Dokument 50: Majorenhof, Dienstag, Mitte Juni 1906:
Liebe Florrie,
Es ist so schön, die G.O.P.s wieder zu sehen. Vielen Dank dafür. ich bin immer so verärgert, weil so wenig darin ist. "Odette" scheint sehr lustig zu sein. Liebst Du diese Geschichte auch?
Bei uns ist schön warmes Wetter und ich habe wieder angefangen, im Meer zu baden. Heute habe ich zum ersten Mal Dora ihre Schuhe und Socken ausgezogen und ließ sie in das kleine Becken steigen. Du solltest sehen, wie sie sich gefreut hat. Es ist so schön, die Kinder hier während der Damen-Badezeit baden zu sehen. Sie laufen am ganzen Strand, ohne etwas an, herum, wie kleine Cupidi. Die Damen sind auch dort, oder promenieren in der Sonne in ihren Badeanzügen, oder nehmen, wie sie es nennen, Sonnenbäder. Das Leben ist hier im Sommer ausgezeichnet für die Damen, aber tödlich für die Männer, die täglich in diesen kriechenden, überfüllten Zügen in die Stadt fahren müssen. Die ganze Woche über hatte ich Besuch: eine Mrs. Horsefield und ihr 2 1/2 Jahre alter Junge Geoffrey. Sie stammt aus Heaton Chapel, war verheiratet und kam 2 Monate vor mir hier her, ist aber die Hälfte der Zeit zu Hause gewesen. Irgendwie scheint sie in ihrem Haushalt ein großes Durcheinander zu haben und kann kaum deutsch sprechen. Jetzt wohnen sie in einer Pension (sie werden diesen Winter wieder nach Hause fahren) und tut mir so leid. Ich bat sie, einige Tage herzukommen. Durch die Abwechslung sahen dann beide schon besser aus. Geoffrey ist ein blendend aussehender Junge, aber schrecklich verwöhnt, unruhig und findet von morgens bis abends keine Ruhe. Babs nennt ihn "Digi" und interessiert sich sehr für ihn, aber er ist ein schlechtes Vorbild für ihre Manieren. Wenn ihr etwas nicht paßt, dreht sie sich um, kratzt und schlägt nach mir, so wie er es mit Mrs. H. macht!
Wir haben auch viele Besucher. Vorletzten Sonntage kamen Mr. und Mrs. Bergfried mit ihren zwei Töchtern Xania und Thania, einem Diener und einem drei Monate alten Baby zum Frühstück und zum Mittagessen. Dann kamen Mr. und Mrs. Whittle mit ihrem Sohn (aus England) zum Kaffee und zum Abendessen. Letzten Sonntag kamen Frau und Fräulein Mecketh zum Mittagessen und zum Kaffe und baten uns, zur Konfirmation von Margot am nächsten Sonntag zu kommen. Ich denke nicht, daß wir hingehen werden. Wir warten schon jeden Tag auf Babys Großmutter und Tante aus Libau für den Rest des Sommers. Damit wird also meine schönste Zeit vorbei sein. Ich sehe gerade, daß ich zwei Blätter genommen habe, und daher die Seiten nacheinander numeriere. Ich hoffe, daß Du sie nacheinander finden wirst.
Wir haben viele Erdbeeren. Katta kam heute nach Hause und brachte mir einen großen gefüllten Korb als Geschenk. Ihr Vater wohnt zwei oder drei Stationen von hier weg und sie fährt zu Johanni wieder hin. Es ist am Sonnabend der russische Mittsommer-Tag - für die Letten ist es ein großer Feiertag.
Habe ich oder Alf schon berichtet, daß wir unsere Stadtwohnung in August verlassen? Man bekommt Wohnungen so schwer und schöne sind so teuer. Rudolf sah eine in einem Boulevard, die 6 oder 7 Räume besitzt, von denen zwei absolut dunkel sind für 1200 Rubel, das sind £130.
Eine mit 6 Zimmern haben wir gesehen, die uns gefällt, aber der Eingang ist so abstoßend, genau so wie in den Slums von Manchester, wo man instinktiv zusammenfährt und sich beeilt hereinzugehen. Dann muß man sich zwei Stockwerke eine enge, verschlungenes Holztreppe hochwinden. Aber die Wohnung liegt mitten in der Stadt und ganz nah bei der Börse und ist so schön, daß man den Eingang darüber vergißt. Ich denke, daß es dort gesünder ist, weil sie näher am Fluß liegt und man vom Wohnzimmer sogar Bäume und einen Garten sehen kann, der zur englischen Kirche gehört. Es gibt keine Speisekammer, weil die Bewohner sie in ein Bad umgebaut haben. Die Miete ist auch hoch und beträgt englische £75. Es wird aber günstiger und für Rudolf besser, weil er dann nicht das Büro in der Stadt und die Wohnung außerhalb hat. Wir haben zwei oder drei Wochen gezögert, weil unterhalb ein Hautarzt seine Praxis hat und ich Angst habe, daß durch das Treppenhaus die Krankheiten der Patienten hereinkommen. Gestern hörten wir jedoch, daß er wegziehen wird, so daß der Hausbesitzer nur den Eingang neu streichen und unsere Wohnung richten muß, daß wir sie wahrscheinlich doch, trotz der schrecklichen Treppen, nehmen und dort zwei oder drei Jahre bleiben werden. Der Eingang ist groß. Auf der linken Seite ist ein schöner Büroraum mit Fenstern. Auf der rechten Seite ein Salon, ein kleines Wohnzimmer, das Eßzimmer, unser Schlafzimmer mit einer kleinen Tür zu Babs, das Badezimmer, die Küche und Kattas Zimmer. Die Leute, die dort jetzt noch wohnen, haben drei Diener, aber nur ein Kind. Der Ort wird bestimmt voller Leben sein. Daher werden wir darauf bestehen, daß der Vermieter alles sorgfältig reinigt.
Ein Buch wird hier angeboten "Die zerstörten Burgen von Livland" ("The destroyed Castles of Livland"). Darin sind Bilder, auf denen man alle schönen Schlösser sehen kann, die diese Revolutionäre niedergebrannt haben. Onkel Rudolf will es kaufen, wenn er in die Stadt zurückfährt und es Vater schicken. In England könnt Ihr alles viel zu überzeichnet hören. Dort schreibt keiner von den armen Menschen, die ihren Besitz oder auch ihr Leben verloren haben. Viele von ihnen wurden von solchen Scheusalen bestialisch ermordet.
Wir haben etwas Angst und fürchten uns vor Streiks usw. usw. Am 15. wurden alle Vagabunde, Diebe und Mörder, die im Gefängnis waren, wieder auf uns losgelassen. Ich habe jeden Tag Angst, daß Rudolf nicht nach Hause kommen wird. Vergangene Woche kamen sechs Männer auf ein Passagierschiff. Als es gerade in voller Fahrt war, zogen sie ihre Revolver heraus, beraubten alle, zwangen den Kapitän das Ufer anzusteuern, gingen von Bord, raubten dann einen Bauernhof aus und ermordeten zwei Männer. Jetzt aber auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an alle. Bitte doch Vater noch einmal, mir das "Nonsense Book" von diesem Scheck zu bezahlen. Nochmals danke für die Literatur. Frag Vater, warum er zur Abwechslung zu seinen ernsten Artikeln nicht einmal ein Märchen schreiben will. Auf unserem Grundstück stehen drei Villen. In einer wohnt ein General, in der zweiten auch ein Offizier. Nach vorne heraus ist unser Garten, aber dahinter ist alles frei und Babs wird, wenn sie herausgeht, von kleinen russischen Kindern umringt.
Deine liebe Tante Lily.
Liebe Florrie,
Es ist so schön, die G.O.P.s wieder zu sehen. Vielen Dank dafür. ich bin immer so verärgert, weil so wenig darin ist. "Odette" scheint sehr lustig zu sein. Liebst Du diese Geschichte auch?
Bei uns ist schön warmes Wetter und ich habe wieder angefangen, im Meer zu baden. Heute habe ich zum ersten Mal Dora ihre Schuhe und Socken ausgezogen und ließ sie in das kleine Becken steigen. Du solltest sehen, wie sie sich gefreut hat. Es ist so schön, die Kinder hier während der Damen-Badezeit baden zu sehen. Sie laufen am ganzen Strand, ohne etwas an, herum, wie kleine Cupidi. Die Damen sind auch dort, oder promenieren in der Sonne in ihren Badeanzügen, oder nehmen, wie sie es nennen, Sonnenbäder. Das Leben ist hier im Sommer ausgezeichnet für die Damen, aber tödlich für die Männer, die täglich in diesen kriechenden, überfüllten Zügen in die Stadt fahren müssen. Die ganze Woche über hatte ich Besuch: eine Mrs. Horsefield und ihr 2 1/2 Jahre alter Junge Geoffrey. Sie stammt aus Heaton Chapel, war verheiratet und kam 2 Monate vor mir hier her, ist aber die Hälfte der Zeit zu Hause gewesen. Irgendwie scheint sie in ihrem Haushalt ein großes Durcheinander zu haben und kann kaum deutsch sprechen. Jetzt wohnen sie in einer Pension (sie werden diesen Winter wieder nach Hause fahren) und tut mir so leid. Ich bat sie, einige Tage herzukommen. Durch die Abwechslung sahen dann beide schon besser aus. Geoffrey ist ein blendend aussehender Junge, aber schrecklich verwöhnt, unruhig und findet von morgens bis abends keine Ruhe. Babs nennt ihn "Digi" und interessiert sich sehr für ihn, aber er ist ein schlechtes Vorbild für ihre Manieren. Wenn ihr etwas nicht paßt, dreht sie sich um, kratzt und schlägt nach mir, so wie er es mit Mrs. H. macht!
Wir haben auch viele Besucher. Vorletzten Sonntage kamen Mr. und Mrs. Bergfried mit ihren zwei Töchtern Xania und Thania, einem Diener und einem drei Monate alten Baby zum Frühstück und zum Mittagessen. Dann kamen Mr. und Mrs. Whittle mit ihrem Sohn (aus England) zum Kaffee und zum Abendessen. Letzten Sonntag kamen Frau und Fräulein Mecketh zum Mittagessen und zum Kaffe und baten uns, zur Konfirmation von Margot am nächsten Sonntag zu kommen. Ich denke nicht, daß wir hingehen werden. Wir warten schon jeden Tag auf Babys Großmutter und Tante aus Libau für den Rest des Sommers. Damit wird also meine schönste Zeit vorbei sein. Ich sehe gerade, daß ich zwei Blätter genommen habe, und daher die Seiten nacheinander numeriere. Ich hoffe, daß Du sie nacheinander finden wirst.
Wir haben viele Erdbeeren. Katta kam heute nach Hause und brachte mir einen großen gefüllten Korb als Geschenk. Ihr Vater wohnt zwei oder drei Stationen von hier weg und sie fährt zu Johanni wieder hin. Es ist am Sonnabend der russische Mittsommer-Tag - für die Letten ist es ein großer Feiertag.
Habe ich oder Alf schon berichtet, daß wir unsere Stadtwohnung in August verlassen? Man bekommt Wohnungen so schwer und schöne sind so teuer. Rudolf sah eine in einem Boulevard, die 6 oder 7 Räume besitzt, von denen zwei absolut dunkel sind für 1200 Rubel, das sind £130.
Eine mit 6 Zimmern haben wir gesehen, die uns gefällt, aber der Eingang ist so abstoßend, genau so wie in den Slums von Manchester, wo man instinktiv zusammenfährt und sich beeilt hereinzugehen. Dann muß man sich zwei Stockwerke eine enge, verschlungenes Holztreppe hochwinden. Aber die Wohnung liegt mitten in der Stadt und ganz nah bei der Börse und ist so schön, daß man den Eingang darüber vergißt. Ich denke, daß es dort gesünder ist, weil sie näher am Fluß liegt und man vom Wohnzimmer sogar Bäume und einen Garten sehen kann, der zur englischen Kirche gehört. Es gibt keine Speisekammer, weil die Bewohner sie in ein Bad umgebaut haben. Die Miete ist auch hoch und beträgt englische £75. Es wird aber günstiger und für Rudolf besser, weil er dann nicht das Büro in der Stadt und die Wohnung außerhalb hat. Wir haben zwei oder drei Wochen gezögert, weil unterhalb ein Hautarzt seine Praxis hat und ich Angst habe, daß durch das Treppenhaus die Krankheiten der Patienten hereinkommen. Gestern hörten wir jedoch, daß er wegziehen wird, so daß der Hausbesitzer nur den Eingang neu streichen und unsere Wohnung richten muß, daß wir sie wahrscheinlich doch, trotz der schrecklichen Treppen, nehmen und dort zwei oder drei Jahre bleiben werden. Der Eingang ist groß. Auf der linken Seite ist ein schöner Büroraum mit Fenstern. Auf der rechten Seite ein Salon, ein kleines Wohnzimmer, das Eßzimmer, unser Schlafzimmer mit einer kleinen Tür zu Babs, das Badezimmer, die Küche und Kattas Zimmer. Die Leute, die dort jetzt noch wohnen, haben drei Diener, aber nur ein Kind. Der Ort wird bestimmt voller Leben sein. Daher werden wir darauf bestehen, daß der Vermieter alles sorgfältig reinigt.
Ein Buch wird hier angeboten "Die zerstörten Burgen von Livland" ("The destroyed Castles of Livland"). Darin sind Bilder, auf denen man alle schönen Schlösser sehen kann, die diese Revolutionäre niedergebrannt haben. Onkel Rudolf will es kaufen, wenn er in die Stadt zurückfährt und es Vater schicken. In England könnt Ihr alles viel zu überzeichnet hören. Dort schreibt keiner von den armen Menschen, die ihren Besitz oder auch ihr Leben verloren haben. Viele von ihnen wurden von solchen Scheusalen bestialisch ermordet.
Wir haben etwas Angst und fürchten uns vor Streiks usw. usw. Am 15. wurden alle Vagabunde, Diebe und Mörder, die im Gefängnis waren, wieder auf uns losgelassen. Ich habe jeden Tag Angst, daß Rudolf nicht nach Hause kommen wird. Vergangene Woche kamen sechs Männer auf ein Passagierschiff. Als es gerade in voller Fahrt war, zogen sie ihre Revolver heraus, beraubten alle, zwangen den Kapitän das Ufer anzusteuern, gingen von Bord, raubten dann einen Bauernhof aus und ermordeten zwei Männer. Jetzt aber auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an alle. Bitte doch Vater noch einmal, mir das "Nonsense Book" von diesem Scheck zu bezahlen. Nochmals danke für die Literatur. Frag Vater, warum er zur Abwechslung zu seinen ernsten Artikeln nicht einmal ein Märchen schreiben will. Auf unserem Grundstück stehen drei Villen. In einer wohnt ein General, in der zweiten auch ein Offizier. Nach vorne heraus ist unser Garten, aber dahinter ist alles frei und Babs wird, wenn sie herausgeht, von kleinen russischen Kindern umringt.
Deine liebe Tante Lily.
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