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  #1  
Alt 25.06.2022, 22:44
Benutzerbild von consanguineus
consanguineus consanguineus ist offline männlich
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Standard "zeitig" im Sinne von "derzeitig"?

Jahr, aus dem der Begriff stammt: 1789
Region, aus der der Begriff stammt: Harzrand


Hallo zusammen!

Wieder einmal ist mir das Adjektiv "zeitig" über den Weg gelaufen. Ich habe es in alten Texten zumeist im Sinne von "derzeitig" aufgefaßt. Nun habe ich aber einen Sterbeeintrag, in dem der mit 78 1/2 Jahren Verstorbene als "zeitige(r) Schulmeister und Organiste" bezeichnet wird, der starb, "nachdem er über 44 Jahre seinem Dienste getreu und fleißig vorgestanden hatte". Da bekam ich leichte Zweifel an meiner bisherigen Interpretation des Begriffes "zeitig". Ist der Mann tatsächlich noch mit 78 Jahren Schulmeister gewesen? Arbeiteten diese Menschen früher so lange?

Viele Grüße
consanguineus
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Joh. Christian KROHNFUSS, Jäger, * um 1790
Carl KRÜGER, Amtmann in Bredenfelde, * um 1700
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  #2  
Alt 25.06.2022, 23:10
Jettchen Jettchen ist offline
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Ich denke schon, dass die Menschen einst arbeiteten solange sie in der Lage dazu waren!
Ich habe jetzt einmal die Notizen zu einem Ahn meines Mannes, herausgesucht:




" Joh. Peter Hennig hat 6 Jahre in Sonnefeld als Präzeptoris, 14 1/2 Jahre in Eckartshausen das Schulamt bekleidet und ist hier 1772 (12. November) eingezogen und wurde, nachdem er hier 47 Jahre die Schullehrerstelle versehen, nach seinem Wunsch Domini Septuagesimi 1819 in den Ruhestand versetzt und ihm von der hohen Obrigkeit als Schulsubstitut ein zeitheriger (?) Schulkandidat Joh. Andreas Ebert Oberhellingen verwilligt.

Insgesamt war er also 67 Jahre lang im Schuldienst!



Er lebte dann noch bis 1826.


Auch die Pfarrer waren meist bis zu ihrem Tod im Amt, bekamen aber einen Adjunkt zur Seite gestellt, wenn sie den Aufgaben nicht vollständig mehr gewachsen waren. Dieser hoffte , später die Stelle übernehmen zu können.


Da könnte "zeitiger" schon nach deiner Interpretation passen.


Viele Grüße
Jettchen
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  #3  
Alt 25.06.2022, 23:13
Benutzerbild von Sbriglione
Sbriglione Sbriglione ist offline männlich
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Beiträge: 1.156
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Warum sollte er nicht?
Das Bisschen Religion und Lesen vermitteln - und gelegentlich mal den ungezogenen oder lernunwilligen Gören eines mit dem Rohrstock überziehen dürfte er auch in dem Alter noch hinbekommen haben. In Rente gehen wäre bei dem miserablen Grundgehalt ganz sicher KEINE Option gewesen sein...

Eine meiner Vorfahrinnen hat übrigens aus der Erfahrung ihrer eigenen Vorfahren heraus zeitig ein eigenes Gewerbe angemeldet in der Hoffnung, so der Altersarmut halbwegs entgehen zu können, wenn ihr Ehemann vor ihr gestorben wäre: sie hat den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel um ein Privileg für einen Hökwaren- und Vicutalienhandel gebeten und sogar versucht, sich das Recht zu ergattern, als einzige Händlerin vor Ort ihen Handel betreiben zu dürfen...
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  #4  
Alt 25.06.2022, 23:14
Scriptoria Scriptoria ist offline
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Hallo consanguineus,

zum Thema zwei Zitate.


"Der Kultur der west- und mitteleuropäischen Gesellschaft war bis ins 19. Jahrhundert hinein der Ruhestand fast völlig fremd. Geläufig war dagegen eine Reduzierung der Arbeit entsprechend dem Nachlassen der Körperkräfte oder als Folge partieller Invalidität."

"Die Geschichte des modernen Ruhestands begann im 19. Jahrhundert, als die höheren Staatsbeamten das Recht auf Pensionierung gegenüber den Landesherren durchsetzten, auch um zu demonstrieren, daß sie den Adel in der Leitung des Staates abgelöst hatten. Es war dies ein Recht auf einen bezahlten Ruhestand, aber keine Verpflichtung zum Rückzug aus dem Erwerbsleben."

Quelle:
Peter Borscheid: Vom verdienten zum erzwungenen Ruhestand. Witschaftliche Entwicklung und der Ausbau des Sozialstaates

https://library.fes.de/fulltext/asfo/00224003.htm


Gruß
Scriptoria

Geändert von Scriptoria (25.06.2022 um 23:16 Uhr)
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  #5  
Alt 25.06.2022, 23:16
Benutzerbild von consanguineus
consanguineus consanguineus ist offline männlich
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Vielen Dank, Jettchen, für Deine Antwort! Den Adjunkt des Pastors kenne ich natürlich. Mir ist nicht klar, ob es so etwas auch für Lehrer gab. Mit 78 sind die Menschen doch häufig gebrechlich und taub gewesen. Wie händelt man da eine vierklassige Dorfschule?

Viele Grüße
consanguineus
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  #6  
Alt 25.06.2022, 23:28
Benutzerbild von Sbriglione
Sbriglione Sbriglione ist offline männlich
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Hallo Conanguineus,

ich denke, dass sie es, wenn es gar nicht mehr anders ging, so gemacht haben, dass sie dazu einen Hilfslehrer (als "Schuldiener" im Gegensatz zum "Schulmeister") eingestellt haben, der nochmal deutlich weniger verdient hat und nur hoffen konnte, dass er aufgrund der gemachten Erfahrungen irgendwann die freiwerdende Stelle würde übernehmen können. Außerdem dürfte im Zweifel auch noch die Ehefrau mitgeholfen haben oder die älteren Schüler mussten die eine oder andere Aufgabe gegenüber den Kleineren übernehmen...

Grüße!
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Geändert von Sbriglione (25.06.2022 um 23:29 Uhr)
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  #7  
Alt 25.06.2022, 23:44
Benutzerbild von consanguineus
consanguineus consanguineus ist offline männlich
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Zitat:
Zitat von Sbriglione Beitrag anzeigen
ich denke, dass sie es, wenn es gar nicht mehr anders ging, so gemacht haben, dass sie dazu einen Hilfslehrer (als "Schuldiener" im Gegensatz zum "Schulmeister") eingestellt haben
So wird es gewesen sein! Ich habe so gut wie keine Lehrer unter den Vorfahren, daher kenne ich mich in dieser Branche nicht aus. Betreffender Lehrer war der Bruder einer Vorfahrin.

Und tatsächlich hat er in seinem eigenen Traueintrag, den ich jetzt fand, geschrieben: "Den 22ten Novembr(is) bin ich zeitiger organist und Schuldiener Joh(ann): Andreas Böhlcke, und Jungfer Anna Sabina Wogen Copuliret worden". Das war 1746. Zu diesem Zeitpunkt war er also noch Schuldiener. Er wird es selbst ja am besten gewußt haben. 1789, seinen Sterbeeintrag hat er nicht selbst geschrieben, sagte man über ihn, er sei über 44 Jahre Schulmeister und Organist gewesen. Falls er dieses Amt bis zu seinem Tode 1789 ausübte, war er also seit mindestens 1745 Schulmeister und Organist. Die leichte zeitliche Inkonsistenz beachten wir jetzt mal nicht. 1746 oder kurz danach wurde Böhlcke also vom Schuldiener zum Schulmeister befördert. Ich folgere daraus, daß er wirklich bis zu seinem Tode Lehrer war. Respekt! Ich kenne eine Lehrerin, die sich nach 20 Jahren Gymnasialdienst, den sie all die Jahre mit einer so gerade mal eben zweistelligen Wochenstundenzahl verrichtet hat, wegen Burnout frühzeitig pensionieren läßt. Früher war irgendwie mehr Resilienz.
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  #8  
Alt 26.06.2022, 00:16
mawoi mawoi ist offline
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Registriert seit: 22.01.2014
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Noch bis ins 19. Jh. mussten in in Niedersachsen die Gemeinden
das Diensteinkommen für die Schulmeister aufbringen. Kleinere oder ärmere Gemeinden konnten oft nicht einen aktiven und einen emeritierten Schulmeister gleichzeitig finanzieren.


VG
mawoi
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  #9  
Alt 26.06.2022, 00:34
Benutzerbild von consanguineus
consanguineus consanguineus ist offline männlich
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Das ist sehr interessant, mawoi. Hab vielen Dank!
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  #10  
Alt 26.06.2022, 07:32
Gastonian Gastonian ist offline
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Hallo consanguineus:

Einer meiner Vorfahren in Frankenberg/Eder in Nordhessen namens Johannes Rindelaub wurde zuerst im Jahre 1648 (bei der Taufe seines Sohnes Andreas) als Schuldiener bezeichnet. In diesem Ort war der Schuldiener der Lehrer der deutschen Schule, die den Ortsbuben das Lesen, Schreiben, und Rechnen beibrachte; der Schulmeister war der Lehrer der Lateinschule, die die mehr begabten auf das Studium vorbereitete. Johannes ist 1703 verstorben; sein Sterbeeintrag berichtet, daß er 55 Jahre lang Schuldiener wie auch Organist und Küster gewesen ist (als Küster war er auch Kirchenbuchführer; man merkt eine Änderung der Handschrift im Kirchenbuch in 1703). Das Amt war quasi-erblich; sein Sohn ist auch Schuldiener in Frankenberg gewesen.

Im Oldenburgischen gab es noch eine dritte Klasse von Lehrern - den Schulhalter, der die Schule nicht im Kirchspielort, sondern auf einem ausliegendem Wurp führte. Einer meiner Vorfahren dort hat sich vom Schulhalter zum Schulmeister (wie auch Organist und Küster) im Kirchspielort avancieren können (ja, wenige Pfarrer aber viele Küster unter meinen Vorfahren).

VG

--Carl-Henry
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