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  #41  
Alt 25.10.2013, 08:34
Helen Helen ist offline weiblich
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„Sie waren in Sibirien – und warum?“ fragte er plötzlich. Nachdem ich ihm darüber Auskunft gegeben hatte, fragte er, wann und wie ich aus Sibirien wieder herausgekommen sei. Meine Tochter hatte mir schon Andeutungen gemacht, daß evtl. der Verdacht besteht, ich habe in einer weißen Armee gegen die Roten gekämpft. Eingedenk dessen erzählte ich ihm, daß ich aus Sibirien beim Herannahen einer weißen Armee geflohen sei, um nicht in deren Reihen gepreßt zu werden, daß ich mit der Bahn mit Hilfe einiger roten Matrosen nach Petersburg gefahren sei, dort aber nicht weiter konnte, weil die Deutschen im Gegensatz zu den Russen niemanden durch die Front ließen, daß ich in Petersburg 4 Monate warten mußte, bis die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk abgeschlossen wurden und ich als Invalide dann in die Heimat entlassen wurde. Daß ich durch Bestechung mir ein Zeugnis der Invalidität verschafft hatte, verschwieg ich wohlweißlich.

Bei dem von mir gebrauchten Wort „Friedensverhandlungen“ schrie er plötzlich ohne die Übersetzung abzuwarten: „Das waren keine Friedensverhandlungen, das war eine schmähliche Erpressung!“ Das war der Beweis, daß er deutsch verstand.

Nun wollte er wissen, vor welcher weißen Armee ich geflohen sei. Ich sagte, daß ich das nicht wisse, worauf er entgegnete, ich müsse doch wissen, ob es Koltschak, Denikin, Budjenni oder Wrangel gewesen sei. Ich hielt es für ratsam, mich unwissend zu stellen um keinerlei Interesse für die damaligen politischen Ereignisse zu verraten, obwohl ich wußte, daß es die Armee Koltschaks war und daß die Armee Wrangels nie in Sibirien war. Durch verschiedene Kreuz- und Querfragen stellte er darauf fest, wann ich aus Sibirien ausgereist war.

Obwohl ich ihm schriftliche Beweise vorlegen wollte, wann ich auf der Heimreise in Petersburg und Riga war und wann ich in Deutschland wieder eine Stelle angetreten hatte, sah er sich dieselben nicht an, was ich als übles Anzeichen deutete. Meiner Ansicht nach wollte er meine Rechtfertigungsbeweise nicht zur Kenntnis nehmen, ich sollte schuldig sein.

Wieder entstand eine lange Pause, die stark an den Nerven zehrte. Ohne etwas zu sagen oder etwas zu tun, saß er vor mir auf seinem Stuhl, nur ab und zu streifte mich ein schneller Blick. Ich sah und wußte, daß sich in seinem Hirn nun mein Geschick entschied, ahnte, daß dasselbe auf des Messers Schneide stand. In derartiger Situation war ich schon öfters gewesen und wie immer in solchen kritischen Momenten überfiel mich plötzlich ein Gefühl der Gleichgültigkeit und der Ruhe. Plötzlich stand er auf, faltete das angefangene Protokoll zusammen und sagte: „Gehen Sie jetzt wieder nach Haus und arbeiten Sie treu weiter. Halten Sie sich aber bereit, wir werden Sie wahrscheinlich noch einmal vernehmen.“ Damit gab er mir die Hand, und ich war entlassen.

Aus der Tatsache, daß er nach langem Überlegen das Protokoll nicht beendete schloß ich, daß er von meiner Unschuld überzeugt war und er es für unnötig hielt, einen schriftlichen Vorgang anzulegen. Erleichtert verließ ich das unheimliche Haus, nicht jeder Besucher dürfte, wenn überhaupt, mit dem gleichen Gefühl dasselbe hinter sich gelassen haben.

Ende Februar begann die große Aussiedlung im Kreise Glatz. Die davon Betroffenen mußten Haus und Hof oder ihr Geschäft bzw. ihre Wohnung innerhalb kürzester Frist verlassen, ohne mehr mitzunehmen, als sie tragen konnten. In Glatz wurden ganze Straßenzüge von den Deutschen völlig geräumt, die Bewohner ganzer Dörfer wurden weggeführt. Als erste kamen Rengersdorf, Ndr.- und Oberhannsdorf und Ullersdorf dran. Besitzer, deren Hof seit Jahrhunderten deren Eigentum der Familie war, mußten ihn innerhalb Stunden verlassen und den Polen überlassen, die schon lange die Herren darauf gespielt hatten, die nun selbst die Arbeit verrichten mußten, die sie bisher noch die jetzt Vertriebenen verrichten ließen. Wie würden wohl die Höfe in einigen Monaten aussehen? Wer würde die Felder bestellen, das Vieh sachgemäß pflegen? Die neuen Besitzer waren ja in den seltensten Fällen Landwirte. verkommene Existenzen aus den größeren Städten, meist aus Warschau, die hier ein Unterkommen und Parasitendasein gefunden hatten. Armes Schlesien, arme schöne Grafschaft Glatz!

Ich rechnete nicht damit, daß Schlesien polnisch wird, ich rechnete mit einem Kriege, dem Krieg gegen den Bolschewismus, der nach der Niederwerfung des Faschismus das Gebot der Stunde war, bevor sich Rußland von den Wunden des Krieges erholt habe und solange den Westmächte deutsche Soldaten zur Verfügung standen, die nach stets geübten Verfahren für sie bluten konnten. Und weil ich fest auf den kommenden Krieg baute und die Rückdrängung der Polen, entschloß ich mich, mit allen Mitteln zu versuchen, der Aussiedlung zu entgehen. Der Administrator erwirkte mir auch die Genehmigung zum Verbleiben, ebenso den auf dem Gute beschäftigten Arbeitern.

Am 27.2.46 mußten die Einwohner von Mügwitz ihren Elendsweg antreten. Herzzerreißend war der Anblick der armen Menschen, die ihren Hof oder ihr Häuschen im Stick lassen mußten, die weinend von ihren Tieren Abschied nahmen und mit einem elenden Bündel beladen in Schnee und Frost den Marsch nach Glatz zum Bahnhof antraten.

Um zu sehen, ob auch für Habelschwerdt die Umsiedlung bereits angeordnet sei, versuchte ich am nächsten Sonntag dorthin zu fahren. Als ich am Schalter eine Fahrkarte lösen wollte, verweigerte man mir dieselbe. „Für Deutsche gibt es keine Karten.“ wurde mir gesagt. Was also tun? Mehrmals hatte ich den Weg hin und zurück zu Fuß zurückgelegt. Das ging aber diesmal nicht, da ich schwer zu tragen hatte und die Wege verschneit waren.

Der Administrator hatte mich zur Bahn gebracht, war aber gleich weiter gefahren. Er mußte helfen aber wo mochte er sein? Ich vermutete, daß er in die Kirche gegangen sei. Also ging ich in die nächste Kirche und suchte ihn dort. Ich hatte Glück, unweit des Altars sah ich ihn tief versunkenknien, entweder betete er inbrünstig oder er sann, wie er am besten zu Zloti kommen könne.

Ich drängte mich mit meinen Paketen durch die frommen Spitzbuben bis zu ihm durch und bat ihn, mir eine Fahrkarte zu lösen, da man mir keine verabfolgte. Mit einem Kreuzzeichen schloß er seine Andacht sofort ab und kam mit mir zum Bahnhof, wo er mir eine Fahrkarte kaufte. Obwohl ich durch die weiße Armbinde als Deutscher kenntlich war, gelangte ich unangefochten auf den Bahnsteig, wo der Zug eben, sogar planmäßig einfuhr. Der Zug war wie stets überfüllt, doch gewahrte ich unter den Passagieren nur 3 Deutsche.
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  #42  
Alt 26.10.2013, 17:32
Helen Helen ist offline weiblich
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Habelschwerdt lebte in Erwartung der Anweisung, eine Anordnung war jedoch noch nicht ergangen. Meine Frau und Tochter hatten für alle Fälle ihre Bündel bereits gepackt. Da meine Frau kurz nach der bestandenen Operation noch recht schwach und schonungsbedürftig war und die Tochter die zwei kleinen Kinder zu betreuen hatte, konnten sie außer dem Eßbedarf nur noch wenig mitnehmen. Das bedeutete den Verlust der letzten, bis jetzt noch geretteten Gegenstände, bettelarm würden auch sie nun einer ungewissen Zukunft entgegen gehen, und wie würde meine Frau die strapaziöse Reise überstehen, das gab zu schwerer Besorgnis Anlaß.

Meine Tochter hatte sich an das Rote Kreuz mit der Bitte um Nachforschungen nach ihrem Mann und nach ihrem Bruder Klaus-Wolfgang gewandt. Eben hatte sie Nachricht erhalten, daß ihr Mann sich in amerikanischer Gefangenschaft befinde und hatte auch zufällig gleichzeitig von ihm selbst eine dementsprechende Nachricht erhalten. Weiter schrieb das Rote Kreuz, daß es wegen Klaus-Wolfgang in Sorge sei, da über ihn nichts in Erfahrung zu bringen sei.

Hieß das nun, daß ich auch meinen zweiten Sohn in diesem verfluchten Krieg verloren habe? Wohl hatte ich das Gefühl, daß er lebe, aber die Gefühle hatten mich ja bei Arwed furchtbar betrogen, zu fest war ich davon überzeugt, daß er gesund heimkehrt, und doch wurde er mir entrissen. Wohl glaubte meine Frau immer noch nicht an seinen Tod, ich aber konnte mich zu einem solchen Glauben nicht aufraffen, zu überzeugend sind die Beweise seines Untergangs. Sollte dennoch das Unwahrscheinliche eintreffen, und Arwed wiederkehren, dann könnte ich vielleicht den Glauben an einen Gott wiederfinden, der mir restlos verloren gegangen ist. Noch lebte ich in der Hoffnung, daß mir wenigstens der zweite Sohn erhalten geblieben sei. So manche Illusion habe ich zu Grabe getragen, meine Kinder aber wollte ich behalten, ohne sie hätte ja das Leben den Sinn verloren.

Gern hätte ich an irgend etwas gebetet: „Gib mir meine Kinder wieder“, aber wohin, zu wem sollte ich mich wenden? Gott? Wo ist Gott? Vorsehung? Was ist Vorsehung? Auch an sie glaubte ich nicht mehr, denn der Glaube an sie hatte mich schmählich im Stich gelassen.

Einige Tage später wurde auch der Kreis Habelschwerdt von der Aussiedlung erfaßt. Am 20.3. rief mich meine Tochter an und teilte mit, daß sie in den nächsten Tagen abreisen müssen. Am 22.3.46 besuchte ich sie nochmal, und dort faßte ich den Entschluß mich meiner Familie anzuschließen und Mügwitz doch zu verlassen.

Gefördert wurde dieser Entschluß durch das unhaltbare Verhältnis, das sich dort zwischen dem Administrator und mir herausgebildet hatte. Infolge seiner unsachgemäßen, dilettantischen Anordnungen, die ich nicht unwidersprochen auszuführen vermochte, war es zwischen uns mehrmals zu Zusammenstößen gekommen, die sich jedesmal steigerten und die schließlich einmal den Bruch herbeiführen mußten. Und so entschloß ich mich selbst noch rechtzeitig dies unerträgliche Verhältnis zu beenden. Dabei spielte auch der Gedanke eine Rolle, in eine Gegend des Reiches zu kommen, in der voraussichtlich mein Rentenanspruch anerkannt würde.

Am 26.3.46 verließ ich Mügwitz, wo ich 10 Monate recht und schlecht gelebt hatte und begab mich nach Habelschwerdt, wo ich mit Frau und Tochter den Befehl der Ausreise erwartete. In Habelschwerdt bestand eine kommunistische Ortsgruppe. Der Leiter war ein ehemaliger K.Z.-Insasse, einige Mitglieder hatten vor kurzem noch das Nazi-Parteiabzeichen getragen. Die Tätigkeit des Leiters und einiger seiner Mitarbeiter erstreckte sich in der Hauptsache darauf, in Not geratenen Einwohnern, sei es durch Übergriffe der Polen, Plünderungen oder Verbrauch der Existenzmittel zu helfen, sie zu beschützen oder zu beraten. Auch ehemaligen Pgs standen sie öfters bei, sie sahen in dieser Notzeit in ihnen zunächst den deutschen Volksgenossen. Da sie öfters Verhandlungen mit der russischen Kommandantur zu führen hatten, kamen sie fast täglich, auch mehrmals nachts zu meiner Tochter, um deren Dolmetscherdienste in Anspruch zu nehmen.

Der Leiter der KPD hatte eine Eingabe gemacht um zu erreichen, daß die Kommunisten und Sozialdemokraten mit ihren Familien in einem besonderen Sonderzug evakuiert würden. Bei diesem Zuge sollte die gefürchtete Kontrolle beim Besteigen desselben fortfallen, durch eine russische Begleitmannschaft sollte die Plünderung des Gepäcks durch die Polen verhindert werden, und endlich sollten mehr Sachen mitgenommen werden dürfen, als dies bei den gewöhnlichen Transporten der Fall war. Da die Dienste meiner Tochter unterwegs gebraucht werden würden, sollte sie mit ihren Angehörigen ebenfalls diesen Zug, den man den „Antifaschistenzug“, kurz „Antifazug“ nannte, benutzen. Die mit der Benutzung dieses Zuges verbundenen Vorteile bestachen, so daß auch ich gegen die Benutzung desselben nichts einwandte, nachdem ich mich vorsorglich erkundigt hatte, ob mir infolge der früheren Zugehörigkeit zum ihnen feindlichen Verein nicht während der Fahrt Schwierigkeiten erwachsen würden. Der Zug wurde auch genehmigt mit dem Ziel in die russische Zone, im Gegensatz zu allen anderen Transporten, die in die englische Zone geleitet wurden. Obwohl die Meinen und besonders ich viel lieber in der englischen Zone gelandet wären, nahmen wir dies mit in Kauf in der Hoffnung, doch irgendwie in die engl. Zone gelangen zu können.

Am 5.4.46 kamen zwei Polen zu uns und forderten uns auf, Habelschwerdt mit dem am Nachmittag abgehenden Transport zu verlassen, Gepäck dürfe nur mitgenommen werden, so viel man tragen könne. Wir weigerten uns zu fahren mit dem Hinweis, daß wir dem „Antifazug“ zugeteilt seien, was man auch gelten ließ. Da meine Tochter viel mit der russischen Kommandantur zu tun hatte, waren die Polen ihr gegenüber meist etwas vorsichtig, denn vor den Russen hatten sie gewaltigen Respekt.

Am 13.4. erhielten wir vom Landrat die schriftliche Mitteilung, daß wir vom Tragen der weißen Binde befreit seien. Der Kommunistenführer hatte dies für die Mitglieder seiner Partei und für uns beantragt. Obwohl ich diese Bevorzugung ihm ungern verdanke, bedeutete sie doch eine große Erleichterung, da man sich nun auf der Straße zeigen konnte ohne befürchten zu müssen, zu irgend einer Arbeit gepreßt zu werden, zu welcher sich das polnische Gesindel zu gut dünkte.

Die Zeit verfloß mit dem Warten auf unseren „Antifazug“, der alle paar Tage angekündigt wurde, aber nicht kam.

Einer der z.Z. in der Stadt ansäßigen Kommunisten war ein Schneidermeister, der nur für die russischen Offiziere arbeitete, namens Langer. Er war angeblich der Sohn eines Arztes, war bis 1933 kommunistischer Redner gewesen, war im K.Z. gelandet aus dem er von den Russen befreit wurde. Er hatte sich der Roten Armee angeschlossen und eine Zeitlang in ihr gekämpft. Dabei hatte er ein Flintenweib kennengelernt und es auch geheiratet. In Habelschwerdt war er hängengeblieben und hatte sich dort seinem gelernten Handwerk wieder zugewandt. Er kleidete sich wie ein Russe, wozu er sich eine Phantasieuniform erdacht und angefertigt hatte. Soweit ich ihn kennengelernt habe, war er ein stets hilfsbereiter Mensch und glühender Kommunist. Um von vornherein unsere gegenseitige Stellung zu klären, teilte ich ihm meine politische Einstellung mit, was aber sein Verhalten mir gegenüber nicht änderte. Meine Tochter hatte ihre Stellung aufgegeben und war bei ihm eingetreten, da seine Bezahlung eine viel bessere war und er sie in der Hauptsache ebenfalls als Dolmetscherin benutzte. Frau Langer beherrschte die russische Sprache nur mangelhaft, da sie aus Oberschlesien stammte.
--
Bald kommt der letzte Teil, der leider ohne Erklärung abrupt abbricht.

Geändert von Helen (26.10.2013 um 21:35 Uhr)
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  #43  
Alt 27.10.2013, 17:29
Helen Helen ist offline weiblich
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Am Samstag den 21.4. waren wir von Langer zu Tisch geladen worden. Es waren noch 3 Kommunisten mit ihren Familien anwesend, von denen er erfahren hatte, daß sie am Ende ihrer Mittel angelangt seien. Das Essen war ausgezeichnet, hatte wohl einige Tausend Zloti gekostet. Der reichlich genossene Schnaps löste bald ihre Zungen, kommunistische Lieder, besonders die Internationale wurden dauernd gesungen, fanatische, politische Reden gehalten, so daß ich mich in dieser Gesellschaft äußerst unbehaglich fühlte und einen Zusammenstoß befürchtete, der jedoch unterblieb. Die Internationale habe ich an diesem Tage so oft gehört, daß auch mir nun dieselbe geläufig ist.

In der Nacht vom 24. zum 25.4. paßierte eine tragikomische Sache. Durch das Klirren einer Fensterscheibe wurde ich aus dem Schlaf geweckt. Ich glaubte, unser Zimmernachbar, der polnische Prokurator habe in seinem Suff wieder einmal eine Scheibe eingeschlagen und die Möbel umgekippt. Gleich darauf aber hörten wir seine bei ihm zu Besuch weilende Nichte rufen, daß das Radio gestohlen sei. Nun wurde auch seine Stimme vernehmlich sowie ein Schuß, den er anscheinend zum Fenster hinaus abgab. Es stellte sich heraus, daß jemand durch das eingeschlagene Fenster gestiegen war, einen Tisch umgestoßen hatte und mit dem Radio-Apparat durch das Fenster wieder verschwunden war. Das Ganze war ein mit maßloser Frechheit ausgeführter Diebstahl, der nur infolge der Feigheit des Polen, der im Nebenzimmer weilte und das Klirren der Scheibe wohl hörte aber nicht wagte, die Ursache zu erforschen, ausführbar war.

Über den Täter war ich mir nicht im Zweifel und auch der Pole vermutete ganz richtig, aber gegen diesen Spitzbuben war er machtlos. Am Nachmittag vor der Tat war der russische Kommandant mit einem anderen Offizier in unserer Wohnung, um meine Tochter zur Hilfe bei einer Vernehmung zu bestellen. Das Gespräch kam auch auf den Polen, der in den Nebenzimmern, die mit den Sachen meiner Frau und Tochter ausgestattet waren, wohnte. Da beide angetrunken waren, besuchten sie den Prokurator, meine Tochter begleitete sie. Dort wurde weiter getrunken, wobei sie die Zimmer eingehend besichtigten und besonders Interesse für das Radio zeigten.

Für mich gab es keinen Zweifel drüber, daß die beiden Offiziere die Anstifter des Diebstahls waren, mußte aber einige Tage später erfahren, daß sie es selbst getan hatten. Sie hatten es meiner Tochter erzählt und ihr versprochen, ihr auch noch die Nähmaschine auf demselben Weg herauszuholen. Ich riet aber dringend davon ab, denn wenn der Pole auch gegen die Russen nichts unternehmen konnte, so konnte er uns doch die allerschlimmsten Schwierigkeiten bereiten.

Einen Stadtkommandanten, einen Offizier, der nachts in Wohnungen einsteigt und sich als Einbrecher betätigt, dürfte wohl man wohl nur in der russischen Armee finden.

In diesen Tagen tauchten in Habelschwerdt die ersten Juden auf, welche die Russen irgendwo im Süden Rußlands ausgewiesen und nach Schlesien geschafft hatten, sehr zum Ärger der Polen, denen dadurch eine unerwünschte Konkurrenz entstand. Die Juden wurden hier von den Russen in jeder Beziehung begünstigt, sodaß die Polen es nicht wagten, feindlich gegen sie aufzutreten. Nach und nach wuchs ihre Zahl auf 4000. Ihr Verhalten der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung gegenüber gab zu Klagen keinen Anlaß.

Am 2. Mai traf unerwartet ein Brief von Klaus-Wolfgang ein, der uns endlich von der Ungewißheit über sein Schicksal befreite. Er lebte in Stollberg im Erzgebirge, also in der russischen Zone, was uns damit aussöhnte, daß unser Zug nicht in die englische Zone geleitet werden sollte. Nun hatten wir doch die Aussicht, ihn wieder in unserem Kreise aufnehmen zu können. Der Ärger über die Verzögerung unseres Abtransportes wich der Genugtuung darüber, daß wir infoge dieser Verzögerung noch in den Besitz der Nachricht gelangt waren.

Das Leben wurde für uns Deutsche immer unerträglicher infolge der beständig sich verschlimmernden Schikanen der Polen. Ab 3. Mai war es uns verboten, nach 8 Uhr abends die Wohnung zu verlassen. Sonntags wurden nach Schluß des Gottesdienstes die Kirchgänger vor der Kirche abgefangen und zu irgend einer Arbeit geschickt, die besser Gekleideten mußten die Straßen kehren, andere holte man in Gasthöfe und polnische Haushaltungen um dort Dienstbotenarbeiten zu verrichten. Bezahlung gab es natürlich nicht. Deutschen Passanten wurden auf der Straße Schuhe, Mäntel oder Pelze ausgezogen, einem jungen Manne wurde die Militärmütze vom Kopfe gerissen, zerrissen und er dann gezwungen, die Fetzen wieder aufzusetzen. Der Sohn eines Baumeisters wurde versehentlich eingesperrt und grausam geschlagen bis man bemerkte, daß ein Irrtum vorlag.

Unserem Hause gegenüber befand sich das Gebäude der Miliz. Aus den Kellerräumen hörten wir oft die Schreie der dort Gefangenen, die bestialisch mißhandelt wurden. Meistens stellte man ein Radio ein, um die auf die Straße hallenden Schreie zu übertönen. Jeder unreife Bursche besaß ein gestohlenes Fahrrad, mit dem er grundsätzlich nur auf den Bürgersteigen fuhr und die Passanten auf die Straße zwang.

Auf dem Florianberg, einem als Promenade hergerichteten Berge jenseits der Neiße, unweit der Stadt, hatte man dem in Habelschwerdt geborenen Dichter Hermann Stehr eine würdige Grabstätte errichtet. Auf einer einfachen Holztafel waren Name, Geburts- und Sterbetag angegeben. Selbst vor dieser Grabstätte machte die Zerstörungswut der Polen nicht Halt. Ein Teil der auf ihr gepflanzten Rosen war ausgegraben und gestohlen worden. Die Gedenktafel war herausgerissen und zerschlagen, der noch vorhandene Rest sah so aus:

(s. Foto 1)

Bei meinen täglichen Spaziergängen setzte ich die immer wieder herausgerissene Tafel auf ihren Platz, dreimal lag sie hinter dem Grabe, das vierte Mal war sie ganz verschwunden.

Sonntags waren die Kirchen voller inbrünstiger Beter, die Gottes Segen für das Gelingen der Gaunereien in der kommenden Woche herabflehten. Und der Pfarrer predigte: „Nachdem uns endlich das Land unserer Urväter zugesprochen worden ist, werden wir es nie mehr aufgeben sondern zu verteidigen wissen.“

Junge Mädchen spazierten durch die Straßen auf Stöckelschuhen, das Gesicht bemalt, die Zigarette im Munde. Ihre Kleidung wurde täglich eleganter aber die Deutschen immer ärmlicher, denn sie mußten gar die besten Kleidungsstücke und zwar zu Schleuderpreisen verkaufen um ihr Leben zu fristen.

Hier endet sein Tagebuch.

Das Buch kaufte er bei der auf dem letzten Foto angegebenen Adresse..

Später erfuhr ich von seiner Tochter Margarete, meiner Mutter, die mit 101 Jahren starb, daß der Opa mit einem Koffer nach Friedland gekommen sei, dort aber unter den Bergen anderer Koffer seinen nicht wiederfand. Über das Rote Kreuz erfuhr er den Aufenthaltsort meiner Mutter, die 1945 zunächst mit dem Auto des Begleiters, von dem Opa schrieb und ihrer Freundin, beide mit einem Kind, in den Westen nach Ostwestfalen kam. Hier fand sie Unterkunft bei einer Bauernfamilie, in der sie Wäsche und Kleidung instandsetzte. Der Großvater fuhr noch einmal nach Friedland (erst nach Marienberg?), wo er seinen Koffer fand und mit ihm zurückkehrte. Ihre Schwester landete in Frankfurt, sie starb in hohem Alter und war bis zuletzt geistig sehr fit.

Geändert von Helen (12.08.2017 um 16:56 Uhr)
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  #44  
Alt 05.11.2013, 23:28
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dorsch dorsch ist offline weiblich
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Standard Abschließender Dank

Liebe Helen,
noch einmal ganz herzlichen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, über so viele Seiten und auf 3 Unterforen verteilt die Lebensgeschichte deines Großvaters hier einzustellen und sie uns verfügbar zu machen. Ich vermisse die regelmäßigen Fortsetzungen richtig! Dein Großvater hat mit seinem 'Tagebuch' (und du mit dessen Veröffentlichung) einer sehr bewegten Zeit ein persönliches Gesicht gegeben, die sonst gern - wie alles, wenn es erstmal "Geschichte" geworden ist - auf die politischen 'Highlights' einzelner Schlagworte und Daten reduziert und damit für uns Nachgeborene mit wachsender zeitlicher Entfernung immer unanschaulicher wird. Ich glaube, uns allen, die wir hier mitgelesen haben, ist er im Laufe des Lesens ans Herz gewachsen und wir haben viel dabei gelernt. Irgendwie haben wir nach der letzten Folge alle aufgehört zu lesen und keiner hat mehr was gesagt, das war nicht richtig: Du hast da ein nicht unerhebliches Maß an Arbeit hineingesteckt, dafür möchte ich mich noch einmal ausdrücklich bei dir bedanken!
Ganz lieben Gruß
DorSch
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„Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

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  #45  
Alt 05.11.2013, 23:34
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Ach, Mennooo ...*schmoll* ... jetzt hab ich den 'Danke!'-Smiley vergessen einzufügen und über 'Edit' krieg ich ihn nicht nachträglich rein. Na, dann eben auf diesem Weg!
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  #46  
Alt 05.11.2013, 23:35
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Matthias Möser Matthias Möser ist offline männlich
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Hallo, Helen!

Schon mal darüber nachgedacht, das Tagebuch Deines Großvaters etvl. über einen kleinen Verlag als Druck herauszubringen?

Wäre nur mal so eine Idee.....

Gruß und Danke für´s Einstellen hier im Forum!

Matthias
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  #47  
Alt 06.11.2013, 15:18
Helen Helen ist offline weiblich
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Ich habe es gern geschrieben, weil ich dachte, es ist zu schade, so eine private Lebensgeschichte, die den Leser am Alltag der damaligen Zeit teilhaben lässt, in der Schublade liegen zu lassen. Manchmal möchte ich Teile noch einmal lesen, weil mir die Personen, egal wer, sehr nah gewesen sind.

Mir ist noch eingefallen, dass der Opa mit 3 Zigaretten zum zweiten Mal nach Friedland gefahren ist, um nach seinem Koffer zu suchen. Ich vermute, sie haben das Auffinden möglich gemacht.

Ich habe noch einen Zettel gefunden mit Stempel "Durchgangslager Marienberg Sa. - Ausgang 11.00 bis 13.00". Ich habe noch nichts über dieses Durchgangslager gefunden, habe aber auch noch nicht länger gesucht. *Nachtrag: Es war wohl das erste Auffanglager für Flüchtlinge, die über die tschechische Grenze kamen.

Matthias, deine Anregung ist gut, vielleicht nehme ich das mal in Angriff, nachdem ich alles noch einmal überarbeitet habe. Dazu brauche ich viel Zeit und die fehlt mir noch.

Danke für eure nette Rückmeldung.
Helen

Geändert von Helen (12.08.2017 um 16:56 Uhr)
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  #48  
Alt 06.11.2013, 15:42
gudrun gudrun ist offline
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Hallo Helen,

die Idee mit dem Druck des Tagebuches finde ich sehr gut.
Auch ich habe die Seiten sehr gern gelesen.
Das Schicksal Deines Großvaters hat mich sehr interessiert.

Meine Großeltern sind in Essen 3x ausgebombt worden.
Da hat sich überhaupt nichts, nicht mal Schulzeugnisse
von meinem Vater und keine Erinnerungsstücke an
meinen Urgroßvater erhalten.
Mein Großvater lebte leider auch viel zu weit von uns weg.
Wir in Bayern und meine Großeltern und die Schwester
meines Vaters in Essen. Daher gibt es auch fast keine
mündlichen Überlieferungen.
Vielen Dank für Deine Mühe beim Eintragen, das war ja sehr viel Arbeit.

Viele Grüße
Gudrun
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  #49  
Alt 06.11.2013, 16:06
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scheuck scheuck ist offline weiblich
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Standard Tagebuch.....

Hallo, Helen!
DorSch hat an sich schon alles gesagt, was gesagt werden konnte und musste !
Schade, dass es nun mit der abendlichen Lektüre vorbei ist....
Dennoch, ein ganz, ganz, großes für Deine Mühe beim Abschreiben, aber auch dafür, dass Du uns in Deine Privatsphäre hast blicken lassen!!!
__________________
Herzliche Grüße
Scheuck
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  #50  
Alt 06.11.2013, 19:35
Helen Helen ist offline weiblich
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Ich hatte auch die Hoffnung, dass vielleicht dem ein oder anderen Schlesier Orte, Namen oder Ereignisse bekannt vorkommen, weil sie ähnliches erlebt oder gehört haben.

Wirklich schade, wenn man so gar nichts aus der Geschichte der Familie erfährt. Aber das ist eher das normale.

Ich wünsche euch allen noch interessante Familienfunde. Es werden hier ja sehr viele Quellen und Hilfen angeboten.

LG Helen
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