Dokument (Fragment) 36: Herbst 1905
...in eine Wiege (wenn sie älter ist, kann man sie wegnehmen). Es ist blaßblau und silbern und Ich habe weiße Musselin Vorhänge daran gemacht. Sie sitzt neben mir auf Kattas Knie und zeichnet mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier. Sie scheint mit dem Papier so glücklich zu sein, und liebt es so, wie ein Buch. Ich möchte, daß Du Ihr zu Weihnachten ein 1/- Buch kaufst, wenn es nicht zu viel Mühe macht. Wenn es geht in Leinen (aber es macht nichts, wenn wir es ihr zeigen können) mit großen, farbigen Bildern. Ich sah in einer Anzeige Louis Wains Animal Book für 1/-. Hast Du es auch gesehen? Du kennst doch seine netten Katzen. Kann man noch das alte A.B.C. bekommen, in dem wir lernten A als Arch (Bogen) usw.? Mrs. Wood hat ihr ein Buch "Kindergarten Alphabet" geschickt. Ich denke aber, daß es für Kinder ziemlich dumm ist. G ist ein Grammophon, M ist ein Motorwagen usw.
Sie kann jetzt an Stühlen und mit etwas Hilfe gehen, aber noch nicht allein. Ich weiß nicht, was ich ohne Katta tun sollte. Sie ist so gut zu ihr! Jetzt schiebt sie sie in ihrem Kinderwagen herum. Es ist ihr freier Sonntag und wir sitzen im Büro. Rudolf liest den neuesten Guardian im Wohnzimmer. An einem Tag war ein guter Brief aus Moskau darin. Der Schreiber sagt, daß es eine destruktive und keine konstruktive Revolution ist. Niemand kannte die Bedeutung von Freiheit und alle waren wie Kinder mit einem neuen Spielzeug. Wenn man sie fragte, wußte keiner, was er wollte. Ich denke, daß ich meine Reitstunden nächste Woche wieder beginnen kann. Ich war jetzt drei Wochen lang nicht mehr reiten. Zuerst gingen keine Schiffe und dann war es drüben etwas zu unsicher.
Donnerstag: Baby, Katta und ich gehen zu Mrs. Schultz zum Tee. Es ist für die Kinder nett, wenn sie zusammen sein können (nur sie kämpfen immer miteinander). Sie wohnt ganz nah in der Stadt, aber ich möchte diesen Winter nicht zu Mrs. Whittle oder zu anderen gehen, die in der Vorstadt wohnen, da es jetzt schon früh dunkel wird. Wir müssen schon um 4Uhr Licht machen. Wenn alles gut geht, wollen wir zu Weihnachten nach Libau zu fahren, um dort Weihnachten zu feiern, aber ich werde die ganze Zeit Angst haben, daß die Eisenbahn bestreikt wird und wir nicht zurückfahren können. Ich denke, daß es in Libau schwieriger ist, als hier.
Am Mittwoch haben sie einen Polizeioffizier, den Rudolf kannte, umstellt und beschuldigt, Männer zu bestechen. Sie wollten ihn in den Hafen werfen, schleiften ihn aber vor ein "Comittee" von Männern in einer Fabrik. Das Ergebnis war, daß sie ihn herausbrachten und erschossen! Soldaten usw. sind nirgends anzutreffen, wenn man sie braucht, und die Polizei taugt nichts. Von Rudolf wurden einige Barren Blei gestohlen. Er zeigte es an, aber sie sagten, sie könnten in so einer geringen Angelegenheit nichts unternehmen. In den letzten Unruhen ging ein Mr. Mitschke, der ein Geschäft voll von Waffen hat, zu ihnen und bat um Soldaten, weil er fürchtete, der Mob würde ihn berauben und sich bewaffnen. Sie sagten aber, sie könnten nichts tun und er müsse sich selbst schützen. Dies sagten sie auch, als der Vermieter von Mrs. S., in der Straße von 10 Männern umringt wurde, die von ihm Geld wollten. Er gab jedem 1 Rubel. Sie sagten ihm, wenn er nicht jedem noch 10 Rubel geben würde, würden sie um 3Uhr kommen und ihn aufhängen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, aber er wurde noch nicht gehängt. Dies ist ein schreckliches Land, in dem niemand Ehrfurcht vor dem Leben hat. Zwei Fischweiber stritten am Donnerstag auf dem Markt miteinander. Die eine tötete die andere mit einem Schlag. Ich hoffe, daß wir es sicher überstehen.
Liebe Grüße an alle. Eure Lily K.
P.S. Montag: Denke nicht, daß ich blutrünstig bin. Es tut mit schrecklich leid, über solche Vorkommnisse nachdenken zu müssen, aber es ist zu schlimm für andere. Wenn Ihr hier wärt, mit ihnen zu tun hättet und sehen würdet, wie sie sich benehmen, dann würdet Ihr besser verstehen, wer und was sie sind. Es macht mich so rasend, wenn ich darüber nachdenke, daß Engländer für sie Unterschriften geben und ihre eigenen armen Leute zu Hause verhungern lassen, wo sie doch arbeiten würden, wenn sie es könnten.
Ich kann kein Geld für das Buch für Baby schicken, da ich keine englischen Briefmarken mehr übrig habe. Wenn Ihr es aber vorstrecken könntet und es dann von meinem Geld nehmt, wenn es kommt, wäre ich sehr dankbar. Wenn der Scheck kommt, dann schickt mir bitte für 5/- davon in Briefmarken. Heute ist die Sonne wieder verschwunden. Es ist düster und dunkel und feiner Schnee fällt die ganze Zeit vom Himmel. Ich denke nicht, daß ich mit Babs heute herausgehen werde. Ich habe ihr eine unzerbrechliche Puppe gekauft und ziehe sie jetzt für Weihnachten an. Sie freut sich so, wenn ich sie ihr für ein paar Minuten gebe. Dann liebt und pflegt sie sie wie ein großes Mädchen. Von Rudolf wurden wieder einige Barren weißes Blei aus dem Lager gestohlen (60 Rubel). Die Frau des Hausmeisters ist jetzt hereingekommen und wütet in lettisch, und sagt, daß sie nicht auf alles aufpassen können usw. Ich fürchte, daß wir diese Wohnung verlassen müssen. Sie ist in vieler Hinsicht nicht einwandfrei, aber ich befürchte, daß wir keine andere mit einem Bad oder heißem Wasser bekommen werden. Es ist schrecklich, hier in Rußland leben zu müssen! Der Vermieter kommt unangemeldet herein, wann es ihm paßt. Genau so auch der Hausmeister oder seine Frau (sie trägt Holz, putzt die Treppe, den Hof und die Straße usw. - richtig grobe Leute!). Man kann sich nie in diesem Land zu Hause fühlen; es ist eher wie ein logieren, fast aber wie in einem Gefängnis, Ich weiß nicht, wie Rudolf sich gerade jetzt bei so einer Frau beherrschen kann. Ich würde sie am liebsten rausschmeißen. Nochmals Deine Lily.
...in eine Wiege (wenn sie älter ist, kann man sie wegnehmen). Es ist blaßblau und silbern und Ich habe weiße Musselin Vorhänge daran gemacht. Sie sitzt neben mir auf Kattas Knie und zeichnet mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier. Sie scheint mit dem Papier so glücklich zu sein, und liebt es so, wie ein Buch. Ich möchte, daß Du Ihr zu Weihnachten ein 1/- Buch kaufst, wenn es nicht zu viel Mühe macht. Wenn es geht in Leinen (aber es macht nichts, wenn wir es ihr zeigen können) mit großen, farbigen Bildern. Ich sah in einer Anzeige Louis Wains Animal Book für 1/-. Hast Du es auch gesehen? Du kennst doch seine netten Katzen. Kann man noch das alte A.B.C. bekommen, in dem wir lernten A als Arch (Bogen) usw.? Mrs. Wood hat ihr ein Buch "Kindergarten Alphabet" geschickt. Ich denke aber, daß es für Kinder ziemlich dumm ist. G ist ein Grammophon, M ist ein Motorwagen usw.
Sie kann jetzt an Stühlen und mit etwas Hilfe gehen, aber noch nicht allein. Ich weiß nicht, was ich ohne Katta tun sollte. Sie ist so gut zu ihr! Jetzt schiebt sie sie in ihrem Kinderwagen herum. Es ist ihr freier Sonntag und wir sitzen im Büro. Rudolf liest den neuesten Guardian im Wohnzimmer. An einem Tag war ein guter Brief aus Moskau darin. Der Schreiber sagt, daß es eine destruktive und keine konstruktive Revolution ist. Niemand kannte die Bedeutung von Freiheit und alle waren wie Kinder mit einem neuen Spielzeug. Wenn man sie fragte, wußte keiner, was er wollte. Ich denke, daß ich meine Reitstunden nächste Woche wieder beginnen kann. Ich war jetzt drei Wochen lang nicht mehr reiten. Zuerst gingen keine Schiffe und dann war es drüben etwas zu unsicher.
Donnerstag: Baby, Katta und ich gehen zu Mrs. Schultz zum Tee. Es ist für die Kinder nett, wenn sie zusammen sein können (nur sie kämpfen immer miteinander). Sie wohnt ganz nah in der Stadt, aber ich möchte diesen Winter nicht zu Mrs. Whittle oder zu anderen gehen, die in der Vorstadt wohnen, da es jetzt schon früh dunkel wird. Wir müssen schon um 4Uhr Licht machen. Wenn alles gut geht, wollen wir zu Weihnachten nach Libau zu fahren, um dort Weihnachten zu feiern, aber ich werde die ganze Zeit Angst haben, daß die Eisenbahn bestreikt wird und wir nicht zurückfahren können. Ich denke, daß es in Libau schwieriger ist, als hier.
Am Mittwoch haben sie einen Polizeioffizier, den Rudolf kannte, umstellt und beschuldigt, Männer zu bestechen. Sie wollten ihn in den Hafen werfen, schleiften ihn aber vor ein "Comittee" von Männern in einer Fabrik. Das Ergebnis war, daß sie ihn herausbrachten und erschossen! Soldaten usw. sind nirgends anzutreffen, wenn man sie braucht, und die Polizei taugt nichts. Von Rudolf wurden einige Barren Blei gestohlen. Er zeigte es an, aber sie sagten, sie könnten in so einer geringen Angelegenheit nichts unternehmen. In den letzten Unruhen ging ein Mr. Mitschke, der ein Geschäft voll von Waffen hat, zu ihnen und bat um Soldaten, weil er fürchtete, der Mob würde ihn berauben und sich bewaffnen. Sie sagten aber, sie könnten nichts tun und er müsse sich selbst schützen. Dies sagten sie auch, als der Vermieter von Mrs. S., in der Straße von 10 Männern umringt wurde, die von ihm Geld wollten. Er gab jedem 1 Rubel. Sie sagten ihm, wenn er nicht jedem noch 10 Rubel geben würde, würden sie um 3Uhr kommen und ihn aufhängen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, aber er wurde noch nicht gehängt. Dies ist ein schreckliches Land, in dem niemand Ehrfurcht vor dem Leben hat. Zwei Fischweiber stritten am Donnerstag auf dem Markt miteinander. Die eine tötete die andere mit einem Schlag. Ich hoffe, daß wir es sicher überstehen.
Liebe Grüße an alle. Eure Lily K.
P.S. Montag: Denke nicht, daß ich blutrünstig bin. Es tut mit schrecklich leid, über solche Vorkommnisse nachdenken zu müssen, aber es ist zu schlimm für andere. Wenn Ihr hier wärt, mit ihnen zu tun hättet und sehen würdet, wie sie sich benehmen, dann würdet Ihr besser verstehen, wer und was sie sind. Es macht mich so rasend, wenn ich darüber nachdenke, daß Engländer für sie Unterschriften geben und ihre eigenen armen Leute zu Hause verhungern lassen, wo sie doch arbeiten würden, wenn sie es könnten.
Ich kann kein Geld für das Buch für Baby schicken, da ich keine englischen Briefmarken mehr übrig habe. Wenn Ihr es aber vorstrecken könntet und es dann von meinem Geld nehmt, wenn es kommt, wäre ich sehr dankbar. Wenn der Scheck kommt, dann schickt mir bitte für 5/- davon in Briefmarken. Heute ist die Sonne wieder verschwunden. Es ist düster und dunkel und feiner Schnee fällt die ganze Zeit vom Himmel. Ich denke nicht, daß ich mit Babs heute herausgehen werde. Ich habe ihr eine unzerbrechliche Puppe gekauft und ziehe sie jetzt für Weihnachten an. Sie freut sich so, wenn ich sie ihr für ein paar Minuten gebe. Dann liebt und pflegt sie sie wie ein großes Mädchen. Von Rudolf wurden wieder einige Barren weißes Blei aus dem Lager gestohlen (60 Rubel). Die Frau des Hausmeisters ist jetzt hereingekommen und wütet in lettisch, und sagt, daß sie nicht auf alles aufpassen können usw. Ich fürchte, daß wir diese Wohnung verlassen müssen. Sie ist in vieler Hinsicht nicht einwandfrei, aber ich befürchte, daß wir keine andere mit einem Bad oder heißem Wasser bekommen werden. Es ist schrecklich, hier in Rußland leben zu müssen! Der Vermieter kommt unangemeldet herein, wann es ihm paßt. Genau so auch der Hausmeister oder seine Frau (sie trägt Holz, putzt die Treppe, den Hof und die Straße usw. - richtig grobe Leute!). Man kann sich nie in diesem Land zu Hause fühlen; es ist eher wie ein logieren, fast aber wie in einem Gefängnis, Ich weiß nicht, wie Rudolf sich gerade jetzt bei so einer Frau beherrschen kann. Ich würde sie am liebsten rausschmeißen. Nochmals Deine Lily.
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