Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1318

    #61
    Dokument 50: Majorenhof, Dienstag, Mitte Juni 1906:
    Liebe Florrie,
    Es ist so schön, die G.O.P.s wieder zu sehen. Vielen Dank dafür. ich bin immer so verärgert, weil so wenig darin ist. "Odette" scheint sehr lustig zu sein. Liebst Du diese Geschichte auch?
    Bei uns ist schön warmes Wetter und ich habe wieder angefangen, im Meer zu baden. Heute habe ich zum ersten Mal Dora ihre Schuhe und Socken ausgezogen und ließ sie in das kleine Becken steigen. Du solltest sehen, wie sie sich gefreut hat. Es ist so schön, die Kinder hier während der Damen-Badezeit baden zu sehen. Sie laufen am ganzen Strand, ohne etwas an, herum, wie kleine Cupidi. Die Damen sind auch dort, oder promenieren in der Sonne in ihren Badeanzügen, oder nehmen, wie sie es nennen, Sonnenbäder. Das Leben ist hier im Sommer ausgezeichnet für die Damen, aber tödlich für die Männer, die täglich in diesen kriechenden, überfüllten Zügen in die Stadt fahren müssen. Die ganze Woche über hatte ich Besuch: eine Mrs. Horsefield und ihr 2 1/2 Jahre alter Junge Geoffrey. Sie stammt aus Heaton Chapel, war verheiratet und kam 2 Monate vor mir hier her, ist aber die Hälfte der Zeit zu Hause gewesen. Irgendwie scheint sie in ihrem Haushalt ein großes Durcheinander zu haben und kann kaum deutsch sprechen. Jetzt wohnen sie in einer Pension (sie werden diesen Winter wieder nach Hause fahren) und tut mir so leid. Ich bat sie, einige Tage herzukommen. Durch die Abwechslung sahen dann beide schon besser aus. Geoffrey ist ein blendend aussehender Junge, aber schrecklich verwöhnt, unruhig und findet von morgens bis abends keine Ruhe. Babs nennt ihn "Digi" und interessiert sich sehr für ihn, aber er ist ein schlechtes Vorbild für ihre Manieren. Wenn ihr etwas nicht paßt, dreht sie sich um, kratzt und schlägt nach mir, so wie er es mit Mrs. H. macht!
    Wir haben auch viele Besucher. Vorletzten Sonntage kamen Mr. und Mrs. Bergfried mit ihren zwei Töchtern Xania und Thania, einem Diener und einem drei Monate alten Baby zum Frühstück und zum Mittagessen. Dann kamen Mr. und Mrs. Whittle mit ihrem Sohn (aus England) zum Kaffee und zum Abendessen. Letzten Sonntag kamen Frau und Fräulein Mecketh zum Mittagessen und zum Kaffe und baten uns, zur Konfirmation von Margot am nächsten Sonntag zu kommen. Ich denke nicht, daß wir hingehen werden. Wir warten schon jeden Tag auf Babys Großmutter und Tante aus Libau für den Rest des Sommers. Damit wird also meine schönste Zeit vorbei sein. Ich sehe gerade, daß ich zwei Blätter genommen habe, und daher die Seiten nacheinander numeriere. Ich hoffe, daß Du sie nacheinander finden wirst.
    Wir haben viele Erdbeeren. Katta kam heute nach Hause und brachte mir einen großen gefüllten Korb als Geschenk. Ihr Vater wohnt zwei oder drei Stationen von hier weg und sie fährt zu Johanni wieder hin. Es ist am Sonnabend der russische Mittsommer-Tag - für die Letten ist es ein großer Feiertag.
    Habe ich oder Alf schon berichtet, daß wir unsere Stadtwohnung in August verlassen? Man bekommt Wohnungen so schwer und schöne sind so teuer. Rudolf sah eine in einem Boulevard, die 6 oder 7 Räume besitzt, von denen zwei absolut dunkel sind für 1200 Rubel, das sind £130.
    Eine mit 6 Zimmern haben wir gesehen, die uns gefällt, aber der Eingang ist so abstoßend, genau so wie in den Slums von Manchester, wo man instinktiv zusammenfährt und sich beeilt hereinzugehen. Dann muß man sich zwei Stockwerke eine enge, verschlungenes Holztreppe hochwinden. Aber die Wohnung liegt mitten in der Stadt und ganz nah bei der Börse und ist so schön, daß man den Eingang darüber vergißt. Ich denke, daß es dort gesünder ist, weil sie näher am Fluß liegt und man vom Wohnzimmer sogar Bäume und einen Garten sehen kann, der zur englischen Kirche gehört. Es gibt keine Speisekammer, weil die Bewohner sie in ein Bad umgebaut haben. Die Miete ist auch hoch und beträgt englische £75. Es wird aber günstiger und für Rudolf besser, weil er dann nicht das Büro in der Stadt und die Wohnung außerhalb hat. Wir haben zwei oder drei Wochen gezögert, weil unterhalb ein Hautarzt seine Praxis hat und ich Angst habe, daß durch das Treppenhaus die Krankheiten der Patienten hereinkommen. Gestern hörten wir jedoch, daß er wegziehen wird, so daß der Hausbesitzer nur den Eingang neu streichen und unsere Wohnung richten muß, daß wir sie wahrscheinlich doch, trotz der schrecklichen Treppen, nehmen und dort zwei oder drei Jahre bleiben werden. Der Eingang ist groß. Auf der linken Seite ist ein schöner Büroraum mit Fenstern. Auf der rechten Seite ein Salon, ein kleines Wohnzimmer, das Eßzimmer, unser Schlafzimmer mit einer kleinen Tür zu Babs, das Badezimmer, die Küche und Kattas Zimmer. Die Leute, die dort jetzt noch wohnen, haben drei Diener, aber nur ein Kind. Der Ort wird bestimmt voller Leben sein. Daher werden wir darauf bestehen, daß der Vermieter alles sorgfältig reinigt.
    Ein Buch wird hier angeboten "Die zerstörten Burgen von Livland" ("The destroyed Castles of Livland"). Darin sind Bilder, auf denen man alle schönen Schlösser sehen kann, die diese Revolutionäre niedergebrannt haben. Onkel Rudolf will es kaufen, wenn er in die Stadt zurückfährt und es Vater schicken. In England könnt Ihr alles viel zu überzeichnet hören. Dort schreibt keiner von den armen Menschen, die ihren Besitz oder auch ihr Leben verloren haben. Viele von ihnen wurden von solchen Scheusalen bestialisch ermordet.
    Wir haben etwas Angst und fürchten uns vor Streiks usw. usw. Am 15. wurden alle Vagabunde, Diebe und Mörder, die im Gefängnis waren, wieder auf uns losgelassen. Ich habe jeden Tag Angst, daß Rudolf nicht nach Hause kommen wird. Vergangene Woche kamen sechs Männer auf ein Passagierschiff. Als es gerade in voller Fahrt war, zogen sie ihre Revolver heraus, beraubten alle, zwangen den Kapitän das Ufer anzusteuern, gingen von Bord, raubten dann einen Bauernhof aus und ermordeten zwei Männer. Jetzt aber auf Wiedersehen mit lieben Grüßen an alle. Bitte doch Vater noch einmal, mir das "Nonsense Book" von diesem Scheck zu bezahlen. Nochmals danke für die Literatur. Frag Vater, warum er zur Abwechslung zu seinen ernsten Artikeln nicht einmal ein Märchen schreiben will. Auf unserem Grundstück stehen drei Villen. In einer wohnt ein General, in der zweiten auch ein Offizier. Nach vorne heraus ist unser Garten, aber dahinter ist alles frei und Babs wird, wenn sie herausgeht, von kleinen russischen Kindern umringt.
    Deine liebe Tante Lily.
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1318

      #62
      Dokument 51 Dienstag im Juli 1906, 9Uhr abends.
      Lieber Arthur,
      Ich füge das inzwischen unterschriebene "Life Certificate" bei. Wie immer vielen Dank. "Hochmama" kam letzten Mittwoch an und war zwei Tage lang nach ihrer langen Reise in der großen Hitze krank. Sie ist aber jetzt wieder wohlauf und Baby wurde auch freundlich zu ihr. Gestern bekam Babs wieder Durchfall und ist so dünn, daß ich nicht weiß, was mit ihr ist. Es ist genau so wie im letzten Sommer und ich denke, daß ihr die Strandluft nicht bekommt. Ihr geht es aber viel besser, als in der Stadt und das beunruhigt mich. Mir geht es wie Dir, daß ich keine langen Briefe schreiben kann.
      10.30Uhr abends: Die G.O.P.s kamen auch an. "The Rose of Life", ist auch schön. Wer hat es eigentlich herausgegeben? Magst Du eigentlich nicht "Barty´s Love Story"? Ich werde traurig sein, wenn ich damit fertig bin. Unser Garten und unsere Villa sind in dieser Hitze wunderbar. Es wäre noch schöner, wenn Babs gesund wäre. Wie es aussieht, bin ich wieder zu sehr durcheinander, um mich über alles zu freuen. Sie hat zur Zeit keinen Appetit und ernährt sich nur von Nestles Essen und Milch. Sie ist noch keine zwei Jahre alt. Hier erwartet man von zweijährigen Babies, daß sie fast so viel wie Erwachsene essen. Sie sagt jetzt (oder versucht es) alle englischen und deutschen Wörter die wir sagen, genau so wie ein Papagei nach. Ich denke, daß sie jetzt ihre letzten vier Backenzähne bekommt und das scheint etwas damit zu tun zu haben, daß sie wächst.
      Wenn ich denn den Scheck bekomme, werde ich wieder schreiben. Auf Wiedersehen von uns allen bis dann. Bist Du jetzt in N.B.? Hier ist es jetzt so heiß, daß man die ganze Nacht wach liegt und dann morgens aufsteht und dazu Lust hat, ins Meer zu steigen. Unsere Villa ist jedoch sehr kühl und wir haben einen ausgezeichneten Eiskeller, um den man uns beneiden kann. Bis jetzt haben wir noch immer keine neue Stadtwohnung gefunden.
      Meine Hennen legen noch gut. Mama brachte uns viele Eier von ihren Hühnern, sowie einige Kücken von ihren eigenen und verschiedene andere Geschenke mit. Sie nimmt wegen ihrem Rheuma seit gestern Schwefel- und Salzbäder.
      Nochmals liebe Grüße Deine Lily.
      Ich hoffe, daß ich diesen Herbst die Gelegenheit haben werde, den Mädchen einige russische Dinge zu schicken. Mrs Horsefield will dann auch wieder zurückkehren und denkt, daß sie dann für mich einige Sachen mitnehmen kann. L.B.K.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • Frank K.
        Erfahrener Benutzer
        • 22.11.2009
        • 1318

        #63
        Dokument 52: Majorenhof Montag 5Uhr nachmittags, im Juli 1906

        Lieber Arthur und liebe Jennie,
        jetzt werde ich versuchen, Euch einen wirklich langen Brief zu schreiben, weil ich mich in der Stimmung dazu fühle und hoffe, daß er dann zur Teestunde ankommen wird (ich würde gerne mit ihm mitkommen. Was würde ich doch wieder einmal für einen richtig gemütlichen englischen Tee hergeben! Mama und ich tranken gerade Kaffee, ein schwacher Ersatz, aber besser als gar nichts). Babs ist gerade aufgewacht und mit Katta und ihrem Kinderwagen unterwegs, so daß ich jetzt wieder 1 1/2 Stunden Freizeit habe. Ihr geht es jetzt besser und sie ist sehr lebhaft, aber sehr dünn. Das ist verständlich, weil sie seit einer Woche von Nestles Nahrung und ab und zu einem Zwieback lebt. Am Tag nachdem ich das letzte Mal schrieb, ging ich mit ihr zu Dr. Becker, der sie letztes Jahr behandelte, da es zu heiß war, um mit ihr nicht mit dem Zug in die Stadt zu unserem Doktor zu fahren. Dr. Becker ist den Sommer über immer in Karlsbad (dem übernächsten Ort), so daß wir dorthin und zurück mit der Droschke fuhren. Seine Behandlung half sehr gut. Ich denke, daß ihr das andere Wasser hier nicht so bekommt, da auch wir hier den Unterschied beim Tee feststellen können. Ich bekomme hier die gleiche Milch wie in der Stadt vom Engelhardtshof, da sie von Ärzten untersucht (und zertifiziert) ist und in versiegelten Flaschen verkauft wird. Rudolf meint, daß sie sich erkältet hat, als sie im kalten Wasser planschte, aber sie war schon krank, bevor sie ins Wasser ging. Ich kann noch gar nicht fassen, daß sie am letzten Donnerstag zwei Jahre alt wurde. Es ist so schön zu denken, daß sie das langweilige Babyalter nun überstanden hat. Sie ist jetzt so an allem interessiert und versucht alles nachzusprechen, was sie hört, so daß wir alle zusammen große Freude haben. Rudolf kaufte ihr ein Bilderbuch mit riesig großen, bunten Bildern von Pferden, Katzen und Hunden darin. Er brachte auch einen jungen Foxterrier, der angeboten wurde, zum ansehen mit. Aber wir denken, daß wir ihn nicht behalten können, da es zu grausam für den Hund wäre, denn er würde zu wenig herauskommen. Wir gehen meistens in den Schützen-Garten und dort sind keine Hunde erlaubt, nicht einmal, wenn sie an der Kette geführt werden. Mama brachte ihr eine Trompete und einen kleinen Hasen mit. Ich gab ihr einen wunderbaren kleinen, weißen Bär, den ich selbst auch sehr liebe, weil er einen besonderen Gesichtsausdruck hat. Er hat einen weißen Pelz und steht auf seinen Hinterfüßen an einem Pfosten. Wenn man ein einer Kette zieht, die an seinem Maulkorb befestigt ist, grunzt er und bewegt seinen Kopf (als er es zum ersten Mal machte, erschreckte es sie ein wenig, aber jetzt hat sie es gern). Wenn sie sitzt und er steht, dann ist er so groß wie sie. Sie liebkost, küßt, streichelt und umarmt ihn dauernd.

        Letzte Woche hatte ich solch eine Freude. Flora Smith schickte mir zwei sechs Pence Bücher: "The Canon in Residence" und "The Sinner" von Rita. Ich dachte, ich könnte sie länger lesen, aber das erste war groß gedruckt und das zweite so interessant und gut geschrieben, daß ich leider damit schon fertig bin. Jetzt habe ich mich an "The Moonstone" herangewagt, das ich schon auswendig kenne, aber ebensowenig mag. Ich fühle mich jetzt 10 Jahre jünger, als zu der Zeit, als ich herkam (ich denke, daß die ewige Unruhe in der Stadt mich krank macht), da wir hier so schön leben.
        Nach dem Frühstück gehe ich zum Markt, um mich für das Mittagessen dort umzusehen und gehe danach baden. In England habe ich nie zu baden geliebt. Wenn ich hier aber nicht Baden gehen kann, vermisse ich es, weil es so schön ist. Von 10Uhr morgens bis 1Uhr mittags darf kein Mann an das Ufer und man muß einen Badehut, oder eine große weiße kaukasische Mütze tragen (um den Rücken, den Nacken und den Kopf vor der Sonne zu schützen), das Badetuch mitnehmen, das Badekostüm anziehen (worauf man aber auf alles, außer dem letzten, verzichten kann) und dann losgehen muß. Am Ufer zieht man sich dann um, legt das Tuch um sich, wie eine römische Toga, und geht dann zum Wasser, legt es dort ab, und geht herein. Wenn man dann fertig ist, ist es herrlich, bevor man sich dann wieder anzieht, mit dem großen Tuch abzutrocknen, auf dem warmen Sand in der Sonne zu liegen und den anderen zuzusehen (schließlich will ich dann auch wieder hineingehen). Es ist viel besser als die englische Art zu baden. Es gibt auch Badestege mit Häuschen, die aber für mich zu weit weg sind. Am nahen Ufer ist es schöner. Ich liebe es auch, den Kindern zuzusehen. Wenn dann Babs gefüttert und ins Bett gebracht ist, essen wir und ruhen uns bis etwa 4Uhr aus, trinken Kaffee, nähen oder lesen und gehen dann bis zum Abendessen spazieren. Sonntag abend gingen wir zur Abwechslung zu einem Varieté und kamen erst um 1Uhr nachts nach Hause. Es war, wie üblich, sehr langatmig. Wir gehen nicht oft dorthin, aber spüre danach immer, wie schön die Abende zu Hause sind. Rudolf wird aber heute abend nicht hier sein. Das ewige herumfahren ermüdet ihn so, daß wir eine Frau angestellt haben, die jeden Tag kommt und sauber macht. Er kommt nur dreimal in der Woche. Es ist doch furchtbar ermüdend für einen Mann, der sein eigenes Geschäft hat, jahraus und jahrein ohne Unterbrechung und immer höherer Belastung so zu leben, als für jemanden, der sorglos dahinlebt. Eigentlich ist unser Leben einigermaßen gut, wenn man nicht die ganze Zeit eine große Sorge hat. Wenn wir nur einmal den lange versprochenen Urlaub machen und kommen könnten, um Euch zu besuchen! Ich frage mich immer, ob Ihr dann erkennen würdet, wie ich mich groß verändert habe.
        Ich hasse es, auf dem Vulkan zu leben. Gestern wurde die Neuigkeit veröffentlicht, das die Duma aufgelöst wurde. Jetzt warten wir wirklich darauf, was als Nächstes passieren wird. Am Sonntag um 6Uhr morgens hörten wir eine Schießerei und Geräusche. Ich war noch zu müde, um mich darum zu kümmern. Rudolf öffnete den Fensterladen und sah viele Männer vorbeiziehen. Später hörten wir, daß es zwei betrunkene Barone waren, die Männer festhielten, die zur Arbeit gehen wollten. Es geschah in Hagensberg am Freitag wieder ein Mord. Auf einer Straße, die zum Dampfer-Landesteg führt, wo wir eigentlich hinziehen wollten. Einige Wagen kamen voll beladen mit Bier aus einer Brauerei. Auf einmal rannten zwei Männer los, feuerten 12 Schüsse ab und töteten zwei oder drei Pferde und erschossen den einen Fahrer mit zwei Schüssen. Er starb noch, bevor die Ambulanz eintraf. Das Traurigste daran aber war, daß sein 10 Jahre alter Sohn dabei war. Das arme Kind mußte mit ansehen, wie er starb. Die anderen Fuhrleute liefen davon und versteckten sich hinter dem Abhang auf der einen Seite der Straße. Die Mörder entkamen! Der Fuhrmann wollte letzthin nicht an einem Streik mitmachen und wurde deshalb erschossen. Freitagnacht wurde in unserer Nähe das ganze unreife Korn abgemäht und zerstört. Letzte Woche ermordeten sie ein kleines achtjähriges Mädchen im Wald nahe bei uns: Morde usw. sind hier so alltäglich, daß wir sie kaum noch beachten. Aber letztes Jahr war es für uns noch neu! Ich habe vor einem großen Streik solche Angst, solange Rudolf in der Stadt ist und wir hier sind.
        Wir haben noch immer keine Wohnung und müssen am 15. August ausziehen. Wir hatten uns schon fast entschlossen, die eine schöne Wohnung mit dem schrecklichen Eingang zu nehmen, bevor Rudolf einen letzten Blick hinein warf, nachdem die Juden ausgezogen waren. Und wie wir es befürchtet hatten, fand er sie voll von Ungeziefer vor. Somit ist das abgehakt! Es ist furchtbar schwer, Wohnungen in der Stadt zu bekommen, und sie sind so furchtbar teuer. Am Sonntag annoncierte er in zwei Zeitungen. Aber es annoncieren und suchen so viele, aber ein Büro getrennt von der Wohnung wird für ihn viel teurer und ungemütlicher sein. Besonders in diesen schlimmen Zeiten auch noch viel gefährlicher. Ich habe hier so einen herrlichen Garten, daß ich vorher noch Wäsche waschen werde, bevor wir in die Stadt zurückkehren, obwohl es ohne Waschkessel harte Arbeit ist. Die Waschfrauen nehmen soviel Geld und es ist eine Schande, wenn man genug Seife, Wasser und Zeit hat. Katta wird außerdem zu faul für alles, wenn sie sich nur um das Baby kümmern muß. Ich machte letzte Woche Marmelade aus Stachelbeeren, Roten Johannisbeeren und Himbeeren, da wir, wenn ich wieder zurückkehren, kein Obst mehr bekommen, außer vielleicht Pflaumen. Fleisch wird auch immer teurer. Man sagt, daß es, weil alle streiken, keines mehr gibt. Die Revolutionäre bringen alles in ein großes Durcheinander. Ich frage mich immer, wie alles enden wird. Was auch immer passieren wird, so hoffe ich doch, daß wir sicher (zum Beispiel in England, auch wenn unser Lebensunterhalt dabei verloren geht. Dann wird es in England genau so schlimm sein, wie überall sonst) landen werden. Meine Hühner legen noch immer gut, aber ich kann keine Hühner leiden, weil sie so hysterisch und dumm sind. Ich fürchte, daß sie als Brathühner enden werden, da ich sie nicht in der Stadt halten kann und unser eigenes "Castle in Spain" als kleines eigenes Haus noch nicht Realität ist und wir beide es hassen, in diesen großen Gefängnishäusern zu leben.
        Ich habe einen Scheck unterschrieben, den Rudolf heute einlösen wird. Ich bin genau so wie die anderen Menschen (so wie Vater zu sagen pflegte, weil ich immer Geld will) und bin dankbar darüber, weil ich immer etwas haben will. Diesmal sind es Vorhänge für die Fenster. Letztes Mal waren es Bettlaken. Jetzt muß ich aufhören, weil meine Hand steif ist. Es freut mich, daß Du denkst, daß die Prüfungen gut gehen. Ich frage mich, warum sie sie so furchtbar streng machen. Die Mädchen werden krank und zu sehr mit dem Lernen dafür beansprucht, was auch insgesamt nicht gut ist. Wir waten darauf, daß Dorothy photographiert wird, bis sie in ein paar Wochen etwas dicker geworden ist, auch wenn sie jetzt schon sehr gesund aussieht. Sie hat so wunderschöne Augen. Sie sind, denke ich, so wie die von Rudolf. Also auf Wiedersehen und liebe Grüße an Euch alle, in der Hoffnung auf einen langen Brief, der bald kommen wird. Deine liebe Schwester Lily.
        Ist das Buch über Fleischkonserven lesenswert?
        Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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        • Frank K.
          Erfahrener Benutzer
          • 22.11.2009
          • 1318

          #64
          Dokument 53: Majorenhof, Dienstag im Juli 1906.
          Liebe Florrie,
          "Box 257 - Post Office Riga" ist wirklich die beste Anschrift, die Du verwenden kannst, weil Onkel Rudolf für ein verschlossenes Postfach zahlt und es dreimal am Tag leeren läßt. Es ist viel sicherer, als einem Postboten in diesem Land zu vertrauen, so wie es alle anderen Geschäftsleute auch machen. Ich habe mich so gefreut, als er gestern abend Deine Photos mitbrachte. Vielen Dank dafür. Sage Mutter (und auch Vater), daß sie auf ihre sechs Töchter stolz sein kann, so wie ich es auch von ihnen denke. Olive und Dollie hätte ich auch erkannt, aber Ihr anderen habt Euch verändert. Ich hielt Mabel für Jessie und umgekehrt. Du bist doch viel stämmiger geworden. Vera schaut aus irgendeinem Grund sehr grimmig. Wem ähnelst Du? Ich rätsle herum und kann nicht erkennen, ob es eher der Vater oder die Mutter ist, oder beide. Schade, daß die einzelnen nicht vollkommen getönt sind, da ich denke, daß sie sehr schön sind. Wann werden die 4 Jungen mit den Eltern kommen? Du siehst, ich bin wie Oliver Twist, der auch immer noch mehr haben wollte. Was wird James machen, wenn Du nach New Brighton gehen wirst? Er ist auch arm dran, weil er nicht hin kann. Du wirst es dort schön haben und ich wünschte, ich könnte auch kommen, um Euch allen Babs zu zeigen. Auch Mutter und ich würden uns bestimmt gut unterhalten. Du weißt nicht, was es für mich bedeutet, niemals jemand, außer Onkel Rudolf und dem Mädchen um mich herum zu haben, mit denen ich sprechen kann. Onkel Alf sagte immer, ich sei eine Tratschtante und ich denke es auch. Es war auch ganz schön, daß sogar Mrs. Horsefield diese Woche hier war. Wenn ich Mrs. Whittle treffe, dann fühle ich mich immer wie im Urlaub. Ich spreche hier mit niemand, außer über allgemeine Dinge und natürlich das Wetter. Ich spreche mit den Vögeln und Babs, sonst würde meine Zunge wohl einrosten. Übrigens wurde nichts aus den Eiern und der unruhige kleine Geselle brütete zum dritten Mal vergeblich. Ich hoffe, daß es einmal klappen wird, wie Rudolf sagt, weil sie einen jüngeren Gefährten braucht. An einem Tag ließen wir sie heraus und er gab ihnen einen Zweig zum sitzen. Ich denke aber, daß sie lieber bei uns in der Stadt bei uns leben. Dann sprechen wir auch mit ihnen, was ich hier nur tue, wenn ich in der Veranda sitze. Ihr Zimmer muß ich aus Angst vor Katzen immer zuschließen.
          Ich denke, daß wir nächstes Jahr eine Woche später hierher kommen, weil Onkel Rudolf vom täglichen Fahren aufgezehrt wird und den ganzen Tag so viel herumgehen und so viele Treppen steigen muß. Und hier zählt eine Stunde soviel wie ein Monat. Es ist alles oder nichts! Er hat noch einige Wohnungen angesehen, aber keine war mit der anderen zu vergleichen, von der ich Dir berichtet habe.
          Eine war sehr schön und soll £70 im Jahr kosten. Er dachte, daß man es niemals sauber bekommen würde. Wenn vorher noch neu tapeziert und ausgemalt würde, würden sie noch einmal £5 mehr Miete verlangen.
          Wir sind im ständigen Kampf, die Käfer und das Ungeziefer in unseren Zimmern zu bekämpfen, da sie aus allen Wänden usw. herauskrabbeln. Es ist viel schwerer, solch eine stickige, dunkle Stadtwohnung sauber zu halten, wo es wenig Licht, Luft und keinen einzigen Flecken gibt, der einem gehört, wo man einen Teppich ausklopfen kann. Ich weiß nicht, was ich dafür geben würde, wenn ich diesen Garten für mich haben könnte und ihn nicht im Herbst verlassen müßte.
          Die Vermieter sind hier gräßlich. Mrs. Whittle wohnt außerhalb der Stadt und zahlt £55 für sechs kleine Räume, einen Garten in der Größe unseres Vorgartens in Blackpool. Sie kann nicht alles zu Hause waschen, weil Mrs. Sawitsky nicht erlaubt, daß wegen des Anblicks etwas draußen, oder drinnen aus Furcht, daß die Wohnung Feucht werden könnte, getrocknet wird. Wenn sie Holz kauft, darf es nur der Dvornik von Mrs. S. hereinräumen und niemand anders. Als Mrs. W. einen Hund haben wollte, erlaubte es ihr Mrs.S. auch nicht. Ich würde gerne einige dieser Vermieter packen und nach England schicken, damit ihnen beigebracht wird, wie man sich benehmen muß. Ebenso einige andere Leute, besonders die Eisenbahner,
          Ist Dein Freund, der dieses schöne Bild aufgenommen hat, ein Berufsphotograph? Schick mir doch bitte eines von Paddy und den Katzen. Ich habe bemerkt, daß das Nonsense Book etwas zu schwierig für Babs ist, will es aber behalten. Ich denke, daß ich nicht so viel Freude damit haben werde, wie früher. Es ist wirklich lustig. Dies ist auch ein unsinniges Land, da die Menschen alle stolz und stocksteif sind, an nichts anderes, als an Geld denken und sich besser als ihre Nachbarn anziehen wollen. Freundlichkeit kennt man hier fast genau so wenig, wie christliche Grundsätze. Ich habe noch im Ohr, wie der englische Pastor sagte, daß Riga ein kleines Sodom wäre und Mrs. Horsefield meinte, daß sie oft weinte, weil sie an solch einem Ort leben muß. Aber hier draußen ist es bei dem schönen Wetter prächtig. Die Winter machen mich so unausstehlich und ich kann nichts dagegen machen. Ich liebe zwar die Kälte, weiß jedoch nicht, wovon es kommt, denke aber, daß es die so lange andauernde Finsternis und der kurze Sommer sind. Aber Babs wird mir jetzt mehr Geselligkeit geben, so daß ich sie bald mit mir hinausnehmen kann. Wenn wir eine nettere Wohnung bekommen, dann kann ich auch besser einige Damen zum Tee einladen, auch wenn sie keine alten Kameradinnen, aber doch besser als niemand sind. Einige sind sehr nett und laden mich immer wieder zu ihren großen Kaffees ein, obwohl sie wissen, daß ich sie nicht einladen kann. Onkel Rudolf denkt, daß einige von Euch Mädchen zum Besuch herüberkommen sollten, weil ich nicht kommen kann. Seebergs Schiffe könnten Euch von London für 60 Rubel, was nicht teuer ist, hierher und wieder zurück bringen, wenn wir hier mit ihnen sprechen würden. Die anderen Schiffseigner verlangen 90 Rubel. Wenn Ihr kommt, könnten wir uns umhören, ob andere Damen auch herüberkommen. Mrs.Ball kennt viele Kapitäne, sowie ihre Frauen und Töchter aus Hull, die oft zu Besuch kommen.
          Meine Katta putzt sich schon wieder schön heraus. Ich denke, daß sie wieder einen neuen Freund hat. Sonnabend ist hier ein großer Feiertag, wegen dem sie nach Hause fahren will. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie mich im Herbst oder Winter verlassen würde, aber daran denke ich jetzt lieber noch nicht. Babs ist auch schon größer geworden. Ich hasse Fremde, auch wenn Katta manchmal etwas sorglos ist. Sie ist äußerst willig und verliert niemals ihre Fassung, was auch geschehen mag.
          Liebe Grüße an alle. Deine liebe Tante Lily.
          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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          • Frank K.
            Erfahrener Benutzer
            • 22.11.2009
            • 1318

            #65
            Dokument 54: Majorenhof, Sonnabend 12.08.1906 (alter Stil).
            Lieber Arthur und liebe Jennie,
            Ihr habt bestimmt schon gedacht, daß ich gar nicht mehr schreiben werde, aber ich habe so lange gewartet, bis wir eine Wohnung aufgetrieben haben und ich Euch darüber berichten kann. Unsere künftige Anschrift wird sein: Große König Str. 21, Quartier 5, ein Stockwerk hoch. Die Postanschrift ist Box 257, P.O. Riga. Ich habe Euch aber die volle Anschrift für den Fall geschrieben, daß wir ermordet werden, was diesen Winter leicht passieren kann, da es schlimmer geworden ist als letztes Jahr und diese Häuser in keiner hervorragenden Nachbarschaft liegen. Dann werden wir auch die meiste Zeit im Haus verbringen müssen. Vor den Nächten habe ich die meiste Angst. Dort haben wir dann einen schönen Eingang, ein großes Büro, vier kleine Zimmer (zwei sehr kleine), eine Küche und ein Badezimmer und das für eine Barmiete von £80 und vielen anderen Extras pro Jahr. Ein großer Nachteil ist, daß jeder, der hereinkommt, um mich zu besuchen, zuerst durch das Büro gehen muß. Ich werde nicht so viele Besucher haben, da sie das nicht mögen. Ihnen kann man deswegen auch nicht helfen! Für Rudolf ist es bequemer, da er die Wohnung und das Büro beieinander hat. Ich denke, daß es in dieser Zeit sicherer ist und ich in der Wohnung dann allein wäre, wenn Katta ausgeht und umgekehrt.
            Sie reinigen und verschönern für uns alles und wir müssen deshalb so lange hier bleiben. Alle anderen verlassen uns jetzt und eilen in die Stadt zurück, weil am Dienstag wieder die Schule beginnt, oder sie hier Angst haben. Es wird schon wieder davon berichtet, daß am kommenden Sonnabend neue Streiks anfangen sollen. Der General, der neben uns wohnt, hat seine Familie schon in Sicherheit gebracht, obwohl sie noch bis September bleiben wollten. Die Familie des anderen Offiziers verließ uns heute auch.
            Letzte Woche waren sogar hier zwei Überfälle und etwas anderes Schreckliches passierte auch noch. Als wir eines nachts gerade ins Bett gingen, hörten wir eine große Explosion und fragten uns, was passiert sei. Am nächsten Tag hörten wir es. Beim Kurhaus ist diese Saison eine Spielhölle gewesen und der Besitzer hatte in der Nacht mehr als £90 nach Hause mit genommen. Als er das Geld zählte, drang eine Bande von Männern mit Revolvern ein. Er übergab das Geld ruhig und sie verschwanden wieder. Ein junger Mann aber sah, wie sie davon rannten und blies mit seiner Pfeife um Hilfe. Die Männer kehrten sofort um und erschossen ihn. Als dann einige zur Hilfe kamen, warfen sie eine Bombe und entkamen in der Dunkelheit und der Verwirrung!
            Vergangene Woche wurden in Riga ein Polizeioffizier und ein Polizist getötet, als sie einige Männer verhaften wollten, die einen Mann angegriffen und ihm £40 an Löhnen auf einem Firmengrundstück gestohlen hatten.
            Wir haben alle diese Pfeifen, aber ich denke, daß es besser ist, aufzugeben, da sie einen dann nur berauben, wenn sie kommen, als dann auch noch erschossen zu werden, wenn man sie aufregt. Ich habe am meisten davor Angst, daß Baby verletzt wird, oder wir getötet werden. Ich versuche mich nicht aufzuregen und habe mich schon im letzten Winter genug aufgeregt. Es macht mir auch nicht so viel aus, wenn sie streiken, wenn Rudolf hier ist. Wenn es aber in Riga passiert und man nicht herauskommt, dann wird es furchtbar. Dann würde ich am liebsten weggehen oder etwas verrücktes machen.
            Sonntag, 11Uhr morgens: Es regnet wie verrückt und Rudolf nimmt ein Salzbad. Er kam gestern abend früh nach Hause, weil wir zu einem Konzert gehen wollten. Aber schließlich gingen nach dem Abendessen spazieren und kamen um 11Uhr abends heim.
            Dienstag werden wir einen aufregenden Tag haben, wenn wir umziehen. Das meiste in der Wohnung ist noch nicht fertig. Wir können zuerst nur die Möbel auseinanderbauen und sie herüber bringen und am nächsten Tag dann noch einmal hineingehen und sie zusammenbauen. Am letzten Dienstag haben wir auch schon alles verpackt.
            Unsere Hühner legen noch immer ausgezeichnet und ich trauere schon, weil ich sie töten muß, wenn wir zurückkehren. Es sollen Ratten im Dachboden, aber keine im Keller der Wohnung sein (Dachboden und Keller sind nicht so nahe beieinander wie in England). Ich zweifle noch daran, weil hier niemand die Wahrheit erzählt, außer, wenn es ihm nützt. Wenn aber welche dort sind, werden wir einen Foxterrier brauchen, auch wenn ich keinen will, weil er auch so selten mit uns herauskommen würde und unglücklich wäre. Fängt Paddy eigentlich Ratten? Foxterrier sind hier sehr teuer und ich habe in der ganzen Zeit, seitdem ich hier bin, nur einen schwarzen und einen braunen Terrier gesehen. Collies sind selten und Dachshunde verbreitet, ebenso wie die kleinen, nicht zu beschreibenden kleinen, unverschämten Schoßhunde.
            Ihr denkt bestimmt alle an Berties Hochzeit. Ich wünschte auch zu kommen. Wenn dann bei uns die Post funktioniert, werden wir ein Telegramm schicken. Wenn es aber nicht ankommt, dann wißt Ihr, daß ein Streik ist, der uns verhindert. Babs schlendert herum und es geht ihr schon viel besser, seit wir mit dem "Sanatogen" begonnen haben. Sie ist sehr fröhlich (wenn sie ihre eigenen Wege geht). Sie ist eine richtig kleine Russin und liebt schwarzes Brot sehr. Es ist so lustig, wenn man sie "twartz b´ot" oder "Schwarz-Brot" sprechen hört. Wenn man ihr Weißbrot mit Butter anbietet, sagt sie immer "Nein!" uzzer Butter". Sie liebt es auch, in den Zug zu gehen und sagt dann: "Baby a-ta going in a puff puff". Sie setzt ihre Verben nach der deutschen Art an den Schluß und sagt "Baby hungy (hungry) tea and Zwieback having". Sie vermißt heute auch alle anderen Kinder und das arme Mädchen ruft immer nach ihnen. Sie sieht sonst wenig Kinder und hat mit diesen hier viel Spaß gehabt. Mama verließ uns vor einer Woche: Dachsa sprach davon zu kommen und wollte dann doch nicht, so daß Mama dann doch wieder allein mit dem Zug sehr bequem reisen mußte. Babs spricht manchmal von ihr, aber ihre größte Freude sind Tiere. Ihr solltet sehen, wie glücklich sie ist, wenn sie einer Katze oder eines Hundes habhaft wird und dann lieb hat. Könnt Ihr mir das auf dem beigefügten Blatt aufgeführte besorgen und mir schicken. Ich habe einen günstigen Aquarell-Farben-Kasten bekommen. Ich hatte doch vergessen, meine Ölfarben einzupacken. Wenn ich Zeit finde, dann suche ich große Bäume usw. und quäle mich, sie zu malen. Unser Stadtleben ist scheußlich, aber wir sind sehr, sehr glücklich, solch schöne Sommer und genügend Geld haben zu können, um über die Runden zu kommen. Ich bemitleide die armen Menschen in Riga. Man sagt, daß Petersburg sehr ungesund sei. Aber hier sind wir nahe am Meer und diese kleinen Villen sind einmalig malerisch. Das Land rundherum ist alles andere als schön, aber auf den Land ist es noch immer besser als in der Stadt.
            Könnt Ihr nicht doch etwas herüberkommen (für eine zweite Hochzeitsreise). Hier ist eine Schiffslinie, die nach London fährt und Passagiere viel günstiger mitnimmt, als die Wilson-Linie oder auch Bornhold. Wenn Ihr einen Monat Zeit hättet, wäre es eine schöne Abwechslung und es würde Euch großen Spaß machen, alle diese neuen Dinge zu sehen. Sie sind für mich schon so alt, daß ich schon fast die Freude daran verloren habe und nur noch die Unbequemlichkeit sehe, außer den Droschken, die ich sehr liebe und den Lampen, die ich den Gaslampen vorziehe. Ich wünsche Euch nun alles Gute für Euren Hochzeitstag, da ich nicht noch einmal Zeit haben werde, um Euch vorher noch einmal zu schreiben.
            Liebe Grüße an alle. Eure liebe Schwester Lily.
            Es ist 10Uhr abends und der Wind in den Bäumen hört sich so an wie in Eccles.
            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1318

              #66
              Dokument 55:
              Lieber Arthur,
              Ich habe heute nicht so viel Zeit zu schreiben und lege die Bescheinigung bei.
              Alles geht hier seinen gewohnten Gang mit vielen Morden und Bombenwürfen. Am Sonnabend drangen 5 Männer durch die Küchentür eines Hauses ganz in der Nähe im Zentrum der Stadt ein und bedrohten die Dame des Hauses und 2 Dienstmägde mit Revolvern, beraubten sie vollständig, schlossen sie ein, nahmen die Schlüssel mit und verschwanden. Das geschah um 11Uhr morgens!
              Am Dienstag "vergaßen"(!) zwei Frauen ein Paket in der Straßenbahn. Ein Mann fand es und übergab es dem Schaffner. Dieser fand heraus, daß eine Höllenmaschine drin war, die um 4Uhr nachmittags explodieren sollte.
              Bei uns geht alles wie üblich weiter, Ich erwarte morgen nachmittag Mrs. Horsefield mit Geoffrey (3 Jahre alt) und Mrs. Schultz mit Edith (2 1/2 Jahre alt) zum Tee und denke, daß Babs sehr schüchtern und unglücklich sein wird. Liebe Grüße an Euch alle. Eure Lily.
              P.S. Wie doch Dein Schreiben dem von James ähnlich ist. L.B.K.
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              • Frank K.
                Erfahrener Benutzer
                • 22.11.2009
                • 1318

                #67
                Dokument 56: Riga Box 257, 09 / 1906

                Liebe Florrie,
                entschuldige bitte, daß ich altes Papier verwende, aber wir haben so viel davon übrig und Papier ist hier sehr teuer. Es ist schön groß zum darauf schreiben. Dein Brief war köstlich und Du bist auch mein bester Korrespondent. Es war schön von Dir, so schnell zurückzuschreiben und mir die Blumen und das Moos zu schicken. Ich habe mich darüber gefreut. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht und mich über Euch alle gewundert. Ich bin froh, daß unser Telegramm rechtzeitig gekommen ist. Wir haben es am Abend vorher nach dem Abendessen geschrieben. Onkel Rudolf nahm es in die Stadt mit und schickte es gerade noch rechtzeitig ab. Er weiß, wie man es machen muß, weil er so viele ins Ausland schickt. Weißt Du, daß wir hier zwei Stunden früher dran sind? Es ist jetzt gerade 6Uhr abends und bei Euch ist es jetzt 4Uhr. Mutter wird gerade an eine Tasse Tee denken; das wäre doch schön! Ich denke daß Ihr, Du und Mutter schön ausgesehen habt, aber schade, daß Du es langweilig gefunden hast. Ich dachte, daß dort einige junge Leute gewesen wären, wie ich aus Berties Brief lesen konnte, weil sie es so ruhig wie möglich wünschte, aber einige von "Vaters alten Freunden" nicht zurückhalten konnte. Konntest Du Dich nicht mit Harry anfreunden? Ich denke nicht, daß Du Artie (oder Berties Ausgehkleid) erwähnt hast. Du weißt, daß Hochzeiten - wie üblich - nicht so lebhaft sind, obwohl dort jeder sein Bestes tut, um vorzutäuschen, wie er sich amüsiert. Parties zum 21. Geburtstag sind lebhafter. Jeder fühlt mehr oder weniger die Ernsthaftigkeit bei einer Hochzeit, obwohl man es nicht eingesteht. Wenn man so viele verlobte Paare sieht, die zusammen herum summen und einem das Gefühl geben, einsam zu sein. Es ist aber besser, sich eine Zeit lang einsam zu fühlen und zu warten, bis man sicher ist, daß "der Richtige" gekommen ist, als "den Falschen" als Liebhaber nur deshalb zu nehmen, damit man jemand als Gefährten hat (wenn Du so wie ich denkst), weil wenn man zu viel von jemandem hat, mit dem man zusammen ist, dann wäre es doch zu schlecht, wenn man mit ihm schon verlobt ist. Ich wünsche mir so, daß jemand von Euch herüber kommen würde. Jeder außer mir bekommt Besuch aus England. Der Vater und die Mutter von Mrs. Beckmann, die schon alt sind, sind jetzt gekommen. Ebenso ist bei Mrs. Jones in Sassenhof ihre Schwester für ein Jahr zu Besuch gekommen.
                Für uns gewöhnliche Leute gibt es mehr von Räubern, Dieben, gelegentlichen Schießereien und Bomben zu befürchten. Direkte Angriffe werden meistens auf in der Öffentlichkeit stehende Personen gemacht. Ich bin dankbar, daß sie jetzt etwas schneller mit dem Aburteilen und Bestrafen sind. Es ist aber ein Fehler, daß hier die Bestrafung viel zu leicht ist. Wenn es hier einige englische Strafen gäbe, würden sich die Verbrechen stark vermindern. Am Sonnabend wurde wieder eine Bombe in eine Straßenbahn geworfen. Der Straßenbahnstreik dauert schon einige Wochen. In jeder Straßenbahn fahren jetzt zwei Polizisten mit geladenen Waffen mit (eine wurde mit einer Zündschnur am Sonnabend gezündet, explodierte und verletzte ihn). Die Leute wollen einfach die Straßenbahnen unter diesen Umständen nicht benutzen und die Droschkenkutscher leben jetzt gut, da sie mehr verlangen können. Unser Fräulein kann für 10K. zu ihrer Station und zurück fahren, aber eine Droschke kostet 40 K. und sie hat nicht die Zeit, zu Fuß zu gehen.
                Ich mußte über eine ein spaßiges Vorkommnis lachen, das ich gestern Abend in der Zeitung gelesen habe. Ein Mann rannte zu einer Polizeistation und meldete, daß er einige Männer gesehen hat, die von einem Dach in der Kirchen Straße herunterspähten. Also rückten die Polizei und die Soldaten aus und fanden auf jeden Fall das Richtige! Eine Leiter stand dort. Sie umstellten das Gebäude und feuerten einige Schüsse, die über die Köpfe hin und her flogen und feuerten nochmals, obwohl niemand gesehen wurde. Dann stiegen die Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten hinauf (Du weißt doch, daß alle Diebe mit Revolvern bewaffnet sind) und fanden sie! Es waren zwei vor Angst zitternde Telephonarbeiter! Volltreffer! Aber es ist selten, daß es so lustig ist. Letzten Sonnabend geschah etwas schreckliches auf dem Land in Lennenwarden in einem Pastorat. Es war 6 oder 7Uhr und der Pastor war nicht zu Hause, als eine Bande von Männern hereinstürmte und seiner Frau und seinen Kindern sagte, daß sie gekommen sind, um ihn umzubringen. Sie nahmen ihre Uhr und ihre Ringe weg, zerschmissen die Möbel und plünderten das Haus aus. Nach etwa einer halben Stunde hörten sie einen Wagen vorfahren und das arme Ding versuchte herauszurennen und ihren Mann zu warnen. Sich schossen ihr in den Rücken, stürmten über ihren Körper und erschossen auch ihn. Sie lebte noch eine Stunde und jetzt sind ihre armen Kinder allein. Denkst Du jetzt nicht auch, daß solche Scheusale es verdienen, gehängt oder erschossen zu werden, aber das geschieht hier unter normalen Umständen niemals und das einfache Volk ist hier für das Kriegsrecht dankbar. Rudolf erzählte von einem Aufstand. Soldaten waren und letzte Nacht in der Nähe unserer Wohnung, als eine Schießerei war. Es war lustig, die Dragoner über den kleinen Platz singend reiten zu sehen (aber die Leute hassen sie richtig). In Riga singen sie nicht, sondern halten ihre Augen wachsam offen und ihre Finger am Abzug. Ich bemitleide sie und die Polizisten so, weil sie nie wissen, wann auf sie geschossen wird.
                Donnerstag: Wir waren gestern in der Stadt und haben unsere Wohnung etwas eingerichtet. Katta wird morgen gehen und wir werden dann endlich am Dienstag umziehen. Es ist alles schön und sauber, hell gestrichen und frisch tapeziert und so freundlich, obwohl alle Zimmer klein sind, außer dem riesigen Büro. Und das ist hier immer so. Man hat einen großen "Saal" für das Geschäft als "bestes Zimmer", der niemals benutzt wird, die restlichen Zimmer sind alles Kammern. Ich werde versuchen, Dir einen Plan im Schlafzimmer zu zeichnen, in dem unsere zwei Betten stehen. Der Toilettentisch und Babys Bett und die anderen Sachen stehen in einem Raum ohne Fenster und dazwischen ist das Eßzimmer. Es wird luftig genug sein, da wir die große Tür, die vom Eßzimmer kommt, weggenommen haben und noch eine Glastür dazwischen ist und die Schlafzimmertür, die offen bleibt. Es ist wirklich nur eine Abstellkammer, aber der Vermieter zählt sie als Zimmer, genau so wie die Kammer am anderen Ende am Eingang, in der er das Bad einrichten will. Ich habe in meinem rechten Ohr einen kleinen Abszeß und mußte heute wieder zu Dr. Berg gehen. Er sagt, daß ich mich erkältet habe, hat mir einige Medizinen gegeben und gesagt, daß ich mich ruhig verhalten muß und nicht viel tun darf. Ich denke, daß ich schrecklich faul bin, aber ich habe hier mehr als in der Stadt zu tun. Schließlich habe ich doch noch eine schöne Küche bekommen. Die einzige, der das vielleicht nicht gefällt ist Katta. Das arme Ding hat wieder die übliche Dunkelkammer, in der sie schlafen muß. Sie hat wahrscheinlich keine Möglichkeit, ihr Bett und ihre Kleider zu lüften.
                Bitte Vater, daß er mir das Buch und einen Block mit dem richtigen Papier schickt. Bitte ihn auch, Euch allen vom nächsten Scheck (Dir für Rowly insgesamt) 5/-, damit Du irgend etwas, was Du gerne möchtest, als Erinnerung, da ich keine Möglichkeit sehe, Dir jetzt etwas russisches zu schicken und ich fürchte, daß Du lange warten mußt, bis ich einmal komme. Kaufe Dir einfach das, was Du möchtest. Wenn ich nur die Möglichkeit hätte, würde ich Dir oder Vater einen Gartenzwerg schicken (und dann würde ganz Newton zusammenkommen, um ihn zu bestaunen). Sei stehen hier überall in den Gärten herum und sehen so sonderbar aus. Baby liebt sie sehr. Sie ist eine fröhliche Begleitung, aber ich wünsche mir, daß Vera hier wäre, um mit ihr zu spielen, damit ich hier etwas Zeit zum Nähen habe. Sie bringt mich sehr oft zum Lachen. Wenn das Essen kommt, ruft sie laut: "Katta! Serviette!" Dann will sie mich von meinem Stuhl ziehen und sagt "Sitz! Mama. Schoß, Baby Up-a". "Schoß" bedeutet auf den Knien. Sie spielt auch sehr gerne. Sie sagt "Wing a doses", weil sie das "R" nicht aussprechen kann und läßt uns alle daran teilhaben. Sie macht alles, was wir machen, nach und möchte die ganze Zeit beachtet werden. Solange man mit kochen, aufräumen oder sauber machen beschäftigt ist, ist sie fröhlich und ist mit Herz und Seele dabei, wenn man dann aber anfängt zu nähen, dann ist alles vorbei. Das ist dann für die gnädige Dame zu ruhig. Vielen Dank für die Geburtstags Glückwünsche für das Versprechen für "The Chaplain". Ich werde mich darüber freuen. Ich liebe Besaut von allen Schriftstellern am meisten, besonders seine modern geschriebenen Bücher. Mrs. Argyle schickte mir "The Talisman" (war sie auch bei der Hochzeit dabei?) und Alice wird mir noch ein Buch schicken.



                Das sind die einzigen Geschenke gewesen. Onkel Rudolf wird mir einen Drahtkäfig besorgen, wenn er einen finden wird, der groß genug ist, weil einer aus Holz bald übel zu riechen anfangen wird, wenn wir in die Stadt zurückkehren. Wir hatten einen wirklich schönen Kuchen von Rudolfs
                Zollagenten als "Salz und Brot" (Das bekommt man von den Leuten geschenkt, wenn man umzieht), der vollständig mit Marzipan und kandierten Früchten bedeckt und unheimlich groß war!


                Jetzt aber auf Wiedersehen. Ich muß Babs aufwecken und dann Kaffee trinken. Katta ist zu ihrem Vater gefahren und ich dachte, sie würde schon längst wieder gekommen sein. Sie soll am übernächsten Sonntag bei einer Hochzeit Brautjungfer sein und hat heute schon ihre Kleider dafür getragen. Sie hat sich selbst ein weißes Kleid nach meinen Weldons Schnittmustern gemacht. Manchmal schickt mir Sally eine alte Ausgabe, wenn etwas schönes darin ist. Viele Liebe Grüße an Euch alle. Deine liebe Tante Lily.
                Verläßt Du "Vulkan" eigentlich wieder? Das wollte ich eigentlich noch fragen, vergaß es aber.

                Bildanhang ist ein gezeichneter Plan der neuen Wohnung
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                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                • Frank K.
                  Erfahrener Benutzer
                  • 22.11.2009
                  • 1318

                  #68
                  Dokument 57: Große König Straße 21, Donnerstag, 04.10.1906 (Neuer Stil)
                  Lieber Arthur,
                  Es sind jetzt zwei Wochen, seitdem wir wieder vom Strand zurückgekehrt sind, aber man hat das Gefühl, daß es schon lange her ist. Sogar Babs hat vergessen zu fragen, ob wir in die "danndy" (Veranda) gehen, obwohl sie immer noch von ihren kleinen Freunden und dem Hund der Vermieterin "Laisha", der immer um Zucker bettelte, spricht. Ich habe mich in diese Wohnung verliebt und habe schließlich doch das Gefühl, daß ich ein Haus bekommen habe. Dieses Gefühl habe ich das erste Mal, seitdem ich England verlassen habe. Ich habe Rudolf auch erzählt, daß ich so zufrieden bin und einfach dasitzen und meine Wände ansehen kann. Habe ich berichtet, daß ich sogar meine eigenen Tapeten aussuchen durfte. Das Ergebnis ist äußerst befriedigend. Ich wüßte nicht, daß sie der letzte Schrei und daher auch die teuersten waren. Der Vermieter erzählte Rudolf, daß sie £8 gekostet haben. Sie sind ganz glatt und ungefärbt. In jedem Zimmer, außer im Wohnzimmer ist in etwa 4 ft. Höhe ein Sockel oder eine Leiste in einer dunkleren Farbe. Im Büro- Eingang und im Eßzimmer sind sie eichenfarben und im Kinderzimmer, Schlafzimmer und im Eingangsbereich in einem dunklen Terrakotta Farbton, der leicht ins Rötliche geht. Die oberen Tapeten haben 3 oder 4 Inch breite Streifen, von denen einer wie Samt schimmert und der andere matt ist. Das Büro, der Eingang und das Eßzimmer sind cremefarben. 3 Räume sind rosa und das Wohnzimmer ist von unten bis oben blaß grün. Die Zimmer sehen hell und erhaben aus und die Bilder erscheinen einmalig. Die Möbel, die hauptsächlich eichenfarben sind, passen auch gut dazu. Ich fühle mich nicht so bedrückt, da es kein großes Gefängnis ist. Dort wohnt nur der Vermieter mit seiner Frau und einem schwarzen Spitz über uns. Sowohl die Hintertreppe, als auch das vordere Treppenhaus sind schön hell und haben große Fenster im Treppenaufgang. Man könnte denken, daß es ein älteres Haus in Riga ist, da einige Innenwände zwischen den Zimmern etwa 3 ft. dick sind. Man fühlt sich wie in einer Festung! Ich befürchte nur, daß wir im Sommer zu viel Sonne bekommen werden. Es ist so ermüdend, wenn man im langen Sommer weg gehen muß, da man nicht mitten in der Stadt bleiben kann. Weißt Du, wie hier die sanitären Einrichtungen sind? Da Du ein städtischer Inspektor bist, wird es Dich auch interessieren, weil ich noch nie davon berichtet habe. Unter dem Haus oder unter dem Hof ist eine große Grube, wohin in den alten Häusern alle Abwässer hineinlaufen. Wenn die Grube voll ist (im Jahr ein oder zweimal), kommen sie mit Wagen, Maschinen und Rohren und pumpen sie aus! Wenn man an die engen Straßen und die vielen Häuser mit den vielen Familien denkt, kann man sich vorstellen, wie ungesund das Leben hier im Sommer ist und man gerne noch eine zusätzliche Miete für das Strandhaus in Kauf nimmt. In der Vorstadt bekommen sie jetzt Wasserklosetts, die aber nicht gut sind. Letzten Freitag starb am Morgen leider unser kleiner Kanarienvogel. Ihm ging es am Donnerstag Abend noch einigermaßen gut. Er war so ein kleiner lieber Vogel. Das Weibchen schrie den ganzen Freitag und Sonnabend nach ihm, aber das arme Ding scheint jetzt doch über den Verlust hinweg gekommen zu sein. Ich denke, daß sie jetzt schrecklich einsam ist. Vielleicht war er doch alt oder krank, aber sang doch sehr schön. Wir wissen auch gar nichts von seinem Leben, bevor er in unser offenes Fenster hineingeflogen ist.
                  Wir haben uns jetzt doch zu einem Foxterrier durchgerungen und gingen letzten Sonntag morgens zum Hundeheim, um nachzusehen, ob wir einen finden können, den wir haben wollen, was uns aber nicht gelang. Nun müssen wir nächstens noch einmal dorthin gehen. Babs konnte sich nicht mit den Hunden anfreunden, da sie mit zwei oder drei Katzen beschäftigt war. Was habt Ihr eigentlich für Paddy bezahlt? Für einen Foxterrier verlangen sie hier eine Guinea.
                  Gestern kamen die Bücher an. Wenn Du sie nur gesehen hättest! Beim dicken Buch haben sie alle Seiten aufgeschnitten und beim kleinen haben sie den dicken Kartonrücken abgeschnitten (weil sie nach verbotenen Pamphleten gesucht haben). Ich habe erst die ersten zwei Kapitel gelesen, habe aber noch nicht mehr lesen können, da ich sehr mit Leintüchern für "Roleuaux", wie sie sie hier nennen, beschäftigt bin. Baby nennt sie "Lu-lu-lowy". Ihr macht es Spaß, Katta zu helfen, die Schuhe zu bürsten und bringt dann Rudolfs Schuhe zu seinem Bett, stellt sie dort ab und sagt: "Daddy, steh auf Daddy!", bis er es um des Friedens willen tut. Sie ist nachts eine Qual, da sie nicht gut schläft und unruhig ist. Letzte Nacht war ich sieben oder achtmal auf und wenn sie um 6.30Uhr für den Tag aufstand, war ich so müde, daß ich, nachdem ich sie angezogen hatte, wieder ins Bett ging. Dann habe ich verschlafen und bin erst nach 9Uhr aufgewacht. Ich fühlte mich dann besser und mußte umhereilen, weil Backtag war.
                  Geht Rowley eigentlich wegen der Bank zum Club, ist er nicht zu klein dafür? Ich möchte Euch gerne alle sehen. Ist Florrie noch bei "Vulcan", weil Du immer so sprichst, wie wenn sie immer hier wäre (Ich dachte, daß es ihr dort so gut im Zeichenbüro gefallen hat). Heute bekam ich, das erste Mal seit ihrer Hochzeit, einen Brief von Nellie und eine Ansichtskarte von Bertie aus Schottland. Ich habe Mrs. Whittle "The Chaplain of the Fleet" ausgeliehen. Es ist so interessant, daß ich es und das andere von Seton Merriman lese, wenn ich Zeit habe. Alice schickte mir das neueste Buch von Mrs. Humphrey Ward "Fennrick´s Career", von dem ich sehr enttäuscht bin. Ich kann mir nicht helfen, aber ich würde viel lieber 12 gute 6 Pence Bücher anstatt diesem lesen. In der August- Ausgabe der "Grand" hat eine nette Serie begonnen, aber Ada hat aufgehört, mir die "Grand" zu schicken, weil das "Dream & Business" so ermüdend ist, tut es mir jetzt wirklich leid.
                  Freitag 8.30Uhr abends: Rudolf ist zu einer Vorlesung über Nationalökonomie gegangen. Es ist für ihn eine wunderbare Gelegenheit herauszukommen und für mich fertig zu schreiben. Ich war fast den ganzen Tag draußen und bin seit 9Uhr morgens müde. Ich war auf dem Markt und nahm dann Babs bis zum Mittagessen in den Schützen Garten mit. Am Nachmittag gingen wir wegen eines Eßtisches aus Eiche und einer Kommode durch verschiedene Geschäfte und trafen Katta und Babs in den Anlagen. Als wir nach Hause kamen, war es dann nach 6Uhr abends. Babs wurde gerade ins Bett gebracht, liegt und singt allein. Sie spricht und singt oft, wenn sie allein ist, bevor sie einschläft. Morgen bin ich zu einem "Zuhause" eingeladen und will eigentlich nicht gehen. Wenn man dann aber nicht geht, denken die Leute, daß man sie nicht mag, aber ich mache mir daraus nichts. Diesmal ist es bei Mrs. Priestley. Sie ist Französin, aber er ist Ire. Sie und ihre Töchter geben Englischunterricht und sind sehr von sich eingenommen. Sie hat mich, seit dem ich hier bin, nicht beachtet. Jetzt auf einmal hat sie sich vorgenommen, sich mit mir anzufreunden. Es scheint ihr plötzlich eingefallen zu sein, daß wir doch besser sind als die anderen, obwohl wir es nicht so offensichtlich zeigen. Und ich werde doch gehen! Es ist nicht wert, sich mit ihnen herumzustreiten, wo es doch dort niemanden gibt, der mich herum kommandieren kann, auch wenn einige von ihnen denken, daß sie es mit mir machen können, so sehr es mir auch mißfällt. Es macht mir richtig Spaß, etwas herauszugehen und Leute zu beobachten - einige von ihnen sind sehr seltsam. Natürlich spreche ich mit niemandem, außer mit Rudolf, darüber. Sie können sich nicht vorstellen, daß sie kritisiert werden. Vergangenen Sonntag schickten uns Bergfrieds einen herrlichen Kuchen als "Salz und Brot" und kamen, um uns dabei zu helfen, ihn aufzuessen. Sie sind sehr nett, aber Deutsche (er ist Russe). Sie blieben furchtbar lange und ermüdeten mich. Sie kamen vor 4Uhr (zu sechst) und blieben bis nach 10Uhr. Es ist ein Glück, daß wir in der Nähe Geschäfte haben, da ich für das Abendessen nichts zu Hause hatte. Sie bekamen Wein und Kuchen, dann Kaffee und Kuchen und ich dachte, daß sie dann gehen würden, aber das machten sie nicht und der armen Babs war es mit so vielen Fremden um sich herum auch nicht gut. Ich war froh, als sie ins Bett gebracht wurde und das Abendessen auf dem Tisch war. Ich dankte dem Himmel, daß sie diesen Tag ausgewählt hatten, weil am Sonntag davor Katta bei einer Hochzeit Brautjungfer auf dem Land war und von Sonnabend abend bis Montag mittag frei hatte. Sie kam nach Hause und sah so aus, wie wenn sie nicht im Bett gewesen wäre. Trinkt Ihr am Kirschholz-Tisch Tee? Ich möchte Euch so gerne einen Gartenzwerg mitbringen, müßte aber dafür eine ganze Kiste nehmen. Sie sind so komisch. Wir machen uns Sorgen wegen der vielen Bombenwürfe in den Straßenbahnen und Ermordung von Männern, die arbeiten wollen. Hier ist auch wieder ein schrecklicher Straßenbahnstreik und Morde sind an der Tagesordnung. Mr. von Stürmer, der englische Pastor, sagt, daß er nicht weiß, wie sie diese Männer im Namen der Revolution auszeichnen können, wo sie doch alle Räuber und Mörder sind!
                  Liebe Grüße an alle - Lily K.
                  Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                  • Hueterin
                    Erfahrener Benutzer
                    • 14.01.2009
                    • 133

                    #69
                    Geschichteunterricht hautnah!.Alltag,Politik,soziales-alles eingepackt in liebevolle Briefe.Kenne nun auch Tante Lilly.Grüße,einst Geschichtelehrerin,Kunigunde

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                    • Frank K.
                      Erfahrener Benutzer
                      • 22.11.2009
                      • 1318

                      #70
                      Weiter mit dem Leben in Riga, um die Geschichtskenntnisse aufzufrischen (danke Kunigunde!):

                      Dokument 58: Sonntag, 04.11.1906

                      Meine liebe Florrie,
                      Wenn die G.O.P´s kommen, sehe ich immer nach, ob ein Brief dabei ist. Diese Zeichnungen sind beide ausgezeichnet, die von Perey und Rowley. Rowley muß ein Genie im auswendigen Zeichnen von Landschaften sein.
                      Wann werde ich Deinen Sketch in der G.O.P. abgedruckt lesen können?
                      Onkel Rudolf meint, daß der Brief, in dem Du erzählt hast, daß Du "Vulcan" verlassen hast, verloren gegangen sein muß. Meinst Du nicht, daß Du es berichten wolltest, es aber dann zu schreiben vergessen hast? Mir ist es die letzte Zeit auch nicht sehr gut gegangen. Ich wünschte, daß Du herüberkommen und mich etwas aufheitern würdest. Erzähle Mutter, daß ich nächsten Sommer Nachrichten von "den Kindern" schreiben werde, wenn alles gut geht und nicht von Dorothy allein.
                      Wir haben jetzt trübsinniges kaltes Wetter ohne Sonne mit einem eisigen Ostwind, so daß Babs sehr wenig herauskommt. Sie ist aber sehr glücklich mit ihren Spielsachen und einem Foxterrier, den wir vor zwei Wochen gekauft haben. Sein Name ist Bobbie. Er ist ganz weiß, außer einem gelben Fleck über seinem linken Auge und ist gegenüber allem gleichgültig, außer Stöcken und Steinen. Aber er hat uns alle gern und ist bei uns sofort zu Hause gewesen. Wenn Baby schreit, dann rennt er sofort los und will sehen, was los ist. Er bringt ihr normalerweise einen Stock oder Stein, um sich bei ihr einzuschmeicheln!
                      Wir waren letzte Woche bei Bergfrieds. Es war der Geburtstag von Mrs B. Ich will Dir erzählen, was es alles zum Abendessen gab. Verglichen mit einem englischen Abendessen ist es reine Angeberei! Sie hat vier Kinder (ein 6 Monate altes Baby, ein 6 Jahre altes Kind, das 3 Jahre krank war) und nur einen Diener. Seine Mutter wohnt auch bei ihnen. Zuerst gab es Hummer, Sardinen, Würstchen, Pilze, geräucherten Aal, geräucherten Lachs usw. und Schnaps oder Likör. Dann ein heißes Gericht, das nach Käse oder schlecht gewordenem Fisch schmeckte. Rudolf sagte mir später, daß es Hirn war. Mir tat es so leid, etwas davon genommen zu haben (ich bin bei russischem Essen immer etwas skeptisch). Danach Scheiben von gekochtem Schinken, die auf einer Platte mit viel heißen grünen Erbsen in der Mitte aufgelegt waren. Schließlich einen riesigen Kalbsbraten mit Kartoffeln, Soße, eingelegtem Gemüse, Maronen und saurer Strickbeer-Marmelade. Dazu gab es Bier und später Tee zu trinken und im Wohnzimmer dann Obst und Wein.
                      Wir kamen vor 12Uhr nach Hause. Der Mond schien schön. Eine andere Dame und ein Gentleman begegneten uns, als wir unserer Wege den elektrisch beleuchteten Alexander Boulevard gingen. Es machte mir Spaß, einmal zu gehen und nicht zu fahren. Früher gingen wir nachts oft zu Fuß, aber es ist jetzt gefährlich und wir essen (so gemütlich wir es ohne offen Kamin können) zu Abend und lesen in zwei gemütlichen Armsesseln Bücher und Zeitungen, weil wir am Tag keine Zeit dazu haben.
                      Es ist Kattas freier Sonntag und ich schreibe, während Baby ihren Nachtisch ißt. Ich esse sonst auch etwas, aber ich habe sie an diesem Morgen um 7.30 Uhr angezogen und übergab sie Katta. Dann nach einer Tasse Tee schlief sie wieder bis 10.30 Uhr. Ich bin oft am morgen übermüdet, weil sie mich in der Nacht so oft stört. Aber letzte Nacht war es nur viermal, daher geht es mir heute etwas besser. Wir haben sie noch immer nicht photographieren lassen. Wir wollen es immer, schaffen es aber nie. Ihr Haar ist goldbraun, fast flachsfarben. Erzähle Vera, daß sie große, graue Augen mit langen, dunkeln Wimpern hat. Sie ist solch eine Tratschtante und will alles tun, was ich mache. Sie und Bobbie sind hinter mir und Katta her, wohin wir auch gehen.
                      Es ist jetzt 4Uhr nachmittags und schon fast dunkel. Onkel Rudolf und Bobbie sind zur Post gegangen. Ich möchte jetzt diesen Brief beenden und eine Tasse Tee fertigmachen, bevor die gnädige Dame aufwacht. Ich nehme an, daß sie bald aufwacht, nachdem sie jetzt schon über zwei Stunden schläft.
                      Ich denke, daß Du das Leben nicht als sehr eintönig bezeichnen kannst, wenn viele von Euch beieinander sind. Du solltest erst einmal hier in einer Wohnung einen Winter erleben, damit Du einen Eindruck von Eintönigkeit bekommst. Die ganze Zeit sind solch dumme graue Tage! Im Sommer, besonders in einer Villa, ist es doch herrlich! Aber im Winter dauert jeder Tag so lange wie 10 Jahre!
                      Alle Leute hier sehen Jahre älter aus, als sie wirklich sind und ich denke, daß es von diesem abgeschiedenen Leben und bei diesen Öfen dem Verlangen nach frischer Luft kommt. Nun meine Liebe, auf Wiedersehen. Ich kann Deinen nächsten langen, unterhaltsamen Brief nicht erwarten. Viele Grüße an alle von Deiner Lieben Tante Lily.

                      *** Anmerkung: hier werden "Strickbeeren" erwähnt - das sind Preisselbeeren! ***
                      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                      • Frank K.
                        Erfahrener Benutzer
                        • 22.11.2009
                        • 1318

                        #71
                        Dokument 59: Dienstag 26.11./09.12.1906

                        Meine liebe Jennie,
                        Dein langer Brief kam mittags an. Vielen Dank für ihn und das beigelegte Photo. James ist dem armen Stanley ähnlich geworden. Ich habe ein kleines Bild von Stanley, das wahrscheinlich im Jahr nach unserer Hochzeit aufgenommen wurde. Kannst Du sein Grab vom Haus aus sehen? Es ist doch immer wieder traurig, wenn jemand um Weihnachten stirbt, so wie es in unserer Familie üblich ist. Babs sitzt in ihrem Hochstuhl und spielt. Ich habe ihr ein paar Trauben gegeben, mit denen sie glücklich ist. Rudolf liest das Buch von S. Herriman. Wir mußten jetzt schon Licht machen, obwohl es erst 3.30Uhr ist. Es ist so dunkel und unangenehm. Draußen ist scharfer Ostwind und starker Kahlfrost. Katta hat heute ihren freien Tag So sind wir heute allein und haben zur Zeit fast nie Besuch. Vor zwei Wochen kamen Bergfrieds zum Kaffee zu uns. Ich dachte, es würden vielleicht Whittles heute kommen, aber sie kamen bisher noch nicht. Sie sprechen immer davon, daß sie kommen wollen, kommen aber nie. Wir können auch nicht so oft hingehen, weil Mr. W. viel Arbeit in der Firma hat und am Sonntag, seinem einzigen freien Tag in der Woche, dann auch nicht viel ausgehen will. Niemand geht gerne spät in dieser Dunkelheit aus.
                        Am Donnerstag geschah ein weiterer schrecklicher Mord nicht weit außerhalb von Riga (etwa eine Meile vom Bahnhof weg). Etwa 4 Männer gingen etwa um 7 Uhr abends in ein Pastorat. Einer blieb in der Küche und bedrohte den Diener. Die anderen drei gingen ins Arbeitszimmer und man konnte Schüsse von dort hören. Seine Frau eilte herein und fand den armen Mann vor, der an drei Schußwunden starb. Die Bestien verlangten von ihr Geld und sie gab ihnen 1 1/2 Rubel (etwa 3/6!), woraufhin sie abzogen. Der arme Mann starb um 9 Uhr und seine Frau mit einem kleinen 2 Jahre alten Mädchen blieben zurück. Er war erst 36 Jahre alt. Wahrscheinlich werden die Mörder nie gefaßt! Hier wollte letzte Woche ein junger Mann einen Mann, seine Frau und das Kind für 50 Kopeken (1/1) erschießen. Er verletzte die Frau und wurde gefaßt. Letzte Woche wurden hier in Riga auch zwei große Bomben geworfen.
                        Ich erhielt Florries Brief und die G.O.P.s vor zwei oder drei Tagen und habe mich sehr darüber gefreut. Leider sind einige von Euch krank. Ich muß jetzt noch einige Weihnachtsbriefe schreiben und habe fast keine Zeit mehr dafür, weil es so schnell Weihnachten wird und ich so viel ruhen muß. Es scheint Verschwendung zu sein, muß aber gemacht werden! Baby wird etwa 6 Wochen weg sein, wenn Nr. 2 ankommt und ich hoffe, daß es dieses Mal besser gehen wird. Bestimmt habe ich auch einen besseren Arzt. Er meinte, daß ich auch eine Rot Kreuz Schwester bekommen kann, die dann kommen und bleiben wird, so wie die englischen Schwestern. Letztes Mal hatte ich auch eine Witwe - ich hasse diese ekelhaften alten Weiber. Es würde mir ja nichts ausmachen, wenn ich das Baby selbst füttern könnte, aber das geht leider nicht. Weil es aber Sommer ist, wird es vielleicht besser sein, eine Amme zu bekommen, so daß man keine Flaschen nehme muß. Ich hasse es doch so, wenn Fremde hier sind. Es ist solch ein Durcheinander in der engen Wohnung. Katta wird bestimmt auch zanken und zu regieren versuchen, so wie sie es bei der anderen Amme machte, die wir hatten. Schade, daß Arthur erkältet ist. Er war doch schon krank, als Du das letzte Mal schriebst. Rudolf hat sich gerade erst von einer schweren Erkältung erholt. Er ist immer im Winter erkältet. Arthur sieht auf dem Photo sehr weiß aus. Es wundert mich, wie es bei ihm so schnell ging. Ist es bei Alf und Ted auch so? Ich hoffe, daß Dein Tanz ein großer Erfolg werden wird. Florrie wird mir alles darüber berichten. Ich weiß, daß sie ausgezeichnete Briefe schreibt. Du weißt, daß ich am Sonntag nicht fertig wurde (Mittwoch) und habe seitdem keine Zeit gehabt. Am Montag haben wir das Hackfleisch gemacht und heute alle unsere "Puddings" fertig gemacht, daß wir sie morgen kochen können. Seit Sonntag hat es etwas geschneit und die Schlitten wurden auch herausgeholt. Babs und ich sind auch schon dreimal gefahren. Sie hat alles, was mit Pferden zu tun hat, sehr gern. Ich denke aber, daß es wieder tauen wird und wir wieder die übliche Waschküche mit Dunst und Dunkelheit wie im Winter haben werden. Im Winter fühle ich mich immer so schlecht, auch wenn es mit im Winter gut geht. Ich bin immer bereit, Selbstmord zu begehen und habe das Gefühl, wie wenn ich mit jedem und allen kämpfen würde. Ich fühle mich in diesem Zustand wieder so gequält. Es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn ich in England wäre!
                        Ich kann Dir noch nicht sagen, ob wir zu Weihnachten nach Libau fahren werden. Bis dann haben wir noch fast einen Monat Zeit und es ist noch zu früh wegen dem Geschäft und auch wegen mir, sich zu entscheiden. Wenn es möglich ist, dann will ich schon fahren. Ich wage zu sagen, daß es hier für mich mehr ermüdend wird, als zu Hause und auch viel aufwendiger. Wir wollten "Salt & Bowne´s Emulsion of Cod Liver Oil" für Baby besorgen, weil sie solch ein bleiches, kleines Wesen ist. Ich schrieb ihnen und sie schickten uns die Anschrift ihrer Agentur in Petersburg. Dort bestellten wir eine Flasche für 2/6, die heute ankam und 2,50 Rubel ( 5/5) kostete. Sie sagten, daß sie 1,75 Rubel (3/11) kosten würde und nehme an, daß der Rest für Verpackung usw. war. Wenn sie hier nur eine kleine Arbeit machen, dann wissen sie genau, wieviel sie dafür verlangen müssen! Das Material ist zwar furchtbar billig, aber sie machen dafür schlechte Arbeit und sind noch stolz darauf.
                        Ich hoffe, daß Ihr schöne Weihnachtstage haben werdet, einen Gedanken für dieses Exil übrig habt und denkt, wie schön es wäre, wenn ich bei Euch sein könnte, aber ich lebe weiter in der Hoffnung, daß ich eines Tages einmal Urlaub machen kann, wo doch diese kommende neue Ankunft ein neues Hindernis sein wird. Man kann auch mit Babies nicht gut verreisen und sie auf Verwandte loslassen, wo sie doch schon genug zu Hause zu tun haben. Weißt Du, daß hier ein sehr flaches, ödes Land ist, in dem es keine Gänseblümchen auf den Wiesen gibt. Du weißt doch, wie ich sie, die Narzissen und den Goldlack vermisse. Der einzige Goldlack, den man hier sieht, ist furchtbar teuer. Die armen Blumen werden in Töpfen in Gewächshäusern gezogen. Jedes Frühjahr bekomme ich wegen England einen besonders großen Stoß im Herzen.
                        Ich muß mich beeilen und für Weihnachten noch einige Briefe schreiben.
                        Dabei muß ich das Beste aus einer ruhigen halben Stunde machen, wenn Babs mit Katta wieder in der Küche ist. Viele liebe Grüße und Küsse an Euch alle und auch die besten Grüße von Rudolf.
                        Deine dich immer liebende Schwester Lily.
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                        • Frank K.
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                          • 1318

                          #72
                          Dokument 60: Donnerstag, 28.12.1906, 5.30 Uhr nachmittags

                          Lieber Arthur,
                          Dein Brief kam für die Sprechstunde des Konsuls zu spät an. Daher schreibe ich Dir jetzt und werde morgen hingehen und die Bescheinigung mitnehmen. Es reicht aber, wie bei Dir, nur zu einem kurzen Schreiben. Ich werde an Jennie und Florrie wieder mehr schreiben, wenn ich den Scheck bestätige. Bitte registriere ihn, wenn Du ihn schickst. Alf hat mir einen geschickt, der nicht registriert war und der ging irgendwo in England oder Rußland verloren. Wir haben ihn hier und Alf hat ihn in England widerrufen und wir hörten weiter nichts mehr über seinen Verbleib. Es vergingen aber drei Wochen, bevor Alf bemerkte, daß ich ihn nicht erhalten habe. Kannst Du bitte "The World & His Wife " für mich für ein Jahr ab Januar bestellen und bezahlen. Es hat keinen Sinn, aus lauter Freundlichkeit Ada zu bitten, es zu schicken, da sie zu unzuverlässig ist, wenn man es weiterhin haben möchte. Und das ist gräßlich. Kannst Du mir bitte auch für 5/- englische Briefmarken schicken. Babs hat jetzt auch fast ihre erste Flasche "Scott´s Emulsion" geleert und sie nimmt entweder dieses oder "Quacker Oats" zum Frühstück und zum Abendessen und es bekommt ihr sehr. Sie haßt "Scott´s", so daß ich es ihr am Tag nur einmal geben kann. Und darüber wundere ich mich gar nicht, da es mir auch nicht schmeckt! Rudolf sagt, daß es nach alten Schuhen schmeckt, was ich nur bestätigen kann.
                          Wir sind doch nicht nach Libau gefahren und hatten sehr ruhige Weihnachten. Am Nachmittag des Weihnachtstages gingen wir nur zu einer Pantomime Vorführung. Am nächsten Tag kamen Whittles und luden uns zum Abendessen ein. Da aber Katta schon zu ihrem freien Tag weg war, war es unmöglich. Wir waren traurig, weil Balls, Priestleys und einige andere Engländer hingingen. Am Sonnabend erwarte ich Mrs Schultz und ihre kleine Tochter und Mrs Smith und ihre zwei kleinen Jungen zum Tee. Dann werden wir zum zweiten Mal den Weihnachtsbaum anzünden. Als wie ihn am Weihnachtsabend das erste Mal anzündeten, war Babs begeistert. Ich gab ihr eine Puppe, Rudolf eine Musiktruhe und Katta ein Holzpferd. Zuvor bekam sie eine graue Stoffkatze und "Der Struwwelpeter". Das ist ein herrliches Buch, das hier alle Kinder haben. Rudolf hatte es auch schon, als er klein war. Hast Du es schon einmal gesehen oder davon gehört? Es wurde in alle Sprachen übersetzt und wurde 1845 von einem Arzt in Frankfurt geschrieben. Er wollte für seinen dreijährigen Jungen ein Buch haben, fand aber alle anderen Bücher so dumm, daß er selbst eines machte und später auch veröffentlichte. Die Bilder und Reime sind herrlich. Hat jemand von Euch Babs ein Bilderbuch mit Reimen von Mutter Gans geschickt? Irgend jemand hat es geschickt und es kam ohne einen Fetzen Packpapier, ohne Briefmarke und ohne ein Begleitschreiben darin an, so daß ich nicht weiß, wem ich dafür danken kann. Ihr gefällt das Buch sehr. Vor zwei oder drei Wochen gingen wir mit Whittles "Sherlock Holmes" ansehen. Habt Ihr es auch schon einmal gesehen? Es ist sehr melodramatisch und wir wollten morgen noch einmal gehen und uns "Our Kate" ansehen, aber es wird hier zum ersten Mal gespielt und man bekommt keine guten Plätze mehr. Ich muß aber jetzt wirklich Schluß machen. Liebe Grüße an Alle.
                          Deine Liebe Schwester Lily.
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                          • Frank K.
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                            • 22.11.2009
                            • 1318

                            #73
                            1907

                            Dokument 61: Januar 1907
                            Liebe Jennie,
                            Da ich gerade Zeit habe, schreibe ich etwas, solange mein Mann und mein Baby glücklich weggetreten sind. Wir hatten mit Babs wieder eine sehr unruhige Nacht und daher schläft Rudolf jetzt etwas den Schlaf der Gerechten. Außer am Sonntag bleibe ich nie länger liegen und alles geht dann schief, wenn man nicht dabei ist, obwohl Katta alles sehr gut macht.
                            Eine Mrs. Horsefield wird etwa in einer Woche für immer heimkehren und hat Verwandte in Heaton Chapel. Sie hat freundlicherweise versprochen, zu Sallie herüber zu fahren, um die neuesten Nachrichten von mir zu berichten und ihr ein Päckchen mitzunehmen. Dort kann ich auch einige Sachen für Euch hineinlegen. Es wäre schön, wenn Ihr an dem Tag, wenn sie kommt, nach Eccles fahren würdet. Dann könntet ihr Euch auch mit ihr unterhalten. Sie hat auch einen hübschen drei Jahre alten Jungen und wird mit ihm nach Hull fahren. Ich kann nicht viel mitschicken, weil das Päckchen zu klein ist, aber es sind auch ein paar Muster schöner Handarbeiten und einige eßbare Spezialitäten dabei, von denen ich hoffe, daß sie schmecken. Mrs. Hogg kommt nächste Woche für sechs Wochen nach Southport, Eccles und W.H.-pool und könnte auch gut etwas mitnehmen und mir etwas mitbringen, hat es mir jedoch nicht angeboten und ich möchte sich auch um keinen Gefallen bitten. Ich wünsche mir so sehr einen großen, weißen Babyschal, den man hier nicht bekommt, sowie eine kleine Kappe. Das werde ich Sallie mitteilen, damit sie sie bitten kann, wenn sie sie bei ihrer Schwester, Mrs. Noar sieht, damit sie es mir mitschicken kann.
                            Ich habe, so wie Du, etwas gegen eine Amme, aber es ist hier schon üblich, weil man hier Kinder ohne die Flasche nicht gut groß bekommt. Ich könnte heulen, wenn ich noch an alles erinnere, aber die arme Babs hat alles gut überstanden, und ist groß und stark geworden. In Sassenhof wohnt eine junge Mrs. Jones. Ich fürchte, daß sie jetzt eine genau so schlimme Zeit vor sich hat, wie wir sie überstanden haben. Ihr Junge ist 2 1/2 Monate alt und sie säugte ihn zuerst und konnte es dann nicht mehr. Zuerst gab sie ihm einen Teil Milch und zwei Teile Wasser alle vier Stunden, aber nicht in der Nacht zwischen 11 und 6Uhr (Anweisung des Arztes). Jetzt gibt sie es ihm je zur Hälfte, aber er kann es nicht aufnehmen und spuckt es wieder aus. Mrs. Whittle sagte ihr, sie soll den Arzt (er spricht englisch) holen. Er sagte, daß er jetzt nur noch die Hälfte wiegt und halb so groß ist, wie er sein sollte, weil sie ihm zu wenig zu essen gegeben hätten und dadurch sein Magen zu schwach geworden ist, um mehr zu verkraften. Er ist schon immer etwas klein gewesen (während seiner Geburt war sie drei Tage lang krank und das scheint hier auch normal zu sein). Ich befürchte fast, daß sie ihn verlieren wird. Ich denke (vielleicht habe ich auch unrecht), daß es ein Fehler ist, wenn man sie nicht ernähren kann, damit anzufangen und dann die Ernährung zu ändern, wenn ihr Magen sich an eine Art Nahrung gewöhnt hat. Ich dachte auch, daß sie im ersten Monat alle zwei Stunden Nahrung wollen. Denke nicht, daß sie hier etwas von Geburten und Babies verstehen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich es in England hinter mich bringen könnte, aber Dr. Berg scheint ein kleiner, einfühlsamer Mann zu sein, der selbst vier Kinder hat. Er hat auch wirklich das Leben von unserem Baby gerettet, der es jetzt sehr gut geht. Sie ißt normalerweise zwei Schüsseln Porridge, das Dotter von einem frisch gelegten Ei und ein Butterbrot zum Frühstück, sowie eine Flasche mit warmer Milch, wenn sie um 7 Uhr morgens aufwacht, weil sie nicht darauf verzichten will. Sie trinkt alles, außer Milch, aus einer Tasse und bekommt deshalb vor dem Aufstehen am Abend bevor sie ins Bett geht. Wenn sie nachts ins Bett geht, bekommt sie immer eine volle Flasche.
                            Nach dem Essen bekommt sie einen Teelöffel voll "Scott´s", den sie jetzt auch gern nimmt. Ich muß jetzt gehen und nach meinen Puddings sehen. Also auf Wiedersehen und liebe Grüße an Dich, Arthur und alle anderen.
                            Deine liebe Schwester Lily-
                            Ich lasse den Brief offen, bis der Scheck ankommt.
                            Donnerstag.
                            Wartet nicht länger auf den Scheck. Ich habe meinen bekommen - vielen Dank. Letzte Woche wäre ich fast erfroren als das Thermometer 24° Grad Frost anzeigte. Rudolf war auch schwer erkältet und Babs hatte Durchfall und war gestern krank, aber heute geht es ihr wieder gut. In Eile. Katta ist draußen. Deine Lily.
                            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                            • Frank K.
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                              • 22.11.2009
                              • 1318

                              #74
                              Dokument 62 Riga, Sonnabend im Februar 1907.
                              Heute ist wieder ein Feiertag, Onkel Rudolf schläft noch immer und Babs ist in der Küche und "hilft" Katta Kartoffeln zu schälen, so daß ich versuchen kann, Dir zu schreiben, solange es hier ruhig ist. Es freut mich, daß der Tanz ein solch großer Erfolg war. Ich denke, daß Vater und Mutter gute Gastgeber sein werden, weil sie wissen, wie man jedem das Gefühl gibt, sich zu Hause zu fühlen, wo es doch so viele Leute gibt, die das nicht schaffen. Du hörst Dich auf einmal wie eine junge, leichtsinnige Dame an, die wegen der vielen Tänze usw. fast anfängt zu schweben. Ich denke, daß Du einen Lehrgang in russischer Eintönigkeit haben solltest, um ruhiger zu werden. Ich dachte, Dir hätte der Tag danach Spaß gemacht, nachdem Du mit Mutter, Olive, Mabel und all den anderen gesprochen hattest.
                              Ich denke, daß ich einen anderen Feder brauche, da dieser alte Schatz aus England zu dick für dieses dünne Papier zu sein scheint.
                              Den Kanarienvögeln gefallen Feiertage auch nicht, weil es für sie zu ruhig ist. Der eine im Büro will gar nicht sprechen und seine Frau ruft immer vergeblich aus dem Eßzimmer nach ihm. Sie fängt jeden Morgen, nachdem ihr Käfig abgedeckt wird, an zu schwätzen. Er ist wie manche anderen Männer: er ist nicht sehr gesellig, bis er sein Frühstück gehabt hat. Ich muß Dir noch berichten, was für ein großartiges Weihnachtsgeschenk mir Onkel Rudolf gemacht hat. Es ist ein sehr schöner Pelzmantel, von dem man nur träumen kann! Er hat etwa £26 - keine Rubel!- gekostet. Er ist lang und ordentlich proportioniert, hat dickes grasgrünes Tuch innen, mit großen Ärmeln und einem großen Sturmkragen mit Revers und einer Manschette aus Skunk. Er ist vollständig wie ein Biber gezeichnet. Ich ziehe ihn gerne an! Ich sage, daß wir im Winter nach England kommen müssen, damit ich mit ihm angeben kann. Es sollte dann eine Ewigkeit dauern. Pelze scheinen hier auch jedes Jahr teurer zu werden. Mein Muff und meine Boa sind aus japanischem Fuchs und man kann kaum einen Unterschied zu Skunk feststellen. Sie sind etwas weicher und riechen natürlich nicht so ekelhaft. Aber mit diesem Mantel kann ich keine Boa tragen.
                              Onkel Rudolf sagt, daß wir, wenn das Geschäft die nächsten drei Jahre so gut weiter läuft, zu einem Urlaub nach England fahren können, vorausgesetzt, daß wir nicht zu viele Kinder haben werden, da ich nicht daran denken kann, sie hier zurück zu lassen. Am Dienstag Abend besuchten wir Meckeths. Dort waren noch 14 oder 15 andere. Ihr Sohn, der Offizier, der im Krieg verwundet wurde, kam von Petersburg herüber. Es waren auch viele von Margots Schulfreundinnen eingeladen. Es war ein typisch deutscher Abend. Wir waren zu 7Uhr eingeladen, bekamen aber nicht vor 1Uhr morgens das Abendessen. Mich zog es nach Hause, da ich befürchtete, daß sich Babs zu Tode schreien würde, während Katta friedlich schläft. Als wir aber um 3Uhr morgens nach Hause kamen, war alles in Ordnung und Katta schlief auf der Couch im Eßzimmer, damit sie hören konnte, wenn sie aufwacht. Vor dem Abendessen wurden Tee, Kuchen, Obst und Süßigkeiten mehrmals im Saal herumgereicht. Dann zum Abendessen gab es zuerst kalten Schinken, Zunge und heiße französische Bohnen, die so süß waren und wie Marmelade schmeckten, danach Hasen, Kartoffeln und Schlagsahne. Wir gingen nicht in den Saal zurück und gingen, sobald wir vom Tisch aufstehen konnten.
                              Gestern war mein Nachmittag, aber ich hatte nur zwei Besucher, nämlich Mrs. Whittle und Mrs. Hogg - letztere ist ein richtiger Eiszapfen. Mrs Whittle und ich sahen es mit Erleichterung, als sie ging und wir drängten sie auch nicht zu bleiben.
                              Babs ist sehr angetan vom Photo mit Euch allen. Es steht auf dem Klavier und sie nimmt es immer gerne uns zeigt dann auf "F´owwie" & "Rera" usw. ich lege von ihr 2 Haarsträhnen bei. Das hellere wurde im Sommer abgeschnitten und das dunklere um Weihnachten. Letzten Donnerstag wurde sie 2 1/2 Jahre alt und ich bin dankbar zu sagen, daß sie besser aussieht. Sie ist dicker geworden und hat rosa Backen, entwickelt aber einen sehr starken eigenen Willen. Tante Frieda wird am Anfang des nächsten Monats von Libau herüber zum Besuch kommen. Sie wird ein Schaukelpferd mitbringen, das die jetzt ausgewachsenen Kinder von Johanna hatten, so daß Freude aufkommen wird. Jetzt muß ich aber Schluß machen. Auf Wiedersehen und vielen Dank für das Angebot, mir die G.O.P.s zu schicken, aber es muß nicht sein, wenn es Dir zu viel Mühe macht. Ich möchte für Dich keine Belastung sein, wo ich doch schon immer Briefe darin bekomme. Liebe Grüße an alle von Deiner Lieben Tante Lily.
                              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                                • 22.11.2009
                                • 1318

                                #75
                                Dokument 63: Riga, Sonntag, im Februar 1907

                                Liebe Jennie,
                                Ich bin sicher, daß Vera sich wundern wird, weil sie von mir auf ihren Brief keine Antwort bekommt. Ich hatte (und habe noch immer) Bronchitis, bin im Bett und bekomme alle drei Stunden Kompressen, inhaliere Medizin und noch anderes. Dr. Berg kam heute früh und meinte, daß ich ein wenig aufstehen sollte, aber jetzt habe ich schon wieder eine Schnapskompresse aufgelegt, die wie die Hölle brennt und ich sie daher kaum ertragen kann. Er sagte, ich sollte sie bis morgen alle vier Stunden wechseln, aber ich befürchte, daß ich das nicht durchhalten werde. Er kommt dann Donnerstag, um zu sagen, daß ich und Baby wieder herausgehen können. Baby hat sich wieder erholt, hat Appetit und ist wieder sehr lebhaft. Wir lassen sie schon ins Büro gehen, aber noch nicht in die Küche, weil der Korridor kalt ist. Sie freut sich sehr und kam gestern mit, streichelte den Bettbezug und sagte zu mir (auf deutsch) mit erhobenem Zeigefinger: "Sei jetzt gut und schlafe in Ruhe und störe Mami nicht!" (so wie es Katta ihr gesagt hat) und trottet dann weg und greift nach mir als ihrem "Tröster". Sie wird niemals ohne ihn schlafen, auch wenn sie es nie in den Mund nimmt, sondern nur um ihre Finger wickelt. Sie kennt so viele Kinderreime, nimmt die Bücher und gibt vor, sie zu lesen. Wenn Du sie aber denkt, daß man sie beobachtet, dreht sie sich um und schämt sich. Rudolf ist noch immer erkältet und hat Kopfschmerzen. Ich denke, daß keiner von uns wieder richtig gesund werden wird, bis es wieder warm ist. Dann werde ich das Vergnügen einer weiteren "Monatskrankheit" haben und im Haus bleiben müssen. Wir durchdachten die Sache von allen Seiten und kamen zum Schluß, daß es, so unangenehm es auch sein wird, auf jeden Fall das Beste sein wird, für das Baby eine Amme zu bekommen. Vielleicht können wir eine gute, verheiratete Frau vom Land bekommen - keine von diesen Stadtmädchen. Ich habe daher zu Wilma, Rudolfs jüngster Schwester, geschrieben, damit sie etwas für uns tun kann. Bis Oktober wird es lange genug sein, obwohl viele sie sonst ein Jahr lang behalten. Bei den Russen ist es hier ganz normal. Im Sommer ist es für die Babies sehr, sehr schwierig. Hier gibt keine solch guten Einrichtungen wie in England und die Milch und die Luft sind schlecht und viele sterben an Durchfall. Es ist auch nicht fair, dem armen Ding die Zeit zu schwer zu machen, wenn es nur eine Frage der Vorurteile ist. Das sind doch arme Babies! Ich denke immer, daß sie sie - weiß der Himmel - bestens aufziehen! Ich möchte dieses nicht haben - Dorothy reicht mir schon.
                                Unsere zwei Vögel werden auch immer lebhafter. Wir haben den einen am Sonntag im Büro herausgelassen. Er freute sich so sehr und wir dachten, wolle nicht zurück in den Käfig und wir wollten ihn, bis wir schlafen gingen, draußen lassen. Dann aber dachten wir, daß er doch Angst bekommen würde und wollten ihn wieder einfangen. Als es schon fast dunkel war, ließ er sich in einer Pflanze nieder. Als es aber richtig dunkel wurde und wir ihn einfangen wollten, war er verschwunden! Wir durchsuchten das ganze Zimmer, aber mußten dann ins Bett gehen, ohne ihn gefunden zu haben. Wir dachten daß er sicher tot sei. Am nächsten Morgen wurde der andere Käfig hereingebracht. Als der Kanarienvogel zu singen anfing, begann der andere aus einem offenen Bücherfach zu antworten. Daraufhin nahm Rudolf seine Kopierbücher nacheinander heraus. Auf einmal flog er ihm ins Gesicht. Er flog wahrscheinlich oben auf die Stange, fiel dahinter herunter und hatte dann keinen Platz mehr, um seine Flügel auszubreiten und wieder hoch zu fliegen. Bei diesem Abenteuer scheint ihm nichts passiert zu sein. Nächsten Monat werden wir sie wieder zusammen in einen Käfig sperren.
                                Wir fragen uns, ob Ihr schon das Päckchen bekommen habt und hoffen, daß Ihr die Sachen mögt. Die dicke Wurst (Salami) schmeckt nicht nach Knoblauch, obwohl manche damit gewürzt sind. Rudolf vergaß Euch danach zu fragen. Wir vergaßen auch eine Flasche Wodka mit einzupacken, die man zu den salzigen Dingen, nach russischer Gewohnheit, trinken muß. Wir waren aber beide krank und es war solch eine Hektik. Ich wollte auch noch für jeden von Euch etwas hereinlegen, konnte es dann aber doch nicht. Wie immer schämte ich mich auch dieses Mal wieder, Mrs. Horsefield ein so großes Paket mit zu geben, das fast 20 Pfund wog. Ich war außerdem nicht die einzige, für die sie eines mitnahm, sagte aber, daß sie genug Platz dafür hätte. Außer der Erkältung und dem Husten, den ich habe, geht es mir sonst ganz gut. Ich bin dieses Mal bis jetzt nicht in Ohnmacht gefallen, fühle mich fast so. Es ist einfach dieses kranke Gefühl, das man die ganze Zeit hat - ich denke, daß Du es auch genau kennst. Es ist wirklich schlimm, eine Frau zu sein und das gibt mir oft das Gefühl, krank und lebensmüde zu sein, besonders in diesem haßerfüllten Land im Winter. Ich nehme an, daß es der ausdrückliche Wunsch nach frischer Luft ist. Und wenn man dann so wenig Menschen sieht, kommt dieses Gefühl. Aber die Männer sind immer noch besser dran und ich werde sehr beleidigt sein, wenn das nächste Baby ein Junge wird. Aber es ist egal, da alle in Libau und Rudolf sich dann freuen werden. Sie werden aber dann beleidigt sein und trotzdem nichts sagen, wenn es ein Mädchen wird.
                                Es ist lustig, welche Vorstellungen hier die Leute von England haben. Dr. Berg denkt, daß es die ganze Zeit in Nebel gehüllt ist. Eine Dame fragte mich, ob wir immer "Hafergrütze" zum Frühstück essen. Solche dumme Gedanken! Ich wage auszusprechen, daß einige von ihnen denken, daß wir die ganze Zeit wie altertümliche Briten herumlaufen!
                                Ich habe wirklich nichts mehr zu sagen, da hier ein Tag wie der andere ist. Man steht auf, oder bleibt im Bett, wenn man zu krank ist um aufzustehen und sehnt sich nach der Nacht. Ich denke, daß das bis zum Sommer so gehen wird, bis es etwas besser werden wird. Danke Vera für ihren Brief, da ich zu müde bin, um ihr heute noch zu antworten. Ich werde mich jetzt auch jetzt etwas zu Babs legen. Sie macht jetzt ihren Mittagsschlaf, der gestern drei Stunden dauerte!
                                Liebe Grüße an Euch alle von Deiner lieben Schwester Lily.
                                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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