Was ist eine „paralytische Seelenstörung“?

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  • hannahnu
    Benutzer
    • 09.09.2021
    • 22

    Was ist eine „paralytische Seelenstörung“?

    Hallo zusammen,
    Mein Ururgroßvater Paul Peter Nürnberg(1861-1922) wurde wegen „paralytischer Seelenstörung“ in eine psychische Klinik eingewiesen und zwei Jahre später starb er dort. Die Klinik hat in ihren Archiven nur einen Sterbeeintrag mit der Bemerkung „paralytische Seelenstörung“. Er war vorher Bergmann im Basaltabbau in Mayen könnte das damit zu tun haben?
    Ich habe versucht zu recherchieren komme aber leider nicht weiter.
    Danke im vor raus für eure Hilfe.
    Lg
    Hannah
  • GiselaR
    Erfahrener Benutzer
    • 13.09.2006
    • 2182

    #3
    @Upidor, der Link funktioniert leider nicht. Ich hatte diese Stelle auch grade gefunden.
    Eine Dissertation von 1876 zu genau dem Thema.

    Grüße
    Gisela
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    Ruths, Gillmann, Lincke,Trommershausen, Gruner, Flinspach, Lagemann, Zölcke, Hartz, Bever, Weth, Lichtenberger, von der Heyden, Wernborner, Machwirth, von Campen/Poggenhagen, Prüschenk von Lindenhofen, Reiß von Eisenberg, Möser, Hiltebrandt, Richshoffer, Unger, Tenner, von Watzdorf, von Sternenfels

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    • hmw
      Erfahrener Benutzer
      • 16.06.2016
      • 1369

      #5
      Hallo Hannah,

      also Paralyse bedeutet auf jeden Fall Lähmung. Heißt der Altvater hatte offenbar eine Erkrankung, die ihn sowohl geistig als auch körperlich beeinträchtigt hat. Ich würde auf Alzheimer oder Parkinson tippen, etwas genaues konnte ich aber auch nicht finden.

      Viel Erfolg!

      Gruß
      Martin

      Kommentar

      • MarthaLU
        Erfahrener Benutzer
        • 13.02.2013
        • 509

        #6
        Es wurde ja alles, was nicht erklärbar war, als seelisch angesehen, zimperlich war man da nicht. Ich habe einen Fall im familiären Umfeld, da bekam eine Frau zwischen 17 und 24 Jahren 6 Kinder, darunter einmal Zwillinge. Mit 26 Jahren, das war 1908, wurde sie auf Betreiben ihres Gatten in eine Heilanstalt eingeliefert mit der Diagnose Schwachsinn. Laut Schilderungen einer Verwandten, die sie noch gekannt hatte, weinte sie viel und schien sehr erschöpft, aber völlig klar im Kopf. Würde man heute wohl Depression nennen.
        So ganz anders ist es im Grunde heute leider auch nicht, nur sind die technischen Diagnosemöglichkeiten viel besser, und was da rausfällt, nennt man psychosomatisch. Was der Vorfahr hatte, wird sich also nicht mehr klären lassen. Aber sicherlich etwas, das man heute in der Neurologie behandeln würde.

        LG Martha

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        • Pavlvs4
          Erfahrener Benutzer
          • 25.05.2020
          • 191

          #7
          Das ist ein interessantes Thema. Unter meinen Vorfahren gab es einen ähnlichen Fall.

          Der zweite Ehemann einer meiner Urgroßmütter war Arbeiter im Tagebau. Auf ärztlichem Rat hat er samt Familie seinen Wohnort gewechselt und einen neuen in einer waldreichen Gegend genommen, was wohl seinem zunehmend psychisch belasteten Gemüt therapeutisch entgegen kommen sollte. Hat aber nichts genützt. Die Kinder meiner Uroma aus erster Ehe haben sich bald vom Stiefvater räumlich getrennt, bis schließlich auch die Uroma trotz gemeinsamer Kinder sich von ihm hat scheiden lassen, weil er, wie in der Familie berichtet, zunehmend verrückter geworden sei. Was aus ihm geworden ist, weis heute keiner mehr. Aber die Uroma ist in dem Ort geblieben, wo es sie mit ihm hinverschlagen hatte, so das auch ich in diesem Ort aufgewachsen bin.

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          • Su1963
            Erfahrener Benutzer
            • 08.01.2021
            • 1243

            #8
            Es scheint sich um eine andere Bezeichnung für die progressive Paralyse zu handeln, die eine Spätfolge der Syphilis ist: https://de.wikipedia.org/wiki/Neurolues

            Keine Ahnung, ob dieser Zusammenhang zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels schon bekannt war oder erst mit späteren Forschungen entdeckt wurde.


            Nachtrag: Der Artikel stammt aus 1876, Krafft-Ebbing hat seine Publikation zur Progressibven Paralyse infolge Syphilis 1894 ppubliziert: https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_von_Krafft-Ebing


            LG Susanna
            Zuletzt geändert von Su1963; 23.09.2021, 15:16.

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            • Garfield
              Erfahrener Benutzer
              • 18.12.2006
              • 2142

              #9
              Ja, früher wurde wohl einiges "seelisch" genannt was man heute "neurologisch" nennen würde. Ich empfehle einen Blick in die verlinkte Dissertation. Ich fand es sehr spannend, wie mit damaligen Möglichkeiten wissenschaftliche Untersuchungen und Statistiken ausgewertet wurden. Auf Seite 10 werden die bekannten Symptome zusammen gefasst.

              Ich fand das aber noch nicht sehr eindeutig einer heutig bekannten Krankheit zuzuordnen und habe nach der genannten Literatur (Seite 6) gesucht. Auch nach den erwähnten "Zählkarten für Irrenstatistik" habe ich gesucht, konnte aber nichts finden (ausser dem Hinweis, dass Mitte 19. Jhd. Schweizer Forscher bemängelt haben, dass es in der Schweiz noch keine vollständige Zählkarten für Irrenstatistik gebe).

              Da Westphal in der verlinkten Dissertation mehrfach postitiv erwähnt wird und der Name noch heute in der Psychologie bekannt ist, habe ich mal nach dem erstgenannten Buch gesucht und es tatsächlich gefunden (leider nur mit Uni-Login, daher hier kein Link). Folgend einige Auszüge zu den Symptomen:

              [...]
              So wird man also die bekannten - wesentlich nach den psychischen Erscheinungen gebildeten - Formen der Hypochondrie, der Melancholie, der Manie, der Verrücktheit und des Bödsinns in ihren allgemeinen Zügen bei den Paralytikern wiederfinden, ja es kommt sogar bei einem und demselben Individuum ein Wechsel zwischen hypochondrischen resp. melancholischen Zuständen einerseits und maniakalischen andrerseits vor, welcher ganz an die sogen. folie circulaire erinnert.
              [...]
              Trotz dieser scheinbaren Uebereinstimmung nun in dem Auftreten und der Art
              der psychisehen Erscheinungsformen der einfachen und der paralytischen
              Geisteskrankheit tritt doch ein wesentlicher Unterschied bei den paralygischen
              Geisteskranken bereits im Beginne der Erkrankung deutlich
              hervor. Während nämlich bei einem gewöhnlichen hypochondrischen,
              melancholischen, maniukalischen Patienten im Hintergrunde der psychisehen
              Störung die Intelligenz zunächst ungeschwächt erhalten bleibt,
              bis entweder Heilung eintritt oder ein stationärer Zustand mit allmähligem,
              oft sehr spätem (nach vielen Jahren erfolgenden) Sinken der
              geistigen Kräfte, so entwickelt sieh bei dem Paralytiker die Geistesstörung
              bereits auf dem Boden psychischer Schwäche und zugleich
              mit dem Auftreten der Hypochondrie, Manie etc. erleiden die intellectuellen
              Kräfte als solche, namentlich auch das Gedächtniss, eine
              sehr merkliche, gewöhnlich rapide weiterschreitende, Schwäche. Nicht
              also die Form der Geistesstörung als solche, die Wahnvorstellungen,
              Affecte u.s.w. sind das, was die paralytischen Geisteskranken von
              vorn herein characterisirt, sondern die damit Hand in Hand gehende und
              sich schnell weiter entwickelnde allgemeine psychische Schwäche.
              [...]
              Die motorischen Störungen betreffen hauptsächlich die Zunge,
              besonders als Organ der Sprache betrachtet, die Gesichtsmuskeln, die
              Extremitäten und öfter auch die Sphincteren der Blase and des Mastdarms.
              [...]
              Wie schon der Name Paralyse, unvollkommne Paralyse u.s.w.
              andeutet, hat man zunächst die Vorstellung einer Lähmung oder vielmehr
              lähmungsartigen Schwäche gehabt, die sich allmälig auf alle
              Extremitäten verbreitet, wobei man nicht vergass, den Unterschied
              von anderweitigen vollständigen Lähmungen, die nur eine oder
              andere Extremität, oder eine Seite betreffen (Hemiplegieen), hervorzuheben.
              [...]
              Es lassen sich, wie ich glaube, mit Rücksicht auf den Character
              des Ganges und die Störung der Motilität der unteren Extremitäten
              zunächst klinisch zwei Gruppen unterscheiden: die der ersten angehörigen
              Kranken haben einen äusserst characteristischen Gang, der
              vollkommen dem bekannten der sogen. Tabeskranken entspricht, d. h.
              sie heben die Beine stark, werfen sie mit einer gewissen Gewalt vor,
              setzen sie stark mit der Ferse auf, gehen dann weiterhin gespreizt,
              mit den Füssen stark nach auswärts, unsicher und schwankend and
              vermögen schliesslich überhaupt nicht mehr ohne Unterstützung zu
              gehen.
              [...]
              Sehr verschieden
              hiervon ist die Gehstörung bei den Kranken der zweiten Gruppe;
              anstatt des starken, gewaltsamen stossweisen Vorwerfens and Hebens
              der Beine heben sie die Füsse nur sehr wenig vom Boden ab, wodurch
              der Gang oft etwas Schurrendes bekommt, ohne dass doch deshalb die
              Extremitäten nachgeschleift werden wie bei wirklich Gelähmten; dabei
              gehen sie langsam, breitbeinig, oft nach vorn oder hinten leicht übergeneigt
              und machen den Eindruck Jemandes, der sich - wie etwa
              beim Gehen auf einer sehr glatten oder schwankenden Fläche - unsicher
              fühlt, deshalb in jedem Augenblicke möglichst viele Stützpunkte
              sieht, daher kleine Schritte nimmt, die Füsse wenig abhebt und breitbeinig
              geht. Die Bewegungen zeichnen sich durch ihre Laugsamkeit
              aus, der Gang bekommt hierdurch etwas Unbehülfliches, Ungeschicktes,
              Plumpes; er unterscheidet sich, obwohl er selbst viel weniger charakteristisch,
              wesentlich von dem werfenden und schleudernden der ersten
              Gruppe, wobei jedoch beiden die Unsicherheit, ein öfteres Hin- und
              Hertaumeln und Schwanken, namentlich bei Wendungen oder unvorhergesehenen Hindernissen gemeinschaftlich ist; ich will diesen Gang
              zum Unterschied von dem erst geschilderten, dem tabischen, den paralytischen nennen, ohne durch diese Bezeichnung etwas zu präjudiciren.
              Die Kranken, welche diesen Gang zeigen, schwanken niemals
              bei geschlossellen Augen uud tritt bei ihnen die Gehstörung
              meistentheils erst in späterem Verlaufe der Geisteskrankheit deutlich
              hervor.
              [...]
              Eine sehr wesentliche Rolle in dem Entwickelungsgange der
              Krankheit spielen die während dieses Verlaufes, und zwar zu den
              verschiedensten Zeiten, auftretenden apoplecti- oder epileptiformen
              Anfälle, auch paralytische genannt. Sie bestehen in Anfällen
              leichter Ohnmacht oder tieferer Bewusstlosigkeit, theils ohne gleichzeitige
              krampfhafte Erscheinungen, theils von leichteren oder sehr
              heftigen, tonischen und darauf folgenden klonischen Krämpfen des
              Gesichts, des Rumpfes und der Extremitäten begleitet, wobei entweder
              vorwaltend eine Seite oder beide gleichmässig betheiligt sind. Es
              kommen indess auch Anfälle vor, die diesen an die Seite zu setzen
              sind, bei denen jedoch kein vollständiger Verlust des Bewusstseins
              stattfindet; die Patienten werden höchstens vorübergehend etwas
              schwindlig, benommen, taumeln oder fallen auch wohl, oder können
              sich nicht erheben, wenn sie sitzen, haben auch wohl abnorme Sensationen
              in dieser oder jener Extremität - aber nach kurzer Zeit ist
              Alles wieder vorbei, ohne dass ein eigentlicher Verlust des Bewusstseins
              stattgefunden hätte.
              [...]
              Wir haben in dem Vorsteheuden einen Krankheitszustand kennen
              gelernt, welcher auf ein tiefes Gehirnleiden hinweist; in der That zeigen
              sich nach dem Tode gewisse gröbere anatomische Veränderungen,
              welche sich wesentlich auf die Häute und die Oberfläche des Hirns
              beziehen und die wir hier zunächst nur kurz hervorheben. Es gehören
              dahin pachymeningitische (zum Theil hämorrhagische) Auflagerungen
              auf der Innenfläche der dura mater und Hämatome der letzteren;
              ferner zeigt sich Trübung and Verdickung der Pia in sehr verschiedenen
              Graden, in den geringeren Graden besonders längs der grösseren
              Gefässe und der Längsspalte, (öter begleitet von Bildung kleiner Granulationen *) auf der Oberfläche der Convexität.
              [...]
              Quelle: Westphal, C. “Ueber den gegenwärtigen Standpunkt der Kenntnisse von der allgemeinen progressiven Paralyse der Irren.” Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1.1 (1868): 44–95. Web.
              Viele Grüsse von Garfield

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              • MarthaLU
                Erfahrener Benutzer
                • 13.02.2013
                • 509

                #10
                Vielleicht übersehe ich etwas, aber mir ist nicht klar, wie man von der Seelenstörung zur Neurolues kommt. Seelenstörung war schon auch ein gebräuchliches Fachwort damals.
                Also alles, was ich erkennen kann, ist die Seelenstörung und die Paralyse, demnach eine fortschreitende Erkrankung von Körper und Gehirn.

                Kommentar

                • Garfield
                  Erfahrener Benutzer
                  • 18.12.2006
                  • 2142

                  #11
                  Zitat von Su1963 Beitrag anzeigen
                  Es scheint sich um eine andere Bezeichnung für die progressive Paralyse zu handeln, die eine Spätfolge der Syphilis ist: https://de.wikipedia.org/wiki/Neurolues
                  Genial, das scheint auf alle von Westphal genannten Symptome zu passen, auch das mit den Pupillen, Augenlidern und Veränderungen im Rückenmark (was ich nicht auch noch zitiert habe, weil die Texterkennung nicht so gut war und ich noch vieles anpassen musste). Den Zusammenhang mit Syphilis scheint man in dieser Zeit wohl noch nicht gefunden zu haben.
                  Viele Grüsse von Garfield

                  Suche nach:
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                  • Su1963
                    Erfahrener Benutzer
                    • 08.01.2021
                    • 1243

                    #12
                    Zitat von MarthaLU Beitrag anzeigen
                    Vielleicht übersehe ich etwas, aber mir ist nicht klar, wie man von der Seelenstörung zur Neurolues kommt.

                    Im Einleitungsabsatz des oben verlinkten Artikel steht:
                    "Einer freundlichen Einladung folgend, brachte ich einige der letzten Sommermonate in der Irren- Anstalt zu Neustadt-Ebers*walde zu mit Beobachtung und Studium der dort zur Pflege und Heilung befindlichen Geisteskranken. Von speciellem Interesse war für mich die allgemeine progressive Paralyse oder kurz die paralytische Seelenstörung. "


                    Dieses lange unerklärliche Krankheitsbild hat sich knapp 20 Jahre nach diesem Artikel als Langzeitfolge der Syphilis (Neurosyphilis) herausgestellt und war damit quasi der Beweis dafür, dass körperliche Degeneration psychische Krankheitsbilder zur Folge haben können.


                    LG Susanna

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