Großeltern zurückgelassen um im Gelobten Land Geld zu verdienen. Geld hatten sie mit harter Arbeit verdient, doch die schwangere Frau wurde krank, .....ist eine lange Geschichte.

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                            • wolf44
                              Erfahrener Benutzer
                              • 19.09.2011
                              • 272

                              #74
                              Zur Ergänzung dieses Threads kann ich folgendes Buch empfehlen: "Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer" von Johannes Gillhoff. Es sind Briefe eines Auswanderers aus der "Griesen Gegend" an seinen ehemaligen Dorfschullehrer.
                              Viele Grüße
                              Wolfgang

                              Blog:Genealogische Fundstücke

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                              • Wolfg. G. Fischer
                                Erfahrener Benutzer
                                • 18.06.2007
                                • 4918

                                #75
                                8. Nov. 1871

                                Besten Dank für Eure Rückmeldungen!

                                LG Wolfgang




                                Tagebuch:

                                Heute morgen kam ein Haifisch ins Kielwasser. Der Kapitän warf die Angel aus und fing ihn. Als er aber halb herauf war, schlug er mit dem Schwanz, und das Tau riss. Wir sahen ihn mit Angel und Tau rasch verschwinden.

                                Im Hospital liegt eine Frau, Mutter zweier Kinder, deren jüngstes drei Monate alt ist. Sie scheint das Nervenfieber zu haben. Der Mann kam weinend zum Kapitän und bat um Hilfe. Dieser versprach zu tun, was er könne. Aber wir haben keinen Arzt an Bord.

                                Gegen Mittag musste wieder eine Mutter mit ihrem Kind ins Hospital.

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