Pauperculus/-a - Arm oder Bettler?

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  • Bienenkönigin
    Erfahrener Benutzer
    • 09.04.2019
    • 1695

    Pauperculus/-a - Arm oder Bettler?

    Hallo zusammen,

    ich sehe gerade die Sterberegister von Dietmannsried im Allgäu durch. Für die Jahre 1692/3 fallen mir zahlreiche Einträge ein wie "mulier paupercula" etc.

    Bedeutet das, dass es sich um Bettler handelt, oder sind das arme Menschen, die z.B. unversorgt waren (alt und kein Einkommen mehr, keine Kinder)?

    Bei manchen Einträgen hört es sich so an, als ob sie vor der Kirche gestorben wären, auch eine Frau aus Ungarn war unter den Toten.

    Ich habe versucht herauszufinden, ob diese Jahre einen besonderen geschichtlichen Hintergrund hatten, aber nichts entdeckt.

    Was sagen die Experten?
    Danke schon mal!



    PS: Hier ist gleich als erster Eintrag eine paupercula tyrolensis:
    Zuletzt ge?ndert von Bienenkönigin; 15.11.2021, 17:18.
    Meine Forschungsregionen: Bayern (Allgäu, München, Pfaffenwinkel, Franken, Oberpfalz), Baden-Württemberg, Böhmen, Südmähren, Österreich
  • Schlumpf
    Erfahrener Benutzer
    • 20.04.2007
    • 355

    #2
    Hallo

    Nun: "pauperculus, -a" = ärmlich.
    Die "mulier paupercula" ist also die ärmliche Frau,
    eine Bettelfrau währe eine "mulier mendicans".
    Die "paupercula tyroliensis" dürfte also die ärmliche (Frau)
    aus Tirol gewesen sein.

    Viel Spaß damit
    Schlumpf
    Uns ist in alten mæren wunders vil geseit. von helden lobebæren, von grôzer arebeit,. von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,.

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    • Bienenkönigin
      Erfahrener Benutzer
      • 09.04.2019
      • 1695

      #3
      Danke für die Antwort, dann kann ich das besser einordnen.
      Interessant, dass das notiert wurde.

      Viele Grüße
      Bienenkönigin
      Meine Forschungsregionen: Bayern (Allgäu, München, Pfaffenwinkel, Franken, Oberpfalz), Baden-Württemberg, Böhmen, Südmähren, Österreich

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      • sternap
        Erfahrener Benutzer
        • 25.04.2011
        • 4071

        #4
        die allgemeine lage.
        in tirol erbte jedes kind gleich viel, sodass das schlussendlich jedem zustehende winzge land zur eigenen ernährung in der regel nicht ausreichte. halbjährliche arbeit im ausland war normal, möglicherweise war die alte frau ehemals zum verdingen schon im allgäu gewesen.


        die vegetationszeit ist in den alpen überhaupt kurz, am höhepunkt der kleinen eiszeit reichte es oft nicht mal mehr für eine ernte pro jahr.


        lawinen konnten im alpinen gelände jederzeit ganze dörfer zerstören.


        1692 war in frankreich das absolute hungerjahr , über tirols bzw. vorarlbergs genaue wetterdaten dieses winters habe ich jetzt noch nicht gleich etwas gefunden.


        aus gründen des glaubens vertriebene tiroler hatten wegen bloßen besitzes einer bibel ihre höfe und das bleiberecht verloren oder, wie in einem konkreten fall schriftlich überliefert, bloß weil sie einem heiligenschnitzer zu wenig figuren abkauften, weshalb man sie für protestanten hielt.
        freundliche grüße
        sternap
        ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
        wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




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        • sternap
          Erfahrener Benutzer
          • 25.04.2011
          • 4071

          #5
          hier ein kleiner text zu den schwabenkindern aus sicht der bruderschaft st.christoph am arlberg, mit illustration.


          https://www.bruderschaft-st-christop...schwabenkinder.


          und in wikipedia



          das bis ins frühe 20.jhdt dauernde traurige kapitel ist in diesem film anschaulich geschildert.
          freundliche grüße
          sternap
          ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
          wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




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          • Anna Sara Weingart
            Erfahrener Benutzer
            • 23.10.2012
            • 15113

            #6
            Zitat von sternap Beitrag anzeigen
            die allgemeine lage.
            in tirol erbte jedes kind gleich viel, sodass das schlussendlich jedem zustehende winzge land zur eigenen ernährung in der regel nicht ausreichte ....
            Hallo
            ganz so war es nicht. Die Höfe wurden nicht unter den Kindern geteilt, sondern die anderen Kinder mussten ausgezahlt werden. Denn eine Hofteilung wurde verboten, wenn der Teil zur Ernährung einer Familie zu klein geworden wäre.
            Den Hof übernahm entweder der älteste, oder der jüngste Sohn, oder beide. Die mittleren Söhne mussten also weichen.
            Viele Grüße

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            • sternap
              Erfahrener Benutzer
              • 25.04.2011
              • 4071

              #7
              zur klarstellung:


              da das allgäuer kirchenbuch in die zeit zeit der realteilung in tirol passte, beschrieb ich als armuts-mitursache die realteilung.





              hier ist unter geschichte die realteilung in tirol angesprochen,
              https://de.wikipedia.org/wiki/Erbhof_(S%C3%BCdtirol)


              bis etwa 1770, als man die unteilbarkeit der höfe regelte.
              Zuletzt ge?ndert von sternap; 07.12.2021, 04:11. Grund: wiki link
              freundliche grüße
              sternap
              ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
              wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




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              • Bienenkönigin
                Erfahrener Benutzer
                • 09.04.2019
                • 1695

                #8
                Hallo sternap und Anna Sara,

                danke für Eure Kommentare.
                Dann trifft das wohl hier zu: 17. Jahrhundert, vor dem Verbot der Realteilung 1770.
                Ich hatte zwar von den Schwabenkindern gehört (vielleicht auch vor Urzeiten den Film angeschaut), aber jetzt wäre es angebracht, den Film noch einmal anzuschauen.
                In diesem o.g. Kirchbuch waren wirklich auffallend viele Tiroler verzeichnet, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

                Wie schon oft gesagt: Durch Familienforschung wird Geschichte greifbar.

                Viele Grüße
                Bienenkönigin
                Meine Forschungsregionen: Bayern (Allgäu, München, Pfaffenwinkel, Franken, Oberpfalz), Baden-Württemberg, Böhmen, Südmähren, Österreich

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                • sternap
                  Erfahrener Benutzer
                  • 25.04.2011
                  • 4071

                  #9
                  der einwand anna sara weingarts zeigt uns auf, dass in den folgenden zeiten der unbedingten erhaltung der ganzheit der höfe im erbfall, deshalb anerbenschaft, das land dennoch die anzahl der menschen nicht ernähren konnte.


                  als ich in den alpen lebte, war in dem engen tal ohnehin nur auf der schattseite eine wohnung zu bekommen, wo seit jahrhunderten der großteil der bevölkerung lebte. bis 25.juni schneite es noch hinunter zu uns, ende september war schon wieder ende der vegetationsperiode.



                  zu zeiten deines kirchenbucheintrags, verschlechterte sich die lage noch durch die spitzen-kältejahre und trockenzeiten der kleinen eiszeit.

                  anlässlich der überschwemmungskatastrophe im ahr- und erfttal im heurigen jahr, hatte ich mich mit dem thema der nach kältejahren zunehmenden verwüstungen von alpenorten durch das wasser beschäftigt.
                  der großteil der bäche österreichs wird als wildbach benannt, als wasser das wie z.b. die ahr, binnen kürzester zeit einen ganzen landstrich verwüsten konnte. da blieb den überlebenden nur die abwanderung.
                  das sonnige und sanftere allgäu war zwangsläufig ein begehrter nächster zufluchtsort, weil hunger und naturkatastrophen nicht so sehr drohten.

                  dir ist zu verdanken, dass wir jetzt wissen, weshalb man viele getaufte aus tirols büchern in keinem heimischen sterbebuch findet.
                  wir ahnen, es wird zu genetischer vermischung zwischen den armen tiroler gastarbeitern und dem allgäuer volk gekommen sein.

                  hundert jahre nach dem von dir gefundenen bucheintrag wanderten zweit- und drittgeborene söhne aus dem allgäu nach ungarn.
                  einen größeren bedarf an gastarbeitern hinterlassend, die nun ihre arbeit tun mussten.
                  Zuletzt ge?ndert von sternap; 07.12.2021, 12:10.
                  freundliche grüße
                  sternap
                  ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
                  wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




                  Kommentar

                  • el_marocco
                    Erfahrener Benutzer
                    • 05.12.2021
                    • 787

                    #10
                    Zitat von sternap Beitrag anzeigen
                    die allgemeine lage.
                    aus gründen des glaubens vertriebene tiroler hatten wegen bloßen besitzes einer bibel ihre höfe und das bleiberecht verloren oder, wie in einem konkreten fall schriftlich überliefert, bloß weil sie einem heiligenschnitzer zu wenig figuren abkauften, weshalb man sie für protestanten hielt.
                    @sternap: Über die konfessionellen Spannungen damals in Tirol bin ich nicht informiert. Du schreibst, dass der Besitz einer Bibel ausreichte, um vertrieben zu werden. Tirol war doch sicher christlich. Warum sollte man da keine Bibel haben dürfen? Oder ging es dabei speziell um protestantische Bibeln? Ich weiß zwar, dass die Zeugen Jehovas andere Bibeln haben als die Katholiken, aber dass sich die Bibeln von Protestanten und Katholiken unterscheiden, ist mir neu.

                    Viele Grüße
                    Ulrich

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                    • fps
                      Erfahrener Benutzer
                      • 07.01.2010
                      • 2157

                      #11
                      Hallo Ulrich,

                      nur die Protestanten hatten Bibeln, den Katholiken war das nicht gestattet. Die hatten das zu vernehmen, was ihnen gepredigt wurde, und fertig.

                      War im Salzburger Land ebenso, daher die Vertreibung der protestantischen Bevölkerung, größtenteils nach Ostpreußen.
                      Gruß, fps
                      Fahndung nach: Riphan, Rheinland (vor 1700); Scheer / Schier, Rheinland (vor 1750); Bartolain / Bertulin, Nickoleit (und Schreibvarianten), Kammerowski / Kamerowski, Atrott /Atroth, Obrikat - alle Ostpreußen, Region Gumbinnen

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                      • sternap
                        Erfahrener Benutzer
                        • 25.04.2011
                        • 4071

                        #12
                        vereinfacht gesagt, der römisch katholische pfarrer lernte latein oder altgriechisch, er legte die bibel den einfachen menschen aus. weil niemand den wahrheitsgehalt der höllendrohungen und ablasszwänge überprüfen konnte, ob das geschäft wirklich jesus erfunden hatte oder vielleicht doch die kirche, wäre die grenzenlose ausbeutung der menschen möglich geworden, so luthers überlegung.


                        er wollte die bibel in landessprache übersetzen, damit die gläubigen das wort gottes selbst lesen und leben könnten.
                        es gab demnach nur die lutherbibel für die einfachen leute, also wies ihr besitz einen bereits als geheimprotestant aus.


                        hätte jemand dagegen eine teure lateinische bibel gehabt, wäre das mit sicherheit diebsgut aus einem kloster oder von kirchlichen räumen gewesen.


                        was ich schrieb, ist bedingt richtig, da es z.b. den katholiken nähere böhmische brüder gab, die sehr viel wert auf das lesen und schreiben gelegt hätten, sie zählte man folglich einfach den protestanten zu.
                        Zuletzt ge?ndert von sternap; 29.01.2022, 14:28.
                        freundliche grüße
                        sternap
                        ich schreibe weder aus missachtung noch aus mutwillen klein, sondern aus triftigem mangel.
                        wer weitere rechtfertigung fordert, kann mich anschreiben. auf der duellwiese erscheine ich jedoch nicht.




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                        • el_marocco
                          Erfahrener Benutzer
                          • 05.12.2021
                          • 787

                          #13
                          Dass den Katholiken Bibeln verboten waren, hatte ich bisher nicht gewusst.
                          Zu welcher Zeit in etwa lernte das einfache Volk denn überhaupt Schreiben und Lesen? Und konnten sich einfache Leute, sofern sie denn Lesen konnten, überhaupt eigene Bücher leisten?

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                          • Gudrid
                            Erfahrener Benutzer
                            • 22.04.2020
                            • 1251

                            #14
                            Im 17. Jahrhundert konnte noch kein normal Sterblicher lesen und schreiben. Was hätte er da mit einer Bibel gewollt außer dem ideologischen Wert? Und wer konnte sich schon ein Buch leisten? In Bayern wurde Anfang des 19. Jahrhunderts so ganz langsam die Schulpflicht eingeführt. Hier ein interessanter Artikel dazu https://www.traunsteiner-tagblatt.de...chid,1117.html
                            Aber wir sind vom Thema abgedriftet
                            Zuletzt ge?ndert von Gudrid; 30.01.2022, 07:39.
                            Liebe Grüße
                            Gudrid
                            Lieber barfuß als ohne Buch

                            Kommentar

                            • Eva64
                              Erfahrener Benutzer
                              • 08.07.2006
                              • 809

                              #15
                              Zitat von Bienenkönigin Beitrag anzeigen
                              ich sehe gerade die Sterberegister von Dietmannsried im Allgäu durch. Für die Jahre 1692/3 fallen mir zahlreiche Einträge ein wie "mulier paupercula" etc.

                              Ich habe versucht herauszufinden, ob diese Jahre einen besonderen geschichtlichen Hintergrund hatten, aber nichts entdeckt.
                              Hallo Bienenkönigin,
                              zu den politischen Ereignissen in der Zeit 1692/93 schau dir mal den pfälzischen Erbfolgekrieg an. Da gab es wieder ganz viele Flüchtlinge.




                              (Gudrid)Im 17. Jahrhundert konnte noch kein normal Sterblicher lesen und schreiben.
                              Diese Aussage finde ich ist zu pauschal und ich kann das so nicht stehen lassen. Es gab sehr wohl Gebiete in denen Schulpflicht bestand und die Menschen lesen konnten und nicht mit 3 Kreuzen unterschrieben, auch schon im 17. Jahrhundert. Ich habe in Württemberg einige Schulmeister unter meinen Vorfahren, die in Volksschulen unterrichteten. Hier ein Zitat aus einem Visitationsprotokoll ...1688 wurde der 30 jährige Johann Georg Niclas (Niclaus) von Calw, seines Zeichens ein Zeugmacher, nach entsprechender Examinierung als Schulmeister angenommen. Mit ihm war der Dekan, aber auch die Gemeinde sehr zufrieden, weil er sein Amt mit Fleiß versah, in seinem Wandel friedsam, gegen jedermann zuvorkommend und hilfsbereit war. Er unterrichtete das ganze Jahr über. ... Schon sein Vater war Schulmeister gewesen. Und es gab auch schon "einfache" Menschen in dieser Zeit die Bücher besessen haben, nicht viele, aber es gab sie.


                              Grüße
                              Eva

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