Aus dem Tagebuch meines Großvaters - 27 Jahre später

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    Aus dem Tagebuch meines Großvaters - 27 Jahre später

    Hier möchte ich wieder aus dem Tagebuch meines Großvaters, das im Forum Baltikum begann und in Rußland fortsetzte, erzählen.
    Ich fand es jetzt beim Aufräumen im Elternhaus und dachte, es könnte den ein oder andern interessieren.


    Eure Meinungen oder Ergänzungen sind mir willkommen.

    ---
    Meine letzten Aufzeichnungen habe ich mit einem sorgenvollen Ausblick in die Zukunft beschlossen. Das Dunkel aber begann sich für mich schneller zu lichten als ich zu hoffen gewagt hatte. Im Juni 1918 bereits war ich Inspektor auf dem Mittelhofe in Langenbielau. Im Dez. 1918 heiratete ich wieder, 1920 wurde mein Sohn Arwed geboren. Im Einverständnis mit meiner Frau nahmen wir meine 1911 geborene Tochter Margarete zu uns, nachdem deren Mutter gestorben war. Meine Tochter Helga aus erster Ehe befand sich bei ihrer Tante in Leningrad, da ein Herüberholen nicht möglich war. 1920 verunglückte der aus erster Ehe meiner Frau stammende Sohn Wolfgang und verstarb an erlittenen Brandwunden.

    1922 wurde mir die Stelle als Oberverwalter der Herrschaft Peterswaldau angeboten. Die ich auch sobald antrat. Infolge allgemeiner wirtschaftlicher Depression verlor ich nach 5 Jahren diesen Posten und war darauf fast 2 Jahre stellungslos. Dies war eine schwere Zeit, durch die wir uns recht und schlecht durchschlugen. Im Nov. 1928 wurde ich beim Arbeitsamt Reichenbach/Eulengeb. angestellt, wo ich mich im Laufe der Zeit bis zum Büroleiter heraufarbeitete. 1924 war uns der zweite Sohn Klaus-Wolfgang geboren worden. 1931 starb meine Schwägerin in Leningrad und mit Hilfe des Deutschen Konsuls gelang es, die Tochter Helga zu uns zu nehmen.

    Im politischen Leben war in Deutschland ein harter Kampf entbrannt. Der Gefreite des Weltkrieges Adolf Hitler hatte die Nazionalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gegründet und sich in zähem Kampf eine Gefolgschaft geschaffen, die ihm 1933 die Macht im Staate in die Hand gab. Unter seiner Führung erfolgte ein rapide wirtschaftlicher Aufstieg und außenpolitisch streifte er eine Fessel nach der andern ab, die uns das Versailler Diktat angelegt hatte.

    Das Rheinland wurde wieder besetzt, die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, Memel, Eupen und Malmedy zurückgeholt. Das Sudetenland wurde dem Reiche angeschlossen und die Tschechei unter deutsches Protektorat gestellt. Wegen Danzig und dem Korridor konnte mit Polen keine Einigung erzielt werden, es kam zum Kriege.

    Nach 18 Tagen war er beendet. Polen lag am Boden. England und Frankreich hatten uns darauf den Krieg erklärt. In kurzer Zeit waren Holland, Belgien und Frankreich überrannt, die Engländer vom Festland vertrieben. Es folgte die Besetzung Dänemarks und Norwegens, der Feldzug gegen Russland begann. Überall warenunsere Armeen siegreich und machten Millionen Gefangene. Jugoslawien und Griechenland fielen, Kreta wurde besetzt, in Afrika drangen unsere Truppen von Westen bis Ägypten vor.

    1942 mussten auch wir dem Krieg unsren Tribut zahlen. Arwed war Offizier auf einem U-Boot. Nach Versenkung von 3 Tankern und Torpedierung zweier weiterer ging das Boot mit der gesamten Besatzung im nordlichen Atlantik verloren, nie wieder wurde etwas von ihm gehört. (s. auch im letzten Teil des Rußland-Berichtes)

    Klaus-Wolfgang wurde trotz seiner Körperbehinderung eingezogen. Da er infolge dieser seinen Dienst nicht voll ausführen konnte, wurde ihm dieser zur Qual und in seiner Not schrieb er uns erschütternde Briefe. Ich schrieb daraufhin an den Führer, er möge anordnen, daß man ihm einen Dienst anweise, dem er körperlich gewachsen sei. Dies hatte Erfolg, er wurde dem Reservelazarett in Reichenbach zur Dienstleistung zugewiesen.

    Unser Siegeszug führte uns bis vor Leningrad, durch die Ukraine und den Kaukasus bis vor Stalingrad. Dort erhielten wir die erste Schlappe, 90.000 Mann fielen in Feindeshand. Nun schien sich die gigantische Kraft der deutschen Armeen erschöpft zu haben. Wir mussten in Rußland Schritt für Schritt zurückgehen, auch Afrika musste aufgegeben werden. Mussolini wurde in Italien durch Verrat beseitigt, die neue Regierung bot die Unterwerfung an und wandte sich gegen uns. Es folgten Rumänien, Bulgarien und auch Finnland. Damals bereits wurde mir klar, daß der Krieg für uns verloren war, den allgemeinen Glauben an eine den Sieg bringende Wunderwaffe konnte ich nicht teilen. Ich wurde als Schwarzseher angesehen, aber die Ereignisse, die ich nun schildern will, haben mir leider Recht gegeben.
    ...
    Zuletzt geändert von Helen; 04.10.2013, 20:18.
  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #2
    Es ist der 4. Mai 1945. In Berlin stehen die letzten Stützpunkte im Endkampf mit den übermächtigen Sowjets. Der Führer ist gefallen, meldet der Rundfunk. In Mecklenburg haben sich Amerikaner und Russen auf einer Frontlänge von 130 km vereinigt, in Breslau tobt der bittere Endkampf. Vom Zobten her donnern die Kanonen die ganze Nacht mit zunehmender Stärke. Dort hat sich Feldmarschall Schörner den Russen nochmal gestellt, um den Bewohnern der Kreise Schweidnitz und Reichenbach Zeit zur Flucht zu verschaffen.

    Am 5. Mai halte ich in Reichenbach noch einmal die Sprechstunde ab und zahle für die Angehörigen des Unternehmens Barthold und den Volkssturm die Gelder aus. Für alle Fälle lasse ich mir von der Bank noch 10.000 RM holen, damit die Gefolgschaft noch ein Gehaltsvorschuß für die kommenden Tage der Not gezahlt werden kann. Die Unentwegten sind noch zuversichtlich, hoffen noch mit kindlichem Glauben auf eine Wendung, faseln noch von der Wunderwaffe, die jetzt eingesetzt werden soll.

    Wie kommt es nur, daß Männer wie der Amtsleiter selbst, dem ich seit Monaten schon das nun kommende Ende vorausgesagt habe, der mich immer als Schwarzseher bezeichnete, trotzdem mich aber immer wieder ins Gespräch über die Kriegslage zog, der doch ein kluger Mensch mit überdurchschnittlichen Geistesgaben war, daß auch er das kommende Unheil nicht sah? Oder der Arbeitskamerad Talheim, Leutnant des Weltkrieges , ein intelligenter Mann aber politischer Säugling, der auf Feldmarschall Schörner schwor, der die Lage noch wenden würde. Unser letztes Gespräch war ein heftiger Wortwechsel, in dessen Verlauf er mir Miesmacherei vorwarf.

    Drei Tage später sah ich ihn wieder. In einer Abteilung Volkssturmmänner marschierte er durch Tuntschendorf in die Gefangenschaft. Am nächsten Morgen, einem Sonntage, kam plötzlich der Amtsleiter zu mir in die Wohnung in Peterswaldau. „Es ist soweit“, sagte er, „sofort abhauen zu den Amerikanern!“ Auf meinen Einwand, daß ich doch beabsichtige hier zu bleiben, erklärte er, daß die Behörden und deren Gefolgschaft auf Befahl der Kreisleitung sofort abzureisen haben. Wohin, wie und womit wurde nicht gesagt. Dieser Befehl kam viel zu spät, war unsinnig wie so viele vorangegangene und hatte viel Leid und Verlust von Hab und Gut zur Folge. Die diese Weisungen gaben, hatten Autos zur Verfügung und haben wohl auch zum größten Teil die amerikanischen Linien erreicht.

    Die Gefolgschaften trieben sich einige Tage auf der Landstraße herum, ließen ihr Eigentum zu Haus im Stich, verloren noch das Wenige, das sie in der Eile zusammengerafft hatten und fielen den Russen in die Hände oder kletterten nach Tagen in ihre inzwischen von den freigelassenen Juden geplünderten Wohnungen zurück.
    ...

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #3
      Nachdem ich dem Amtsleiter die noch vorhandenen Amtsgelder gegen Quittung übergeben hatte, setzte ich mich mit meiner z.Z. in Reichenbach weilenden Tochter telefonisch in Verbindung. Leider muß ich sagen, daß diese sich mir in der letzten Zeit etwas entfremdet hatte. Sie stand unter völligem Einfluß der Herren der Kreisbauernschaft. Unter blinden Optimisten lebend und arbeitend waren ihr meine trüben Voraussagen zuwider geworden, die sie in blindem Vertrauen auf das was uns die Führung durch Zeitung und Funk immer wieder sagte, ablehnte und wartete mit Zuversicht auf die Erfüllung der gemachten Versprechungen. In mir war der Glaube daran längst erloschen. Es kam soweit, daß wir uns hüteten von Politik und der Kriegslage zu sprechen, um unser seltenes Zusammensein nicht durch Meinungsverschiedenheiten zu stören.

      Ich setzte mich also mit meiner Tochter in Verbindung und sie vermittelte mir die Möglichkeit, mich einem Güttmannsdorfer Treck anzuschließen, wozu ich mich aber im Laufe der nächsten Stunden bei der Kreisbauernschaft in Reichenbach einfinden sollte.

      Ich packte also das Allernötigste in einen Koffer, ließ alles Übrige stehen und liegen und schob diesen auf dem Rade nach Reichenbach. Für meine Hausgehilfin Helene, welche zu ihrer Mutter nach Faulbrück gefahren war, hinterließ ich einen Zettel mit der Weisung, wieder nachhaus zu fahren, da ihre Mutter ja wahrscheinlich ebenfalls trecken würde.

      Bei der Kreisbauernschaft war alles im Aufbruch. Meine Tochter hatte mir inzwischen Lebensmittel besorgt, die mir außerordentlich zustatten kamen. Sie selbst fuhr mit dem stellvertretenden Kreisbauernführer in dessen Auto nach Volpersdorf, wo sie Peter (ihr Sohn) und Frau Bittner (ihre Freundin) mit deren kleinen Tochter abholen und versuchen wollten, die amerikanischen Linien zu erreichen. Meine Tochter ahnte wohl nicht, mit welch bitterem Gefühl ich sehen mußte, wie sie ihr Geschick mit dem Fremder verband und mich stehen ließ, wie ich mit den Ereignissen der nächsten Tage fertig werden würde. Und doch war es gut so wie sie es machte. Aber das konnte ich damals ja noch nicht wissen.

      Um 10 Uhr abends kam endlich der Treck aus Güttmannsdorf. Auf dem ersten der 13 Wagen fand ich Aufnahme. In stockdunkler Nacht begann die Fahrt. Einige wegkundige Frauen gingen mit ihren Rädern und einer Laterne vorweg. In Langenbielau setzte starker Regen ein, so daß die wegweisenden Frauen völlig durchnäßt wurden. Es wurde beschlossen, auf den Wagen sitzend den Morgen abzuwarten. Naß und durchfroren hockten wir zusammen und versuchten zu schlafen, was aber der Kälte wegen nicht gelang.

      Am 7. Mai, 6 Uhr morgens fuhren wir weiter. Durch das lange Langenbielau, durch Tannenberg und über die steilen Berge zum Volpersdorfer Plänel. Ich hatte nun Zeit, meine Treckgenossen näher zu betrachten. Es waren keine Güttmannsdorfer Einwohner, sondern Bauern aus Jägerndorf bei Brieg, die sich längere Zeit in Güttmannsdorf aufgehalten und dort die Felder bestellt hatten. Aus Jägerndorf waren sie schon früher vor den Russen geflohen.

      Mein Wagenführer war der Bauer Schönfelder, der zweite, ebenfalls ihm gehörende Wagen wurde von seiner Tochter geführt. Wie sich später herausstellte, war dies die Frau eines Regierungsinspektors vom Arbeitsamt Breslau.

      Die Schönheit unserer Berge ließ die Bauern kalt. Sie verwünschten sie, da die Steigungen für ihre abgetriebenen Pferde fast unüberwindlich waren und die Fahrt bergab auf große Schwierigkeiten stieß, da die Wagen keine Hemmen besaßen.

      Im zweiten Wagen befand sich Frau Schönfelder. Unterwegs wurde sie plötzlich krank, konnte nicht mehr sprechen, bekam den Mund nicht mehr zu und hatte große Schmerzen. Am Eingang des Dorfes Volpersdorf fragte Schönfelder nach einem Arzt. Dieser sollte am anderen Ende des Dorfes wohnen. Dort aber stellte sich heraus, daß er doch am Eingang des Dorfes wohnte. Schönfelder vertraute mir nun seinen Wagen an und fuhr mit Frau und Tochter wieder zurück. Der ganze Treck machte nun Halt und der Treckführer suchte den Bürgermeister auf, um sich Quartiere für die Nacht anweisen zu lassen.

      Etwa 2 Stunden warteten wir auf der Straße bis endlich der Treckführer mit dem Bescheid zurückkam, jeder müsse sich selbst eine Unterkunft suchen. Da Schönfelder abwesend war und ich meine unruhigen Pferde nicht verlassen konnte, hatte er aber für unsere beiden Gespanne und noch ein drittes ein Quartier besorgt. Es war ein Gut hoch oben auf einem Berge mit einer umwegreichen und schwierigen Zufahrt. Ich hätte nicht geglaubt, daß meine eingerostete Fahrkunst ausreichen würde, um diese mühselige Zufahrt zu meistern, aber es ging besser als ich dachte. Ich brachte die Pferde in einer Scheune unter und fütterte sie.

      Es war bereits später Abend als auch Schönfelder mit seiner wieder völlig gesunden Frau und der Tochter ankam. Der Arzt hatte sie ins Krankenhaus nach Neurode geschickt, wo der Frau, der beim Gähnen ausgehakte Unterkiefer wieder eingerenkt wurde. Jetzt erst wurde ich mit Schrecken gewahr, daß ich keine Lebensmittelkarte hatte. Diese hatte Helene in der Tasche, die aber bei meiner plötzlichen Abreise von Peterswaldau gar nicht anwesend war. Wie froh war ich nun, daß meine Tochter mich so reichlich versorgt hatte. Noch war keine Not, eine ganze Weile würde ich auch ohne den Lebensmittelpaß auskommen.
      -----------------
      Kann jemand sagen, von welchen Entfernungen die Rede ist? Wie weit könnte es von Reichenbach nach Langenbielau und weiter nach Volpersdorf sein?
      VG Helen

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      • Acanthurus
        Erfahrener Benutzer
        • 06.06.2013
        • 1657

        #4
        Hallo, Dzierżoniów (Reichenbach) -> Bielawa (Langenbielau) wird heute von Ortsmitte zu Ortmitte mit 6 km angeben, von dort sind es bei heutigen Straßen knapp 17 km nach Wolibórz (Volpersdorf). Grüße, A.

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        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #5
          Oh danke, das ist gut zu wissen. So kann ich mir die Strecke besser vorstellen.

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          • Acanthurus
            Erfahrener Benutzer
            • 06.06.2013
            • 1657

            #6
            Du kannst sie dir auch anschauen: https://maps.google.de/maps?saddr=Dz...ra=ls&t=h&z=12

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #7
              Das ist sehr gut. Im Youtube-Portal gibt es über die Orte einige interessante Videos, die ich mir schon angeschaut habe - es ist eine schöne ländliche liebliche Landschaft.

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              • Acanthurus
                Erfahrener Benutzer
                • 06.06.2013
                • 1657

                #8
                Geh mit der Maus mal auf der Seite oben rechts auf "Karte" und klicke "Fotos" an. Dann werden dir auch noch Fotos an der Route angezeigt.

                Grüße, Acanthurus

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #9
                  In der Küche des Quartiergebers hatten die beiden Frauen inzwischen das Abendbrot hergerichtet, zu welchem ich eingeladen wurde. Schlafgelegenheit war nur für die Frauen vorhanden. Schönfelder schlief auf dem Wagen und der Führer des dritten Wagens und ich schlugen unsere Lagerstatt in der Scheune auf. Auf Stroh und unter Pferdedecken haben wir auch dort ganz gut geschlafen.

                  Am andern Morgen donnerten die Kanonen nicht mehr aus Nordosten sondern ihr drohendes Gedröhn klang aus dem Norden und Nordwesten, aus der Waldenburger Gegend. Die Russen waren also dabei, uns den Weg durch das Sudetenland nach Westen abzuschneiden. Hier schon wurde es mir klar, daß unsere Flucht zwecklos sei, daß wir in die Hände der Russen hineinliefen. Ich schlug vor, zu bleiben, fand aber bei meinen Weggenossen weder Glauben noch Gehör. Und so brachen wir wieder auf, durch Neurode bis Tuntschendorf. Die Straße war verstopft mit Trecks aller Art, Volkssturmkolonnen, Wlasowtruppen, Einzelgänger, die ihre gerettete Habe auf Kinderwagen, Fahrrädern, Leiterwagen und sonstigen phantasievollen Vehikeln im Schweiße ihres Angesichts in Sicherheit zu bringen strebten. Ein wirres Durcheinander, das sich beim Zusammentreffen mit den Russen furchtbar auswirken mußte.

                  In Tuntschendorf nahmen wir wieder Quartier. Hier fanden auch die Frauen keine Schlafstelle und mußten auf den Wagen schlafen, während wir Männer unser Logis wieder in der Scheune aufschlugen. Wir müssen wohl sehr fest geschlafen haben, denn keiner von uns hat bemerkt, daß man neben uns 2 Pferde angeschirrt und gestohlen hatte.

                  Was nun tun? Mein dringendes Abraten von der Weiterfahrt wurde nicht beachtet. Das Wichtigste auf den nun gespannlosen Wagen wurde auf die beiden anderen verteilt und die Weiterreise in Richtung Braunau schleunigst angetreten. Da ich die Weiterreise als zwecklos ansah, trennte ich mich von dem Treck, in der Annahme, ihn nie wieder zu sehen.

                  Ich hatte gehört, daß der Stabsleiter der Kreisbauernschaft in Reichenbach, Herr Hanfler, mit seinem Auto inzwischen bei seiner schon in Tuntschendorf befindlichen Familie angekommen sei. Ich suchte ihn auf und es war mir sehr lieb, daß er mich aufforderte bei ihm zu bleiben. Wir waren uns darin einig, daß eine Weiterreise nach Braunau zwecklos sei und schmiedeten Pläne, wie wir aus diesem Hexenkessel heraus könnten. Ich schlug vor, ein ödes Gebirgsdorf aufzusuchen und weitab von dieser verfluchten Treckstrecke die Weiterentwicklung dieser Tragödie abzuwarten. Es kam nicht dazu, es war bereits zu spät.

                  Gegen 11 Uhr hörten wir plötzlich vor der Tür laute russische Flüche und ein wildes Geschieße. Vom Fenster heruntersehend bemerkte ich einen einzelnen russischen Soldaten, der mit Geschrei und Schreckschüssen jeden Passanten aufhielt, ihm zunächst die Uhr abnahm, ihn nach Waffen untersuchte und ihm befahl, sich neben der Straße aufzustellen. Ein einziger russischer Soldat unterbrach hier sämtlichen Verkehr nach Braunau. Ganze Kolonnen von Polizisten auf Rädern hielt er an. Eine Hand am Rade, den anderen Arm erhoben, so kamen sie an, wurden erst ihrer Uhren beraubt und mußten dann zu den anderen treten. Ein beschämender, erbitternder Anblick.

                  Inzwischen hatte der Soldat Hilfe erhalten und zwar durch einige, im Dorf beschäftigte Polen, die plötzlich, jeder mit einem Gewehr bewaffnet, bei ihm auftauchten und nun nach seinen Weisungen handelten. Vier kleine Jungen, die todesbleich mit erhobenen Armen sich näherten, schrie er an, sie sollen die Arme herunternehmen. Als sie ihn nicht verstanden, nahm er ihnen die Arme herunter und schickte sie nach Hause.

                  Ankommende Autos, deren Insassen die Lage nicht so schnell übersehen und weiterfahren wollten, wurden durch Schüsse in die Reifen gezwungen, zu halten. Ein Autoinsasse, der nur zögernd den Wagen verließ, zog irgendetwas aus der Tasche als ein Schuß des Russen ihn auch schon neben seinem Wagen zusammensacken ließ. Ich glaubte ihn tot, als er aber nach einer Weile stöhnte, schlug ihm der Russe mit dem Gewehrkolben den Schädel ein.

                  Unter meinem Fenster hatten sich inzwischen mehr als Hundert eingetroffene Volkssturmmänner, Polizisten und Zivilpersonen angesammelt, die Straße aus Neurode war verstopft von Fahrzeugen aller Art und all dies hatte ein einziger Russe aufgehalten und entwaffnet. Ich muß bekennen, daß dies für einen einzelnen Soldaten eine hervorragende Leistung war. Ihn umzulegen wäre ein Leichtes gewesen, aber niemand hatte den Mut dazu und es war auch besser, daß es nicht geschah, denn es war bereits Waffenstillstand, wie wir später erfuhren.

                  Am späten Nachmittag sah ich vom Fenster aus noch einen einzelnen Zivilisten auf seinem Rade kommen. Als er den Russen erkannte, wollte er schleunigst umdrehen, aber einige ihm nachgesandte Schüsse zwangen ihn zum Näherkommen. Es war mein Arbeitskamerad Mikeleitis, der wie anderen nach Abgabe der Uhr unter meinem Fenster Aufstellung nehmen mußte.
                  ...

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #10
                    Gegen Abend kamen russische Fahrzeuge und motorisierte Truppen aller Art an. Die letzten fuhren durch in die Tschechei, wo die SS immer noch kämpfte. Die Pferdegespanne und die dazugehörenden Mannschaften blieben im Dorfe, wo sie Quartier nahmen. Es erschienen auch drei höhere Offiziere, die vor unserer Wohnung ausstiegen und denen der Soldat Meldung erstattete, wobei er ihnen den ansehnlichen Trupp seiner Gefangenen zeigte. Die Offiziere verfügten, daß die Zivilpersonen frei zu lassen seien, alles aber was Uniform trug, einschließlich Uniform der Eisenbahner, abzuführen sei.

                    Ich wagte mich nun auf die Straße, wo die Offiziere freundlich mit den nach und nach auftauchenden Frauen sprachen. Als ich bei der mangelnden Verständigung mit meinen russischen Sprachkenntnissen helfend einsprang, hielt mich der Offizier für einen Polen. Als ich sagte, ich sei Deutscher, mußte ich ihm erklären, woher ich meine Sprachkenntnisse habe. Er beauftragte mich, der Bevölkerung zu sagen, sie solle keine Angst haben, es werde ihr nichts geschehen. Eine Frau trat an ihn heran und beschwerte sich, daß man ihrem Mann die Uhr weggenommen habe. Da zuckte er die Schultern und wendete sich ab.

                    Die angehaltenen Trecks mussten nun umkehren und wurden in Richtung ihrer Heimat entlassen. Und nun kam auch der Strom der Flüchtlinge und Trecks zurück, die gestern und heute das Dorf in Richtung Braunau passiert hatten. So erschienen auch Schönfelders. Sie waren nicht weit gekommen. Vor ihnen war alles verstopft und in Braunau waren bereits die Russen gewesen. Ich wollte mich ihnen wieder anschließen, aber Hanfler und seine Frau sowie die mit ihnen zusammenwohnende Lehrersfrau Eisenmann aus Güttmannsdorf nebst Tochter baten mich dringend, doch bei ihnen zu bleiben. Sie hofften, daß ihnen meine Sprachkenntnisse von Nutzen sein würden.

                    Und so bin ich geblieben. Es war falsch, denn dadurch habe ich in Peterswaldau vieles verloren. Aber wer konnte damals wissen, was falsch oder was richtig sein könnte? Ich wollte auch Hanfler nicht enttäuschen, denn er war jederzeit gegen meine Tochter und auch mich gefällig und hilfsbereit gewesen.

                    Eine zunächst bedeutungslos erscheinende Begebenheit will ich hier noch erwähnen. Durch den Trubel der Straße, vorbei an zurückflutenden Trecks, marschierten Soldaten mit Geschützen aller Art, sprengte ein Russe auf einem wundervollen Hengste, der den Trakehner-Brand trug. Der Reiter hatte die Herrschaft über das Tier verloren. Wütend schlug ihm die Peitsche über den Kopf. Dies quittierte der Hengst damit, daß er seinen Reiter über mehrere Personen hinweg in den Straßengraben warf und seines Peinigers ledig über die Felder raste. Wie ich einige Tage später erfuhr, war dies Deutschlands berühmtester Hengst „Samurir“. Auf ihn komme ich zurück.

                    Während des ganzen Abends erschienen quartiersuchende Russen im Haus, die sich sämtliche Zimmer besahen. In unserem Zimmer waren 8 Personen, darunter 3 Kinder, es war also nicht möglich, noch jemanden aufzunehmen, obwohl wir mehrmals dazu aufgefordert wurden. Das im Flur gegenüber liegende Zimmer war verschlossen, die Inhaberin verreist. Nachdem einige Schlüssel ergebnislos probiert worden waren, sprengte ein Soldat die Tür mit einem Fußtritt. „Das ist Türöffnen auf russische Art.“ sagte er.

                    Noch mehrere Zimmer wurden belegt und obwohl beständig die Tür von Russen aufgerissen wurde, die sich den Raum eingehend betrachteten, legten wir uns doch zu Bett in der Hoffnung, daß wir dann Ruhe haben würden. Die drei im Hausflur stehenden Räder hatten wir sicherheitshalber ins Zimmer gebracht, weil wir bemerkt hatten, daß fast alle Russen im Besitz von Rädern waren, Herren- und Damenräder, die sie nur requiriert haben konnten, was auch daraus hervorging, daß einige die Kunst des Balancierens noch nicht beherrschten.

                    In der Mitte des Zimmers hatte ich mein Lager so hergerichtet, daß man über mich hinweg steigen mußte, wenn man zu den Betten der Frauen gelangen wollte. Die Tür hatten wir verschlossen. Alle Augenblicke klopfte es oder wir wurden aufgefordert, zu öffnen. Zuerst reagierten wir nicht darauf, Als man aber begann, die Tür einzuschlagen, zogen wir es vor, die Tür unverschlossen und das Licht brennen zu lassen.
                    ...

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                    • Matthias Möser
                      Erfahrener Benutzer
                      • 14.08.2011
                      • 2264

                      #11
                      Hallo, Helen!

                      Mit großer Aufmerksamkeit und Interesse verfolge ich als Nutzer dieses Forums die Geschichte aus dem Tagebuch Deines Großvaters. Man bekommt als "Spätgeborener", ich bin Jahrgang 1965, einen direkten Eindruck, was die Menschen auf der Flucht aus Schlesien und in den Kriegswirren alles durchgemacht und erlebt haben.
                      Meine Mutter und ihre Familie (FN Benke, Speer) (Jahrgang 1927) stammte auch aus der Gegend um Reichenbach/Eulengebirge (Dreissighuben), mein Urgroßvater Georg Speer besaß bis 1938 ein Haus in Gräditz und wohnte bis zur Flucht 1945 in Schweidnitz in der Bismarkstraße 2, wo sich heute ein modernes Hotel (Red Baron - Roter Baron von Richthofen) befindet.

                      Für das Einstellen des Tagbuchs Deines Großvaters vielen Dank!

                      Gruß aus Nordbaden

                      Matthias
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                      Gernoth in Adelnau, Krotoschin, Sulmierschütz (Posen)
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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #12
                        Hallo Matthias, da geht es mir wie dir. Auch ich erlebe mit jeder Abschrift die Schwierigkeiten der damaligen Versuche, in den Westen zu kommen. Ich habe den Eindruck, der Treck dreht sich im Kreis und kommt nicht vorwärts. Aber so einfach ist es nicht, wie ich lese. Ich lasse mich mit jedem Teil überraschen, das ist spannender als schon vorzulesen.
                        Heute würde ich meinen Großvater gern noch vieles fragen. Leider hat er zu Lebzeiten nichts darüber erzählt und ich war zu jung um ihn zu fragen. Nur meine Mutter erzählte auf Nachfrage gern von "der Eule", dem Annaberg und dass sie im Winter mit der Kutsche fuhr.

                        Du weißt ja auch einiges über die Wurzeln deiner Familie. Vielleicht hast du die Heimat deiner schlesischen Familie schon besucht, weil du gut informiert bist.

                        Morgen geht's weiter.
                        Helen

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #13
                          Die Mehrzahl der hereinkommenden Soldaten verschwand beim Anblick der vielen Betten wieder. Einige aber musterten mit lüsternen Augen die weiblichen Inhaber der Betten, wobei sie sich immer bedenklich lange mit dem Anblick Frl. Eisenmanns befaßten. Man merkte, daß wahrscheinlich nur ein bestehendes Verbot ihre Gier in Schach hielt. Dies waren für die Frauen und auch für uns immer qualvolle Augenblicke und wir atmeten immer auf, wenn sich die Tür hinter einer solchen Gefahr wieder schloß. Es kam auch ein Soldat, dessen Blick flüchtig die Betten streifte aber auf den Rädern haften blieb. „Oh, Maschina!“ rief er und schon war er über mich hinweg gestiegen und hatte das Rad Hanflers gefaßt. Obwohl dieser sofort aus dem Bett sprang um sein Eigentum zu retten, ließ sich der Soldat durchaus nicht stören, ja wies unmißverständlich auf seine Maschinenpistole. Ich riet Hanfler, doch den Spitzbuben in Teufels Namen mit dem Rade ziehen zu lassen um nicht noch Schlimmeres für die Frauen heraufzubeschwören.

                          Und noch einen anderen Besucher haben wir in der Nacht gehabt. Aber niemand von uns hat ihn weder gesehen noch gehört, wir müssen alle fest geschlafen haben. Im Laufe des nächsten Morgen erst bemerkte ich, daß meine Uhr nebst Kette fehlte. Die Uhr hatte ich in der Weste und diese über den Stuhl gehängt. Einer der nächtlichen Besuche muß sie gesehen haben, ist über mich hinweggestiegen und hat sie genommen, ohne daß ich davon erwacht bin. Die Uhr, die ich vor 35 Jahren in Russland von meinem damaligen Chef als Ersatz für eine von Wilddieben zerschossene erhielt, hatte ihren Lauf in deutschen Diensten beendet, sie kehrte auf diese Weise in ihr Heimatland zurück.

                          So störend der Verlust auch für mich war und wie lange es auch gedauert hat bis ich mir den unwillkürlichen Griff nach der oberen linken Westentasche abgewöhnt hatte, war ich doch heilsfroh, daß wir mit diesen beiden Opfern wahrscheinlich Schlimmeres verhütet hatten.
                          Aber noch eine zweite Nacht dort verbringen – dazu hatten die Frauen begreiflicherweise keine Lust. Sie drängten am Morgen zum sofortigen Aufbruch – irgendwohin – und sei es in den Wald, besonders als bekannt wurde, daß in der Nacht die Frau des Postmeisters und noch ein junges Mädchen vergewaltigt worden waren.

                          Von seiner Tätigkeit in Glatz aus kannte Hanfler einen Dominialbesitzer Mattern in Rudelsdorf, einem Ort abseits der Hauptstraße, etwa 300 m von der tschechischen Grenze entfernt. Zu ihm gingen wir in der Hoffnung, von ihm Pferde und Wagen geliehen zu erhalten, um irgendwohin umziehen zu können.

                          Mattern schlug uns unser Anliegen rundweg ab mit der Begründung, daß uns die Pferde weggenommen würden. Er sagte uns, daß seine ausländischen Arbeiter ihn am Morgen alle verlassen und zum Transport ihrer Sachen sich die vier wertvollsten Zuchthengste ausgesucht hätten, da diese hochtragend teils mit Fohlen gehend, ihnen von den Russen nicht abgenommen würden, da diese für ihre Zwecke nicht geeignet seien.

                          Die vier Stuten, oftmals prämiert und deren Nachzucht den Ruf Matterns als bedeutenden Züchter begründet hatten, waren für diesen ein harter Verlust, aber er konnte ihre Wegnahme, die im Einverständnis mit den Russen erfolgte, nicht verhindern.

                          Die ablehnende Haltung Matterns enttäuschte uns sehr und wir schickten uns an, seinen Hof wieder zu verlassen, als er uns zurückrief und uns zwei Ochsen anbot und uns auch anheim stellte, bei ihm zu wohnen. Wir schlugen ihm vor, uns die Ochsen zu verkaufen, damit wir mit ihnen nach Reichenbach trecken könnten. Wir hätten dazu den Wagen Schönfelders genommen, zu welchem die Pferde gestohlen worden waren und der noch im Dorfe stand. Mattern aber konnte die Ochsen nicht verkaufen, da sie dem Dom. Heidersdorf gehörten und nur bei ihm eingestellt waren. Wir spannten die Ochsen vor einen Leiterwagen und waren entschlossen, dieselben nicht wiederzubringen, sondern mi ihnen nach Reichenbach zu fahren. Mit dem Dominium Heidersdorf würden wir uns schon auseinandersetzen, da Hanfler den Inspektor gut kannte. Wir wollten die Tiere ja nicht stehlen, sondern nur borgen.

                          In solchen außergewöhnlichen Situationen tut man auch mal Dinge, die man sonst als unehrenhaft weit von der Hand weisen würde, zu denen man aber durch die Not des Augenblicks einfach gezwungen wird.

                          Die Ochsen selbst aber waren es, die uns hinderten, unseren schwarzen Plan auszuführen. Sie hatten sich bereits die Hufe durchgelaufen, wir wären mit ihnen nicht weit gekommen. Die Genugtuung über die Erkenntnis, daß uns die Umstände zwangen, ehrlich zu bleiben, überwog die Enttäuschung über die nicht ausführbare Heimreise. Besonders Hanfler konnte dieser Entwicklung der Dinge dankbar sein, da ihn in Reichenbach nichts Gutes erwartet hätte, aber die Erkenntnis dessen kam erst später. Jedenfalls haben ihm die Eidersdorfer Ochsen durch ihre Marschunfähigkeit vor sofortiger Verhaftung in Reichenbach bewahrt, wo man eifrig nach Ortsgruppenleitern der NSDAP fahndete.

                          Besonders große Begeisterung erweckten wir nicht, als wir mit unserem Eichhörnchengespann bei unseren Leuten ankamen. Aber was war zu machen? Besser ein paar lahme Ochsen als gar keine Zugtiere. Ich muß sagen, daß es uns beiden an der nötigen Frechheit und Skrupellosigkeit fehlte, andernfalls wir uns auch hätten Pferde organisieren können. Gar mancher Treck zog mit seinen Gespannen nach Braunau und kam mit besseren oder mehr Tieren zurück. Woher diese waren, danach fragte niemand.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #14
                            Nachdem wir unsere Sachen auf dem Leiterwagen verstaut hatten, machten wir, daß wir aus dem unheimlichen Ort herauskamen und hielten dann unseren Einzug auf dem Dominium Rudelsdorf. Herr Mattern stellte uns ein Zimmer zur Verfügung und hat sich sowie auch seine Frau, von da ab uns gegenüber sehr hilfsbereit gezeigt. Da ihm seine ausländischen Arbeiter alle verlassen hatten, lastete eine große Sorge auf ihm und vielleicht erhoffte er in uns eine HIlfe. Wir haben ihm auch geholfen soviel wir nur konnten, trotzdem aber mußte der größte Teil der Arbeit unterbleiben, nur das Vieh wurde versorgt so gut es möglich war.

                            Wie bereits erwähnt, ist Mattern ein bekannter Pferdezüchter. Sein etwa 350 Mrg. großes Gut ist sehr hügelig und besteht zur Hälfte aus Koppeln mit idealer Lage und Beschaffenheit. Auf ihnen hatte er z.Z. 26 Hengste, 8 Jungstuten und 10 Stuten mit Saugfohlen, darunter englische Vollbluttiere mit bekannten Namen. Eine Koppel war besetzt mit 6 Jungbullen und eine andere mit dem Milchvieh. Daß zur Wartung dieses Viehstandes es auch des nötigen Personals bedarf ist selbstverständlich, dies war aber am Morgen unserer Ankunft mit den vier besten Stuten abgezogen. Eine Anzahl der Milchkühe gab Mattern den Nachbarn gegen die Milchnutzung in Pflege, 10 Stk. nur behielt er selbst. Diese wurden nun zum Melken von der Koppel geholt. Gemolken wurden sie von Frau Hanfler und zwei Frauen vom Dominium Stein bei Breslau, die mit ihrem Treck auf dem Hofe weilten. Der tägliche Auf- und Abtrieb von der Weide der übrigen Tiere wurde von uns und einem noch auf dem Hofe befindlichen deutschen Arbeiter besorgt.

                            Eines morgens hatten wir die ungebärdigen Jungstuten auf eine Koppel gebracht. Dort losgelassen stürmten sie wild davon und waren in dem bergigen Gelände bald unseren Blicken entschwunden. Als wir zurückkamen, sahen wir verblüfft, wie sie sich im Hofe tummelten. Sie hatten in der Koppel ein Tor offen gefunden und waren nach einer stürmischen Rundreise bereits vor uns wieder daheim eingetroffen.

                            Die Hengste, die bisher abends in den Stall gebracht worden waren, wurden nun auf eine entlegene Koppel gebracht, wo sie auch nachts den Sommer über bleiben sollten, die Arbeit mußte auf das mit wenigem Personal ausführbare Maß eingeschränkt werden. Mit Hilfe von allen Hofbewohnern und einigen Nachbarn wurde die Umsiedelung der Hengste ohne nennenswerte Schwierigkeiten durchgeführt.

                            Diese große Koppel mit ihren Bergen, Tälern, Gebüschen und durchfließendem Bach war das Schönste, das ich bisher an derartigem gesehen hatte.

                            Zwei kranke Hengste, die bisher im Stall gestanden hatten, sollten nun auch in die Koppel gebracht werden. Hanfler und ich legten ihnen eine Halfter auf und führten sie an einer Leine durch das Dorf nach ihrem Bestimmungsort. Sie machten keinerlei Schwierigkeiten sondern gingen ganz brav mit. Als ganz unnötigerweise ein anderer Hengst bei unserer Ankunft an der Koppel zur lebhaften Begrüßung seines Kollegen herangesprengt kam, versetzte dies mein frommes Pferdchen in eine derart freudige Erregung, daß ich es nur mit Mühe und mit Hilfe Hanflers in die Koppel brachte. Dort machte es einige wilde Sprünge um mich herum bis ich in dem nassen Grase ausrutschte, sauste dann zu meinem und meiner Kleider Leidwesen bergauf und bergab in der Koppel herum, bis diese Schlittenfahrt, die die anderen Hengste laut wiehernd fröhlich begleiteten (mir schien, als lachten sie), am Bach endlich endete. Ich gab dem lieben Tierchen alle möglichen Kosenamen damit es sich den Halfter abnehmen ließ. Nachdem dies gelungen war, kramte ich den ganzen Schatz der mir zur Verfügung stehenden Schimpfworte aus und warf sie ihm an den Hals. Da drehte es mir sein Hinterteil zu, ließ aus diesem einen kräftigen Trompetenstoß heraus und galoppierte davon.

                            Und dieses Luder sollte krank sein?

                            Unter anderem hatten die Polen eine Stute mitgenommen, deren eine Woche altes Fohlen zurückgelassen worden war. Mattern wollte nun ein anderes, weniger wertvolles Fohlen töten und dies an Stelle dessen der Stute geben. Der Erfolg dieses Experiments war fraglich und wir versuchten deshalb, das mutterlose Fohlen mit Kuhmilch zu erhalten. Das war ein mühseliges Unterfangen, aber mit unendlicher Mühe und Geduld gelang es uns, dem Tier das Trinken beizubringen und es war uns eine Genugtuung, dasselbe dem Besitzer erhalten zu können.

                            Eines Morgens, wir waren gerade beim Frühstück, kam Mattern und sagte: Der Samurai ist wieder da, die Bestie“. (im vorderen Bericht hätte es auch Samurai heißen müssen) „Samurai“, das war doch der Name eines berühmten Rennpferdes, von dessen Nachkommen man in jedem Rennbericht gelesen hatte. Konnte diese Spitzenleistung der deutschen Pferdezucht gemeint sein? Ja – er war es – der Hengst, der Hunderttausende zusammengaloppiert hatte, der heute noch als Zuchthengst mehr als hunderttausend Mark wert war. Aber wie kam er hierher?

                            Im Hofe stand ein Bauer aus dem Nachbardorf, der fluchend und schimpfend ein wild steigendes und wieherndes Pferd zu bändigen suchte. Der noch im Hof weilende deutsche Arbeiter eilte ihm zu Hilfe und schlug mit einem dicken Knüppel auf das erregte Tier ein, was dies aber völlig ignorierte. Mit Mühe wurde der Hengst in den Stall gebracht und dort sicher verwahrt.

                            Und nun erzählte uns Mattern die Geschichte dieses edlen Tieres.
                            ------------------------------

                            Nun habe doch mal eine Frage. Ich habe im W-Netz zwar Ruldelsdorf gefunden aber keinen Bewohner Mattern. Wenn er ein bekannter Pferdezüchter war, muss er doch in der Einwohner-Liste 1943 aufgeführt sein? Weiß jemand etwas über eine Domäne Rudelsdorf?

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                            • dorsch
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                              • 24.12.2011
                              • 295

                              #15

                              Diese Kerze zünde ich virtuell für deinen Großvater an, um seines Todestages heute, am 09. Oktober vor 51 Jahren, zu gedenken.
                              Er muss ein ganz besonderer Mensch gewesen sein!

                              Ihm Dank für die Aufzeichnungen, die er der Nachwelt hinterlassen hat; dir Dank dafür, dass du sie mit uns allen hier öffentlich teilst!
                              Ich habe sie von der ersten Seite an gelesen, von Forum zu Forum verfolgt, und er ist dabei so lebendig für mich geworden, genau wie die Zeit, über die er schreibt, wortgewandt und mit Spaß an der Darstellung, mit manchmal geradezu spitzbübischem Humor, dabei ein guter Charakterkenner und Beobachter, nie oberflächlich, aber doch zugleich mit philosophischer Leichtigkeit und Abgeklärtheit, gerade in den schwersten Momenten, die verhindert haben, dass er angesichts seines wechselvollen und nicht leichten Schicksals in Verbitterung und Selbstmitleid verfallen ist. Wie gesagt, er muss ein ganz besonderer Mensch gewesen sein! Und du machst uns allen hier eine große Freude.

                              Lieben Gruß
                              DorSch
                              „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

                              Suche nach FN Leidiger in Thüringen.

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