Auszüge aus dem Tagebuch meines Großvaters

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #16
    Ich überlege es mir, Corinna. Jetzt wird es nochmal spannend...

    Während meiner Tätigkeit in Winterfeld hatte ich bei einem deutschen Baumschulenpächter in Römershof dessen Nichte kennen gelernt, die bei ihm zu Besuch weilte. Sie war eine Waise und lebte bei ihrem Onkel, dem Direktor einer Dachpappenfabrik in Petersburg. Ihre Herkunft war von einem Geheimnis umgeben. Ihr Großvater war als kleines Kind auf einem russischen Kriegsschiff nach Libau gebracht worden und dem dortigen Pfarrer mit einer größeren Geldsumme zur Erziehung übergeben worden. Dem Kinde hatte man den Namen „Radatus“ gegeben. Radatus ist kein russ. Name, das Wort stammt aus dem Griech. und bedeutet „Der Ausgesetzte“.

    (Meine (Helens) Anmerkung dazu: Das in einem der nächsten Beiträge genannte Kind, meine Tante, die in Petersburg aufwuchs, erzählte mir, dass dieser Junge in die Familie eines Tischlers namens Reichard in Pflege gegeben wurde. Sein Familienname sollte Radatus heißen. Als Erkennungszeichen wurde ein Ring mit einem Stein, in den ein Georgsritter eingeschliffen war, übergeben. Als das Kind etwa 12 Jahre alt war, kam wieder ein Schiff, um ihn abzuholen, doch er lief weg und versteckte sich, so dass das Schiff ohne ihn abfahren musste. Als er erwachsen war, kam eine Erbschaft, die er aber nicht annahm, weil seine Eltern sich nicht um ihn gekümmert hätten.)

    Mit diesem Frl. Radatus hatte ich mich verlobt. Von Winterfeld aus hatte ich sie schon einmal in Petersburg besucht. Petersburg von damals war nicht zu vergleichen mit dem späteren Leningrad. Petersburg, als Residenz des Herrschers aller Preußen, mit seinen prächtigen Bauten, den wuchtigen Standbildern Peter des Großen, Katharina der Zweiten, Alexander des Dritten, mit den wundervollen ehernen Rossebändigern auf der Moika-Brücke, dem Winterpalast, dessen Korridore 33 km lang sind, war eine Stadt, deren Sehenswürdigkeiten man bei einem einmaligen Besuch nur teilweise aufsuchen konnte.

    Da war das Bootshaus Peter des Großen, ein einfaches Bretterhaus, in dem der Zar seine in Holland erlernte Kunst des Bootsbaus ausübte, über dem ein großes steinernes Gebäude errichtet worden war, um es vor Einflüssen der Witterung in seiner Ursprünglichkeit zu erhalten.


    In der Eremitage, einem der berühmtesten Museen der Welt bewunderte ich die unsterblichen Werke eines Michelangelo, Raffael, Rubens, Rembrandt, Dürer und vieler anderer Meister. Ich war im kaiserlichen Marstall und durfte die vielen edlen Pferde bewundern, die dort in seiner ganz bestimmten Reihenfolge standen. Zuerst standen die Pferde, die nur für den Gebrauch des Zaren bestimmt waren. Dahinter folgten die des Thronfolgers, darauf die der Zarinmutter und dann der Zarin.

    Über dem Marstall befand sich, wenn ich es so nennen darf, eine museale Rumpelkammer. Dort standen die Schlitten in denen Katharina II. mit ihren Günstlingen ausgefahren war, Schlitten, auf denen bis zu 20 Personen Platz fanden. Dort stand auch der zerfetzte Wagen, in welchem Alexander der Zweite saß, als ihn eine Bombe zerriss. Zum Gedenken dieses Zarenmordes wurde über der Stelle des Attentats die Sühnekirche erbaut. In ihr ist der Teil der Straße mit Rinnstein und Pflaster, die Stelle, auf die die Bombe fiel, zu sehen.

    Ich besuchte die Peter-Paul-Festung, wo in den unterirdischen Räumen die verstorbenen Mitglieder der Zarenfamilie ruhen und blutige Geheimnisse der Romanovs begraben sind. Der gewaltige Kirchenbau des orthodoxen Glaubensbereiches ist die Isaak-Kathedrale. Das Innere birgt Kostbarkeiten, die nur der Kunstkenner richtig würdigen kann. Goldene Gefäße und blitzende Edelsteine blenden den Blick und wenn man Gelegenheit hat, einem feierlichen Gottesdienst beizuwohnen, so kann man nur mit Erschütterung und Bewunderung den dröhnenden Bässen der Popen lauschen, deren Gesang grollend durch die weiten Räume rollt. Dort stand ich auch vor einem kostbaren Schrein, in welchem der Rock Jesu hing. Der Rock, den Christus getragen hat und den ein römischer Soldat im Würfelspiel gewann. Beim Anblick dieser hl. Reliquie wollte mir aber kein frommer Gedanke kommen, sondern ketzerische Überlegungen beherrschten mein Denken. Wie war denn das doch, wird nicht auch in Trier ein Hl. Rock gezeigt? Und in Paris doch auch – und in Barcelona auch – und in drei andern Orten der Welt doch ebenfalls? Und war nicht bei jedem dieser Röcke eine Echtheitsbescheinigung des Papstes vorhanden? Es konnte doch nur einen von Jesu getragenen Rock geben. – Oder war überhaupt kein echter vorhanden? Waren die Röcke nur das Produkt einer Idee eines geschäftstüchtigen Papstes? Die Bescheinigungen werden nicht billig gewesen sein, denn für die jeweiligen Besitzer der Röcke waren diese ein wertvolles Propagandamittel. Der Rock in Trier wird heute nicht mehr öffentlich gezeigt, man rückt also von diesem frommen Betrug ab. die Kirche ist vorsichtig geworden, sie macht auch den Schwindel von Herolsbach nicht mit und hält sich auch den Vorgängen in Konnersreuth gegenüber zurück. Beides sind Fälle, die sie in früheren Zeiten nicht versäumt hätte, sie ihren Zwecken nutzbar zu machen.
    Nach dieser Abschweifung nun wieder zu anderen meiner Petersburger Erlebnisse.


    Allen ein schönes Wochenende!
    Helen

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #17
      Hallo AlAvo, da habe ich einen guten Link gefunden, den du in "Deutsch-Lettische Biografien" vorgestellt hast. Vielen Dank dafür!!

      Darin fand ich

      1. RADATUS Anna geb. Friesen * 73. J. a. + 01.08.1923. Libau
      Alten Frdh. Libau; W. Strohstr. 8, Libau.
      Heil. Dreifaltigkeitss gmn. Libau.
      “Libausche Zeitung” # 172. 04.08.1923.
      “Libausche Zeitung” # 171. 03.08.1923.

      2. RADATUS Felix Aleksander * 7. M. a. +1936.
      Petri Gmn. R.
      “Rigasche Rundschau” # 174. 31.07.1936.

      3. RADATUS Hermann * 45. J. a. + 27.09.1920. Libau
      Alten Frdh. Libau.
      “Libausche Zeitung” # 223. 30.09.1920.

      4. RADATUS Herta Karoline Hermine * 1. J. a. + 1918.
      Petri Gmn. R.
      ---
      Bei Felix Aleksander steht: * 7. M. a. +1936? Ich nehme an, er wurde nur 7 Monate alt?

      Sie gehören zur Familie Radatus, von der ich schrieb. Nur kann ich sie nicht zuordnen. Meine Kenntnis beginnt mit Hermann Radatus, von dem ich keine Daten habe. Er hatte (mind.) einen Sohn Ludwig, Georg, Friedrich Radatus aus Sackenhausen (?) geb. 18.03. 1833. Er heiratete am 7.9.1858 eine Auguste Klara Fielitz (geb. 10.2.1839 in Rönnen?) Sie hatten 12 Kinder und da wird eine Zuordnung sehr schwierig.
      Ich freue mich aber über die neue Information.

      Herzliche Grüße
      Helen

      Kommentar

      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #18
        In der Familie Friesen, des Onkels meiner Braut verkehrte eine russische Dame, die mir als ‚Anna Wladimirowna’ vorgestellt wurde. Es ist in Russland üblich, dass man nur den Vornamen und den Vatersnamen nennt, den Familiennamen erfährt man oft überhaupt nicht. So wurde ich ihr als German Ottonowitsch vorgestellt. Ihr geistvolles Gespräch und ihre Erzählungen, die in den höchsten Kreisen der Zarenstadt spielten, bewogen mich, meine Braut zu fragen, wer eigentlich diese Anna Wladimirowna sei. Da erfuhr ich, dass dies Anna Wladimirowna, Gräfin Apraxina sei und ihr Sohn Feodor Konstantinowitsch als Flügeladjutand beim Zaren Dienst tue. Wie kam es, dass diese Frau freundschaftlich in der Familie Friesen verkehrte? Ich habe mir darüber den Kopf zerbrochen und bin auf die Idee gekommen, dass sie das Geheimnis der Herkunft meiner Frau kannte, war doch auch Frau Friesen eine geb. Radatus, eine Tochter des ‚Ausgesetzten’.
        Ich habe nichts Näheres erfahren können, vielleicht war es auch nur eine falsche Vermutung von mir.

        Viel Interessantes wusste die Gräfin zu erzählen, vom Leben am Hofe, von Episoden um die Großfürsten und auch von Rasputin, der zu dieser Zeit in Petersburg sein Unwesen trieb. Diesen sibirischen Bauer, Säufer, Wüstling und Wundertäter zugleich gelang, was keinem der berühmtesten Ärzte gelang, das nach jeder kleinen Verletzung unaufhaltsam rinnende Blut des Zarewitsch zu bannen. Sein Heilmittel war das Gebet, das sogar wirkte, wenn er sich in Sibirien bei seiner Familie befand und ihn dort ein Hilferuf der Zarin erreichte. Er ging am Zarenhofe ein und aus und wusste den Zaren so zu beherrschen, dass selbst Minister nach seinem Willen eingesetzt oder entlassen wurden. er wurde von Großfürsten und Politikern bestochen, die glaubten, durch ihn ihre Wünsche beim Zaren durchsetzen zu können. Rasputin nahm das Geld und verfolgte aber seine eigene Politik.

        In Winterfeld hatte ich einen Viehhirten, Streich hieß er, ein Lump und Säufer, ein verkommener Mensch. Ich komme später noch auf ihn zurück. Auch dieser Mensch verstand es, rinnendes Blut zu stillen ohne irgendein Mittel anzuwenden. An ihn musste ich bei den Schilderungen Rasputins denken und ich fragte mich, ob auch er wohl dem Zarewitsch hätte helfen können.
        Nun, Streich war tot, erschlagen – und auch Rasputin wurde später, als er versuchte, den Zaren zu einem Friedensschluss zu veranlassen, noch rechtzeitig vergiftet, erschossen und schließlich ersäuft, da Gift und Kugeln ihn nicht zur Strecke bringen konnten.


        Als ich 1917 aus Sibirien zurückkam, zeigte man mir die Stelle, wo ihn seine fürstlichen Mörder unter das Eis der Newa gesteckt hatten.

        Zu den Sehenswürdigkeiten Petersburgs konnte man auch die Mietdroschken rechnen, die mit den berühmten Orloff-Trabern bespannt, im Renntempo über das Holzpflaster des Newski-Prospekts, der Haupstraße der Stadt, dahindonnerten. Eine Fahrt mit ihnen konnten sich nur Leute leisten, die über genügend übriges Geld verfügten.

        Höchst interessant war das bunte Leben in den Hauptstraßen. Kosaken auf wilden, ungebärdigen Pferden mit schief auf einer Seite des Kopfes sitzender Tschapka, die sie sonderbarerweise nicht verloren, Tscherkessen in langen weißen Mänteln, den krummen Säbel an der Seite und den blitzenden Patronenreihen an der Brust, ein hochgewachsener schöner Menschentyp, dazwischen Tartaren in reichen bunten Gewändern, dazwischen Kirgiesen, Baschkieren, Burchäten, Kurden, Armenier und Vertreter all der vielen muselmanischen Völker aus dem Osten des großen Reiches boten ein fesselndes Straßenbild. Machte eine hohe Persönlichkeit eine Ausfahrt, so ritt ein Pulk Kosaken voraus, die rücksichtslos mit ihren Nagaikas die Straße freilegten. Wenn einer der Passanten einen Hieb über den Kopf erhielt, so fand er dies ganz in der Ordnung, zog die Mütze und grüßte demütig.


        Helen

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        • AlAvo
          • 14.03.2008
          • 6186

          #19
          AW: Familie Radatus

          Zitat von Helen Beitrag anzeigen
          Hallo AlAvo, da habe ich einen guten Link gefunden, den du in "Deutsch-Lettische Biografien" vorgestellt hast. Vielen Dank dafür!!

          Darin fand ich

          1. RADATUS Anna geb. Friesen * 73. J. a. + 01.08.1923. Libau
          Alten Frdh. Libau; W. Strohstr. 8, Libau.
          Heil. Dreifaltigkeitss gmn. Libau.
          “Libausche Zeitung” # 172. 04.08.1923.
          “Libausche Zeitung” # 171. 03.08.1923.

          2. RADATUS Felix Aleksander * 7. M. a. +1936.
          Petri Gmn. R.
          “Rigasche Rundschau” # 174. 31.07.1936.

          3. RADATUS Hermann * 45. J. a. + 27.09.1920. Libau
          Alten Frdh. Libau.
          “Libausche Zeitung” # 223. 30.09.1920.

          4. RADATUS Herta Karoline Hermine * 1. J. a. + 1918.
          Petri Gmn. R.
          ---
          Bei Felix Aleksander steht: * 7. M. a. +1936? Ich nehme an, er wurde nur 7 Monate alt?

          Sie gehören zur Familie Radatus, von der ich schrieb. Nur kann ich sie nicht zuordnen. Meine Kenntnis beginnt mit Hermann Radatus, von dem ich keine Daten habe. Er hatte (mind.) einen Sohn Ludwig, Georg, Friedrich Radatus aus Sackenhausen (?) geb. 18.03. 1833. Er heiratete am 7.9.1858 eine Auguste Klara Fielitz (geb. 10.2.1839 in Rönnen?) Sie hatten 12 Kinder und da wird eine Zuordnung sehr schwierig.
          Ich freue mich aber über die neue Information.

          Herzliche Grüße
          Helen

          Hallo Helen,

          zunächst vielen Dank für die Fortsetzung des Tagebuches!

          Bezüglich des familiären Anschlusses der gefundenen Mitglieder der Familie Radatus bestehen gute Aussichten diese in Raduraksti , den lettischen Online-Kirchenbüchern sowie den Volks- und Seelenrevisionslisten, zu finden.
          Sofern zu Raduraksti oder dessen Anwendung Fragen bestehen oder eine Unterstützung benötigt wird, stehe ich gerne hilfreich zur Seite.


          Viele Grüße
          AlAvo
          War Mitglied der Lettischen Kriegsgräberfürsorge (Bralu Kapi Komiteja)

          Zirkus- und Schaustellerfamilie Renz sowie Lettland

          Reisenden zu folgen ist nicht einfach, um so mehr, wenn deren Wege mehr als zweihundert Jahre zurück liegen!


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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #20
            Oh, das ist wieder eine neue Quelle, danke, ich schaue sie mir auf jeden Fall an.
            ---
            Ich besuchte auch den inmitten der Stadt gelegenen großen Friedhof des Alexander-Newski-Klosters mit seinen herrlichen Grabdenkmälern, dabei stieß ich ganz unvermutet auf das Grab Anton Rubinsteins, des bekannten Komponisten, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.

            Noch viele andere Sehenswürdigkeiten könnte ich anführen, aber viele habe ich schon vergessen, denn es sind immerhin schon 45 Jahre vergangen, seit ich Petersburg erstmalig sah.

            Ich sagte bereits, dass dieser erste Besuch Petersburgs von Winterfeld aus erfolgte. Im Juni 1913 reiste ich von Lindenberg in die Hauptstadt, dieses Mal, um dort zu heiraten. Als ich meine Braut wiedersah, war ich tief erschrocken. Als ich sie in Römershof kennenlernte, hatte sie ein blühendes gesundes Aussehen und nun trat sie mir mit blassem, leidenden Gesicht entgegen. Auch ihr Wesen hatte sich verändert, sie erschien mir niedergedrückt und traurig. Von ‚lieben’ Bekannten erfuhr ich nun, dass sie damals eben erst aus einem finnischen Sanatorium, einer Lungenheilstätte als gesund entlassen worden war. Ich heiratete also eine kranke Frau. Ich merkte, dass sie ihren Zustand kannte, dass dieser sie bedrückte und dass sie vielleicht hoffte, in den Wäldern ihrer neuen Heimat zu gesunden. Es wurde eine Hochzeit mit erzwungener Fröhlichkeit, mit trüben Ahnungen für die Zukunft. Diese sollten sich schlimmer erfüllen als man es vermuten konnte.

            Die Trauung wurde vom evang. Pfarrer in der Wohnung vorgenommen. Am zweiten Tag nach der Hochzeit fuhr ich im Auftrage Baron Wolffs von Petersburg weiter nach der 200 Werst weiter östlich liegenden Kolonie Nikolajewna um zu versuchen, dort deutsche Arbeiter für die Güter in Livland anzuwerben. Meine Fahrt blieb ergebnislos, da überzählige Familien nicht vorhanden waren. Der Generalvorsteher, er hieß Schäfer, bat mich einige Tage zu verweilen, denn der Besuch eines Reichsdeutschen galt als Sensation und jeder seiner Gemeindemitglieder wollte doch Neuigkeiten aus Deutschland, ihrem alten Heimatlande hören. So wanderte ich zwei Tage lang von Hof zu Hof, überall auf das gastfreundlichste aufgenommen. Um mir den Magen nicht völlig zu verderben, zog ich es vor, am dritten Tage wieder abzureisen.
            Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:57.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #21
              In Petersburg hatte man inzwischen alles getan, um mit meiner Frau alsbald nach Lindenberg abreisen zu können. Meine Frau hat Petersburg und ihre Verwandten nie wiedergesehen. Ihr Zustand verschlimmerte sich langsam aber beständig. Noch kein Jahr war verflossen, als sie bettlägerig wurde und bald dauernd liegen musste. Dazu kam der erschwerende Umstand, dass sie ein Kind erwartete. Als das Kind am 23. Juni 1914 nach zweitägigen furchtbaren Qualen endlich zur Welt kam, war ihr nahes Ende besiegelt. Diese zwei Tage werde ich nie im Leben vergessen. Sie waren furchtbar. Nach Angabe des Arztes war es eine Frühgeburt, ein Siebenmonatskind, aber es war gesund und ist bis heute gesund geblieben.
              ---------------
              "Zeitungsausschnitt aus dem „Völkischer Bobachter“:
              Eichenlaubträger Oberst v. Wolff tödlich verunglückt Berlin 9. Juli (kein Jahr)

              Einem tragischen Unglücksfall fiel der Eichenlaubträger Oberst Hans Freiherr von Wolff, Kommandant einer im Osten eingesetzten Kavalleriebrigade zum Opfer. Nachdem er 1919 bereits als 16jähriger zu den Waffen geeilt war, um seine baltische Heimat zu verteidigen, trat er 1920 als Fahnenjunker in ein Reiterregiment ein. Als Hauptmann und Kommandeur eines Schützen-Bataillons wurde er für die Erstürmung von Chaumont am 14. Juni 1940 mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet. Im Verlauf des Balkanfeldzuges nahm er in einem kühnen nächtlichen Vorstoß Ucize, das Hauptquartier einer sowetischen Armee. In den Kampf gegen die Sowjetunion zog er als Major und Kommandeur einer Panzeraufklärungs-Abteilung. Bereits Ende 1941 tat er sich im Raum von Dünaburg durch Tapferkeit und Entschlußkraft hervor, als er einen heftigen feindlichen Durchbruchsversuch in hartem Ringen abwies und durch den geschickten Einsatz seiner Abteilung entscheidend zu den Erfolgen seiner Division beitrug. Auch in den folgenden schweren Kämpfen zeichnete sich Major Freiherr v. Wolff aus."

              Dieses müsste ein Sohn des Baron von Wolff vom Gut Lindenberg sein?!
              Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:57.

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              • Fiehn
                Erfahrener Benutzer
                • 16.09.2008
                • 768

                #22
                Hallo Helen,

                ich habe eben deine Berichte aus dem Tagebuch gelesen. Ein ganz großes Lob an dich. Es ist bestimmt nicht leicht, den Text abzutippen.

                Muss meinen Vorrednern zustimmen. Diese Auszüge sind sehr informativ, erhält man doch einige Einblicke in das Leben der Vorfahren. Ich wünschte, ich hätte solche Unterlagen in der Hand.

                Freue mich schon auf die nächsten Textpassagen. Mal gespannt, wie alles ausgeht.

                Gruß Melanie
                Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                FN meiner Forschung

                Meine Orte

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #23
                  Ja Fiehn, das war vor einigen Jahren viel Arbeit, jetzt brauche ich es nur noch kopieren. Schön, wenn du es auch interessant findest. Zu Lebzeiten hat mein Großvater nichts über seine Erlebnisse erzählt.
                  Helen

                  Kommentar

                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #24
                    1. Weltkrieg Orenburg

                    Am 15. Juli 1914 ritt ich nach der 6 Werst von meiner Wohnung entfernten Oberförsterei Moorheide. Unterwegs begegnete mir die auf dem Gute Pickallen in Baracken untergebrachte Abteilung der Orkutsker Husaren in feldmarschmäßiger Ausrüstung. Ich glaubte an einen Übungsritt und freute mich ihrer schönen Pferde. Als ich mich eine Stunde darauf vom Oberförster verabschiedete, sagte mir dieser: „Wir müssen vielleicht Abschied nehmen für immer, ich bin heute einberufen worden, es gibt Krieg.“ Nun wusste ich auch, dass die Husaren auf keinem friedlichen Übungsritt begriffen waren. Mit düsteren Gedanken ritt ich nach Hause. Ich dachte an meine todkranke Frau und an mein sechs Wochen altes Kind. Zu Hause angekommen, schickte ich einen Verwalter sogleich nach der Station Üxküll mit dem Auftrag, sich nach der dortigen Hauptabteilung der Husaren zu erkundigen. Der Bescheid, den er mir brachte, beunruhigte mich noch mehr, die Husaren waren fort, eben war das Gepäck der Offiziere verladen worden. Am nächsten Tage fuhr ich nach Riga zum deutschen Konsul und erkundigte mich, wie ich mich im Falle des Krieges zu verhalten habe. Er sagte mir, dass ich sofort über die Grenze muß, um mich dort zu stellen, vorläufig aber nichts übereilen soll. Das Konsulat wurde bestürmt von deutschen Untertanen, die alle dasselbe fragten wie ich. Sie erhielten alle den selben Bescheid. Abwarten hieß es. Und so haben wir abgewartet, bis plötzlich die Grenze geschlossen und der Hafen gesperrt war.

                    Wäre er Konsul etwas besser über die Lage orientiert gewesen, wie er es hätte eigentlich sein sollen, so wären wir alle noch nach Deutschland gekommen. Ich selbst wäre allerdings in einen großen Gewissenskonflikt geraten. Sollte ich nach Deutschland fahren und meine sterbende Frau und das Kind ihrem Schicksal überlassen wie es die Pflicht verlangte? Oder sollte ich mich ihr entziehen und bei meiner Familie bleiben? Nun – ich hätte es so oder so machen können, die Familie musste ich in jedem Fall verlassen, denn dass man mich intervenieren würde, stand wohl fest.

                    Auf der Rückfahrt von Riga hatte ich bereits Gelegenheit den alten Hass der lettischen Bevölkerung gegen die Deutschen hie und da aufflammen zu sehen. Durch ein Missverständnis war auf der Endstation mein Kutscher nicht anwesend und die dort haltenden Lohnkutscher weigerten sich, mich zu fahren. Ich musste also warten, bis ich mein Gefährt telefonisch herbeigerufen hatte. Das war das erste Unannehmliche des kommenden Krieges.

                    Am 18. Juli fuhr ich abermals nach Riga. Die alljährlich dort stattfindende Bullenausstellung und Auktion sollte an diesem Tage stattfinden. Die angemeldeten Tiere waren alle aufgestellt worden, es waren jedoch nur zwei Käufer erschienen. Baron v. Wolff, als Leiter der Ausstellung beschloss deshalb die Auktion zu verschieben, bis die nächsten Tage die schwüle Situation geklärt haben würde. Ich besprach auch mit ihm alle Eventualitäten des drohenden Krieges und dort, auf den Krippen von unseren Tieren sitzend, gab er mir das Versprechen, in jedem Falle für meine Familie sorgen zu wollen. Dies Versprechen hat er gehalten.

                    Wäre ich an diesem Tage abgereist, so hätte ich die Grenze noch erreicht. Aber mit Rücksicht auf meine Familie und im Vertrauen auf die Auskunft des Konsuls und in der Hoffnung auf die Möglichkeit des Vermeidens des Krieges blieb ich. Die Hoffnung war falsch, die Kriegserklärung kann am nächsten Tage, aber nicht wie allgemein angenommen wurde von Russland, sondern Deutschland war damit zuvorgekommen.

                    Das Schicksal hatte gesprochen und so schwer es mir auch wurde, ich musste von meiner Familie Abschied nehmen. Ich tat es in der Meinung, meine Frau das letzte Mal gesehen zu haben. Wieder fuhr ich nach Riga, um meinem Chef noch einmal meine Familie zu empfehlen. Die Fahrt war lebensgefährlich. Es gingen an diesem Tage nur zwei Züge und diese waren dermaßen besetzt, dass ich die ganze Fahrt auf den Trittbrettern sitzend verbringen musste. Nach mir kommende Passagiere kletterten auf die Dächer der Wagen oder setzten sich auf die Puffer. Eine Kontrolle war unmöglich. Mit wüster Gewalt brach der gärende Hass der Letten hervor und mehrere Deutsche wurden aus dem Zuge geworfen. Diese Fanatiker gebärdeten sich plötzlich als tolle Patrioten. Hofften sie doch das, was sie mit ihrem Aufstand in den Jahren 1905/06 nicht erreicht hatten, nun unter Absingung der Nationalhymne zu erzielen. Und sie rechneten richtig. Die russische Regierung hat in der Vernichtung allen Deutschtums in den Baltischen Provinzen ihre Wünsche noch übertroffen.

                    In Riga angekommen, suchte ich zunächst das deutsche Konsulat wieder auf. Vor ihm hielt eine Abteilung berittener Polizei, da Exzesse vorgekommen waren. Das deutsche Wappen über der Tür war fort, heruntergerissen und an dessen Stelle war nur ein grauer Fleck, den der Pinsel des Malers nicht erreicht hatte. Das Konsulat war bereits aufgelöst, aber in den alten Räumen fertigte ein Beamter des amerikanischen Konsulats die um Rat Fragenden ab. Was wir erfuhren, war wenig tröstlich. Die Verbindung über die Grenze war gesperrt und der im Hafen zur Abfahrt bereit liegende Dampfer ‚Regina’ war beschlagnahmt worden. An seinem Mast wehte die russische Flagge. Der Beamte riet uns, ruhig nach Hause zu gehen und das weitere abzuwarten.

                    Ich suchte nun Baron v. Wolff auf, um mit ihm zu beraten. Am selben Tage verkaufte ich die ausgestellten 8 Bullen zum Preise von 11 Kopeken pro Pfd. Lebendgewicht, da keine Möglichkeit zum Rücktransport der Tiere vorhanden war. Alle 8 Bullen brachten die Hälfte von dem, was einer sonst gebracht hätte. Andere Aussteller erhielten am nächsten Tag nur noch 7 Kopeken.

                    Als ich abends unerwartet wieder zu Hause eintraf, sah ich bereits die sorgende Hand der Baronin. In meiner Wohnung war eine Schwester zur Pflege meiner Frau einquartiert worden.

                    Am 25. Juli rief mich der Pächter unserer Papierfabrik an und teilte mir mit, dass die Deportation aller Deutschen verfügt worden sei und dieselbe heute noch erfolgen solle. Ich hatte mit dieser Maßnahme gerechnet, sie brachte mir also nichts Unerwartetes. Nur neugierig war ich, wohin man mich wohl bringen würde. Ich dachte natürlich gleich an Sibirien, denn zu sehr ist man mit Russland an die Verbindung der Worte ‚Deportation’ und ‚Sibirien’ gewöhnt.

                    Der Tag verging ohne dass etwas geschah. Am nächsten Morgen rief mich der Pächter wieder an und riet mir, schleunigst zu verschwinden, da ein russischer Polizist, ein alter Widersacher von mir, unterwegs sei, um mich in Ketten nach Riga zu bringen. Da war allerdings Eile geboten, denn ich war überzeugt, das mein alter Freund mich nicht besonders zart behandeln würde. Ich verschwand also.

                    In Riga teilte mir Baron Wolff mit, dass meine Verschickung nach einem Gouvernement hinter der Wolga verfügt sei und ich sofort abreisen müsse. Er hatte versucht, sich bei dem ihm befreundeten Gouverneur für mich zu verwenden, jedoch ohne Erfolg. es wurde ihm aber gesagt: „Wenn Sie klug sind, so verschwenden Sie in dieser Angelegenheit kein weiteres Wort.“ Ich suchte nun den Polizeimeister von Riga auf, ein oftmaliger Jagdgenosse und Gast in Winterfeld, mit dem ich manche fröhliche Stunde verlebt hatte. Ich meldete mich zur Abfahrt und bat um entsprechende Papier. Im Vertrauen auf unsere Bekanntschaft hatte ich mich der deutschen Sprache bedient. Der Erfolg war ein Anpfiff, wie ich ihn bis dahin noch nicht erlebt hatte. Ich musste mich schriftlich verpflichten, mit dem nächsten Zuge nach Samara abzureisen, andernfalls ich als Spion behandelt werden würde. Durch diese Behandlung erbittert, nahm ich mir vor, nun gerade noch nicht zu fahren, sondern nochmals meine Frau aufzusuchen. Von meiner Station ging ich zu Fuß auf einsamen Waldwegen bis zum Gut. Mein Erscheinen verursachte dort großen Schrecken, denn die Polizei, die nach mir alles durchsucht hatte, war noch nicht lange vom Hofe fort. Am andern Morgen nahm ich endgültig von meiner Frau Abschied - um sie nie wiederzusehen.
                    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:57.

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                    • Fiehn
                      Erfahrener Benutzer
                      • 16.09.2008
                      • 768

                      #25
                      Traurig, traurig. Das von ihm erzählte erinnert mich ein bisschen an den zweiten Weltkrieg. Da lief es doch ähnlich oder?
                      Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
                      Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

                      FN meiner Forschung

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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #26
                        Hier endet die Erzählung aus dem Gebiet des Baltikums, es folgen seine Alltagserlebnisse in Russland unter Baschkiren als deutscher Zivilgefangener.
                        Wenn ich darf, würde ich im Forum "Russland, Galizien ..." weiterschreiben.
                        Vielleicht kannst mir mit einem Link als Querverweis dahin helfen, AIAvo?

                        Helen

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                        • AlAvo
                          • 14.03.2008
                          • 6186

                          #27
                          Verlinkung

                          Zitat von Helen Beitrag anzeigen
                          Hier endet die Erzählung aus dem Gebiet des Baltikums, es folgen seine Alltagserlebnisse in Russland unter Baschkiren als deutscher Zivilgefangener.
                          Wenn ich darf, würde ich im Forum "Russland, Galizien ..." weiterschreiben.
                          Vielleicht kannst mir mit einem Link als Querverweis dahin helfen, AIAvo?

                          Helen

                          Hallo Helen,

                          nochmals vielen Dank für Deine sehr interessanten Berichte aus dem Tagebuch Deines Großvaters!!!

                          Die weiteren Berichte finden sich im Unterforum " Rußland, Galizien, Bukowina, Wolgaregion, Bessarabien Genealogie"


                          Viele Grüße
                          AlAvo
                          War Mitglied der Lettischen Kriegsgräberfürsorge (Bralu Kapi Komiteja)

                          Zirkus- und Schaustellerfamilie Renz sowie Lettland

                          Reisenden zu folgen ist nicht einfach, um so mehr, wenn deren Wege mehr als zweihundert Jahre zurück liegen!


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                          • Wolfg. G. Fischer
                            Erfahrener Benutzer
                            • 18.06.2007
                            • 4917

                            #28
                            Zitat von Helen Beitrag anzeigen
                            Es ist dem Tagebuch meines Großvaters entnommen.
                            Hallo Helen,

                            auch ich finde die Aufzeichnungen Deines Großvaters sehr interessant. Aber sind es nicht eher Lebenserinnerungen?

                            Mit besten Grüßen
                            Wolfgang

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                            • Helen
                              Erfahrener Benutzer
                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #29
                              Hallo Wolfgang, ja, das wäre vielleicht die bessere Bezeichnung, da es weniger eine Dokumentation ist als die Schilderung persönlicher Erlebnisse. Das Wort "Tagebuch" ist bei ihm übrigens nicht gefallen, es war meine Interpretation.
                              Viele Grüße
                              Helen

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                              • niederrheinbaum
                                Gesperrt
                                • 24.03.2008
                                • 2557

                                #30
                                Hallo, Helen!

                                Ich schließe mich den Anderen an: Welch interessante Aufzeichnungen!

                                Es ist toll, dass Du alle hier daran teilhaben läßt.

                                Da hast Du einen richtigen Schatz.

                                Viele Grüße, Ina

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