Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1318

    Dokument 93: Riga, Montag 23.11.1910 (Poststempel), 10Uhr morgens.
    Lieber Arthur und liebe Jennie,
    Alle Kinder sind jetzt im Bett, aber ich kann das Baby noch hören, wie es um ihr Bett wandert und sich freut. Ich denke, daß ich heute Nacht wenig Ruhe haben werde und schon fertig schreiben will, weil ich nicht viel zu sagen habe. Sallie schickte uns eine Einladung zu Nellies Hochzeit und das hat mir, denke ich, noch mehr Heimweh bereitet. Wirst Du hingehen? Ich hoffe, daß ich von Florrie einmal einen langen Bericht bekommen werde.
    Wir sind hier so vom Unglück verfolgt, daß ich ganz dünn werde und meine Kleider teilweise wie ein Sack sind. Das bringt mich zur Verzweiflung, weil es für mich wieder zusätzliche Arbeit bedeutet, da ich den ganzen Tag und die halbe Nacht auf den Füßen bin. Unsere Hilfe verschwand auch wieder nach einer Woche und war mehr eine Behinderung als eine Hilfe. Unser nettes Bürofräulein ist auch mit einer Lungenentzündung zu Hause und ich habe große Angst um sie. Ich habe sie so gern, daß es jetzt schon schrecklich ohne sie ist. Frieda ist auch weg. Wenn Rudolf weg gehen will, muß doch auch jemand da sein und ins Büro gehen. Und schließlich wird uns auch Pauline, die jetzt zwei Jahre bei uns war, am Freitag verlassen. Die Kinder hatten sie doch so gern! Sie geht nach Moskau. Das Strandleben hat sie verdorben, weil sie dort einen russischen Diener kennengelernt und von ihm gehört hat, welche hohen Gehälter sie dort bekommen. Dann kann man mit ihnen nichts mehr anfangen. Sie tut mir so leid, da ich sie mag, aber sie ist faul geworden. Wenn sie gut zu den Kindern sind, muß man sich um die anderen Sachen kümmern, aber keine von ihnen ist vollkommen. Wenn man eine bekommt, die ordentlich und sauber ist, dann kann man dankbar sein. Ich habe einige russische und deutsche Lieder für die Mädchen gekauft und werde sie herüber schicken, wenn ich dafür Zeit habe. Ein bestimmtes Stück, das ich haben wollte, habe ich nicht bekommen und muß es irgendwann noch einmal versuchen. Bitte doch, wenn mein Scheck kommt, eines der Mädchen, mir eine leichte Ausgabe vom "Mikado" zu besorgen. Hier wird immer nur die "Geisha", aber niemals der "Mikado" gespielt. Macht das viel Umstände? Denkst Du, daß die "Children´s Encyclopedia" sich lohnt? Ich habe einige Ausgaben bei Mrs. Smith gesehen und sie gefallen mir. Ich denke, daß es vielleicht einmal günstig in einer Gebrauchtliste zu finden sein wird. Ich habe jetzt das Baby zum dritten Mal zugedeckt. Sie saß da und spielte mit einem Kissen. Ich weiß nicht, ob diese letzte Nichte eine Bowes oder eine Karnowsky ist, aber ich weiß, daß sie mir fast alle Kraft nimmt. Sie ist voller Schwung und lebhaft, schläft sehr wenig und ist das lustigste Mädchen, das ich jemals gesehen habe. Ich muß aber jetzt fertig werden, weil ich zu müde bin, um noch mehr zu schreiben und ich denke, daß es 12 oder 1Uhr morgens werden wird, bevor mich diese junge Dame schlafen läßt.
    Dienstag: Heute ist es unheimlich schön mit solch einem schönen Sonnenschein, daß man sich schon fast so wie im Sommer fühlt. Leider kann ich mit den Kindern unter diesen Umständen nicht ausgehen. Wenn Frieda und das Bürofräulein hier wären, wären wir länger mit ihnen herausgegangen. Rudolf geht es auch nicht so gut. Er leidet im Winter immer an einer häßlichen Neuralgie (oder Muskelrheumatismus, wie es der Doktor nennt). Wenn er nur die geringste Erkältung hat, dann hat er wieder einen schlimmen Anfall. Ich habe auch wieder schreckliche Kopf- und Rückenschmerzen bekommen und möchte mich gerne einmal ausruhen, aber Du weißt, daß ich wie ein Zugpferd bin und lange weitermachen kann, auch wenn ich nur noch halb so kräftig bin, wie ich es in Blackpool war. Es ist hier ein Klima wie in Southport, bei dem man sich gut erholen kann und sich sehr müde fühlt, wenn man niemals von hier wegkommt.
    Du kennst doch Herbert Noar aus Eccles. Eines seiner Mädchen ist hier bei ihrer Tante Mrs. Hogg (Mr. Hogg ist Emma Bennets Bruder). Sie hat mich zwei- oder dreimal besucht und war letzten Montag auch hier. Sie wird im Mai wiederkommen. Ich denke, daß sie ein wenig Heimweh hat und ihre kleine Schwester in Dorothys Alter vermißt. Die Kinder von Mrs. Hogg sind älter. Sie hat sich gefreut, den "Manchester Guardian" wieder zu sehen und nahm zwei Ausgaben mit, um sie zu ihrem Vergnügen zu lesen. Wenn man so einen milden Winter wie diesen erlebt, schöpft man wieder neue Hoffnung. Es sieht wirklich schon so aus, als würde der Frühling schon kommen. Die Schiffe konnten auch die ganze Zeit fahren. Die Düna war weiter oberhalb gefroren, aber jetzt haben wir Eisgang, jedoch mit wenig Eis. Die Fährboote fahren fast die ganze Zeit, aber die Pontonbrücke wurde herausgenommen. Rudolf sagt, daß es fast so, wie im ersten Jahr, in dem ich hierher gekommen bin, ist. Dann habe ich wieder an diese schlimmen, so ekelhaften Winter gedacht, daß ich schon wieder dachte, daß dieser Winter doch sehr angenehm war.
    In diesem Jahr wird der 200. Jahrestag von Rigas Eroberung durch Rußland gefeiert. Davor gehörte das Land zu Schweden. Im Alexander Boulevard haben sie eine riesige Statue von Peter dem Großen errichtet und ich denke, daß sie auch Feiern veranstalten werden, die aber, so denke ich, für die Balten und die Letten halbherzig sein werden da sie einerseits die Russen nicht gerade sehr lieben, aber andererseits doch mit jubeln müssen, wenn man es von ihnen erwartet.
    Ich habe gerade die Putzfrau zur Stellenvermittlung weggeschickt. Dort kann man sehr viele Mädchen haben, die von ihren Damen weggegangen sind. Für mich ist das ein Wunder, daß einerseits alles sehr teuer ist, aber die Gehälter sehr niedrig sind. Viele der Damen würden für £1 pro Monat kommen. Und für ein Büromädchen, das außerhalb lebt, ist £1 pro Woche eine gute Bezahlung - nur wenige verdienen so viel. Die meisten bekommen 15/- bis 19/-. Ich frage mich, wie sie davon leben können, wo doch Kleider usw. so teuer sind.
    Ich kann jetzt nicht mehr schreiben. Die Kinder sind ziemlich kränklich und streiten sich schon die ganze Zeit. Ich denke, daß sie mehr frische Luft brauchen, weil sie immer schön miteinander spielen.
    Liebe Grüße an alle von Deiner lieben Schwester Lily -
    P.S. Hast Du das Buch "Liza of Lambeth" gesehen?
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1318

      1911

      Dokument 94: Montag, 3. Januar 1911:
      Das neue Jahr hat begonnen. Jetzt am Donnerstag ist ein weiterer Feiertag. Die Heiligen Drei Könige. Dann machen die russischen Popen eine Prozession von der Kathedrale zur Düna und segnen das Wasser. Das ist ein hoher Feiertag. Dann geht es wieder los. Wir gingen an Silvester (New Years Eve) um 6Uhr abends in die deutsche Kirche. Ich war auch überrascht, daß ich in der Kirche oft heulen mußte, aber ich fühle mich in einer deutsche Kirche besonders einsam und dort saß ein Mann vor mir, dessen hintere Ansicht mich genau an Vater erinnerte. Mathilde ging auch in die Kirche. Als wir nach Hause kamen, ging das Fräulein nach Hause, um das neue Jahr zu erwarten (hier sagen sie ihr Schicksal am Silvesterabend voraus, wie bei uns am "All Hallows Eve"). Am kommenden Tag hatte sie frei und am Sonntag dann Mathilde.
      Gestern dachte ich dann, daß man ein oder zwei Stunden ausgehen könnte, da wir die ganze Zeit während der Feiertage zu Hause saßen und uns keinen Spaß gönnten. Nach dem Essen fuhren Rudolf und ich nach Bona Ventura. Wir wünschten dem Vertreter und seiner Frau ein glückliches Neues Jahr und bestellten noch 4 cwt. Kartoffeln und kamen um 7 Uhr abends nach Hause. Draußen war alles mit dickem Schnee bedeckt und es waren noch viele Menschen unterwegs, die auf der Chaussee fuhren oder spazierten. Es war herrlich, wieder einmal aus der Stadt heraus zu kommen. Wir werden wahrscheinlich Anfang Mai hinfahren. Vater sagte, er würde "Eliz & her Garden" und später "The Brass Bottle" schicken, aber gestern kam "Running Water" an. Ich habe es angefangen, obwohl ich es eigentlich für den Sommer aufheben wollte, aber dann doch nicht warten konnte.
      An Silvester brachte mir Mrs. Schultz die Weihnachtsausgabe von Pears & "The Ladies Home Journal". Das ist wirklich das schönste Magazin, das ich seit langer Zeit gesehen habe. Wenn ich es hier bekomme und es nicht zu teuer ist, werde ich es zur Abwechslung eine Zeit lang nehmen. Es wird in Philadelphia herausgegeben. Ich denke, daß die amerikanischen Bilder viel besser als unsere sind. Die letzten zwei Tage haben die Glocken ununterbrochen geläutet. Man verteilt hier keine Weihnachtsgeschenke, sondern Neujahrsgeschenke, die nichts anderes bedeuten, als daß man nur am Geld ausgeben ist. Alle Vagabunde kommen, um einem "Good Luck" zu wünschen und man muß ihnen dann Geld geben. Gerade hat Rudolf drei Wachmännern ein Trinkgeld gegeben - Weiß der Himmel, wieviele noch kommen werden, obwohl wir doch nur einen eigenen haben. Und sie sind alle so betrunken und schmutzig! Ich drängte Rudolf dazu, diese zwei Tage weg zu fahren.
      Wir bekommen jeden Tag drei Zeitungen (auch den Guardian). Jede kommt extra, so daß man dreimal Trinkgeld geben muß. Dann kommen die Briefträger, Telegraphenmänner, Fuhrleute, Hausmeister, Polizisten, viele Zöllner, sowie Arbeiter von allen Firmen, die "Rosin Sallow" usw. von Rudolf kaufen - nicht zu vergessen die Milchfrau, den Fleischerjungen und die Putzfrau. Diese Geldgierigen sind hier unverschämter als in England. Wirst Du dieses Jahr das Haus verlassen oder Dich etwas länger amüsieren und bis 1912 warten? Wenn es so ist, muß ich auch noch etwas warten.
      Jetzt aber liebe Grüße an Euch alle. Ich hoffe, bald wieder von jemand von Euch zu hören.
      Deine liebe Tante Lily -
      Montag 10Uhr morgens. Der Scheck ist angekommen. Vielen Dank. Ich war gerade auf dem Markt. Hier bläst ein starker Wind, so daß die armen Kinder nicht heraus können! Gestern waren wir in der Kirche und haben am Nachmittag den Baum zum letzten Mal angezündet. Freitag gehen wir zu Balls zum Abendessen. Es ist Mr. Balls Namenstag. Donnerstag waren wir im Theater.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • Wolfg. G. Fischer
        Erfahrener Benutzer
        • 18.06.2007
        • 4919

        Hallo Frank,

        toll, was Du hier eingestellt hast. Schade, dass es hier abbricht.

        Mit besten Grüßen
        Wolfgang

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        • econ
          Erfahrener Benutzer
          • 04.01.2012
          • 1424

          Hallo,

          ich schließe mich meinem Vorredner an.
          @Wolfgang: Vielen Dank, daß du diesen Thread ausgegraben hast. Ich werde alles in Ruhe lesen.

          LG von Econ

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          • mBuzenval17
            Neuer Benutzer
            • 25.02.2024
            • 1

            Hello Frank,

            This is fascinating - I'd love to know how Lily and Rudolf met.

            Kind regards,
            Michel (a great grandson of Arthur :-)

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            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1318

              Hello Michel,

              welcome to our Forum".

              I can't tell you the lovestroy of Rudolph and Lily ...
              Rudolph had his apprenticeship in Riga as a merchant in a Export firm. He than went to Manchester and attended the "Owens College" (I know this from his registration card). He attended the classes of marked in Political Economy and Commercial Law in 1899/1900.
              When he met Lily - I don't know probably abt. 1899 or 1900 ... we have no familyrecords telling their lovestory.
              The marriage - certificate is dated 14. Feb. 1903, short time after they left England for Riga ... and then the story beginns.

              Kind regards
              Frank
              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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