Briefe meiner Großmutter aus Riga 1903 - 17

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  • Frank K.
    Erfahrener Benutzer
    • 22.11.2009
    • 1318

    #91
    Dokument 79: Riga, Montag 15./28.09.1908,
    Lieber Arthur,
    Du bekommst die Antwort viel schneller, als Du sie verdienst, weil ich heute Nacht etwas Zeit habe und mich in der Stimmung zu schreiben fühle. Für die Kinder ist es heute zu naß, um herauszugehen. Daher bin ich heute auch nicht so müde wie sonst. Dorothy schläft friedlich, aber Harry ist aufsässig und Frieda beschäftigt sich schon mit ihm. Weil er heute Nachmittag so lange geschlafen hat, ist er jetzt lebhaft.
    Wir haben hier seit letztem Donnerstag Cholera (wahrscheinlich schon länger, wenn sie es zugeben würden). Die Straßen sind mit Kalk usw. voll gestreut und sehen so schauerlich aus, daß sie mich in Schrecken versetzen. Es läßt mich an eine Plage denken. Ich mache mir solche große Sorgen um die Kinder, daß ich nicht schlafen kann. Wir haben an Dich am Tag der Silberhochzeit gedacht und wollten ein Glückwunschtelegramm schicken, sind aber noch immer am Strand und ich habe vergessen, Rudolf daran zu erinnern, als er an dem Morgen in die Stadt fuhr.
    Du wirst denken, daß ich zu einem richtigen Bettler geworden bin, aber ich muß Dich wieder um einige alte Bücher bitten. Reiß die Einbände und Rücken ab, damit sie leichter werden. Es reichen solche, die Du schon einmal gelesen hast. Ich habe seit mehr als vier Wochen nichts mehr zu lesen gehabt, außer etwas deutsches. Wenn ich dann nach dem Essen eine halbe Stunde liege, kann ich das nicht anpacken. Ich habe im Guardian gesehen, daß man "the doory Gate" für 3 1/2 Pence bekommen kann. Hast Du es schon gelesen? Ich habe mir nicht viel daraus gemacht, als ich es gelesen habe. Hast du auch schon "Richard Heneril" gelesen? Ich sollte es lesen, aber wir waren die letzten zwei Sonntage in der Stadt und haben die Babies mit dem Dampfer nach Dahlen (eine Insel weiter oben im Fluß) gebracht, damit sie einige Stunden an der frischen Luft haben. Jetzt aber, wo wir hier Cholera haben, ist es, denke ich, nicht ratsam auf Dampfer, in Straßenbahnen und in Züge zu gehen. Ich hasse den Winter, wünsche mir aber, daß der Frost bald kommt und die Cholera ausmerzt. Was kann man tun, außer daß man das Wasser abkocht, um sicher zu sein. Ich habe schon Chlorkalk ins Bad, Klosett und auf die Fensterbretter gestreut, obwohl es unangenehm ist, aber es ist doch besser, als wenn die Kinder krank werden und in ein Krankenhaus gebracht werden müssen. Das würde Dorothy sofort umbringen! Wenn man Kinder hat, weiß man wirklich, was Sorgen bedeuten. Die Kinder sterben hier im Sommer wie die Fliegen zu Hunderten an Durchfall und im Winter an anderen Krankheiten. Hier ist auch wieder Typhus verbreitet. Ich wünschte, wir könnten in einer gesünderen Stadt wohnen. Hier würdest Du das Fürchten lernen!
    Jennie und Du scheint überhaupt eine lustige Zeit gehabt zu haben. Wie alt sind jetzt eigentlich Ernie und Percy. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.
    Olive muß doch stolz sein und ihre Arbeit lieben. Haben Mabel und Jessie schon etwas gefunden? Ich denke doch, daß Florrie häuslich ist und Jennie hilft. Ich erinnere mich noch, wie hervorragend sie Euren Gasherd bedient hat, als ich das letzte Mal vor so langer Zeit bei Euch war. Obst war dieses Jahr sehr billig und im Massen zu haben. Heute habe ich riesige Äpfel 2 Pfund für 1 3/4 gekauft. 6 Pfund kosten 5 1/4 (15 große Äpfel). Eierpflaumen kosteten genau so viel und späte Kirschen kosteten je Pfund 1 3/4. Lammfleisch gibt es jetzt hier auch wieder (ich weiß nicht, wie sie das schaffen). Die besten Stücke kosten je Pfund zwischen 3 1/2 und 4 Pence. Andere Stücke aus der Schulter kosten 2 1/2 bis 3 Pence, aber Butter ist teuer und genau so auch Mehl. Als wir zurückkehrten haben wir unsere Wohnung voll mit Käfern gefunden. Das erste Jahr, als wir in unserer Wohnung waren, hatten wir keinen Ärger mit Ungeziefer
    Liebe Grüße an Jennie und Euch alle und liebe Grüße von Rudolf.
    Deine Liebe Schwester Lily K.
    Danke Florrie für ihren Brief in den "Weldons".
    Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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    • Frank K.
      Erfahrener Benutzer
      • 22.11.2009
      • 1318

      #92
      Dokument 80: Riga, Donnerstag, im November 1908.
      Lieber Arthur,
      kannst Du mir, wenn das nächste Geld fällig ist, das schicken, was ich beigefügt habe, außerdem 2/- in englischen Briefmarken (manchmal brauche ich sie, wenn ich etwas bestellen will) und suche dann nach ihnen. Die Nummern, die ich markiert habe, sind: 2, 5, 60, 76, 79 und 100. Es sind gerade sechs Stück zum Vergnügen. Es ist früh darüber zu schreiben, aber ich werde dazu keine Gelegenheit haben.
      Nach zwei oder drei Wochen richtigem Winter, Schlittenfahrten und herumstolpern (die Straßen hier sind eine Schande), haben wir wieder richtiges Tauwetter. Es ist düster, naß, dreckig, schauderhaft und düster. Harry ist wie üblich unruhig. Zum Glück schläft er am Nachmittag drei Stunden lang, so daß wir dann etwas Erholung haben. Er versetzt Dorothy immer in Erstaunen, aber nicht sehr zu ihrer Freude, da sie es nicht leiden kann, wenn er ihre Spielsachen haben will und für sie zu grob ist. Er fängt gerade alleine zu gehen an. Da er es gewohnt ist, daß man auf ihn aufpaßt und ihn behütet, paßt er selbst natürlich gar nicht auf sich auf. Er läßt alles los und rennt ungestüm los. Wenn er dann hinfällt, dann fällt er immer auf seinen Kopf, weil er zur Zeit sehr kopflastig ist.
      Das Hauptinteresse von Dorothy ist zur Zeit "Father Christmas", oder der Weihnachtsmann, wie sie ihn immer nennt. Sie hat ihm (auf ihre Art) geschrieben und bittet ihn um eine Puppe, die immer "Papa" und "Mama" sagt, sowie eine Violine, aber das arme Mädchen ist zur Enttäuschung verurteilt und wird ihre Geschenke natürlich auch lieben und kann bis jetzt weder schreiben noch lesen. Dr. Berg sagt, daß wir nicht zuviel erwarten sollen, bevor sie sieben Jahre alt ist. Sie ist so schlau, daß wir sie schon zurückhalten müssen und Harry scheint genau so zu werden. Er ist aber erst 18 Monate alt und kennt schon in den Büchern alle Bilder und erzählt, was sie bedeuten. Wenn er ein bestimmtes Buch haben will, dann fragt er danach und läßt sich kein anderes geben. Er ist natürlich ein sehr zielstrebiges Junge. Rudolf nennt ihn einen echten "British Bull-Dog". Jeder sagt, daß er ein richtig englisch aussehendes Baby ist, aber ich weiß nicht, wer Alfs Kindern ähnlich war, als sie Babies waren.
      Auf Wiedersehen und liebe Grüße an alle, Ich hoffe, daß ich bald wieder Briefe bekomme. Im Winter gesund zu bleiben, wird schwierig werden. Besondere Grüße an Jennie.
      Deine liebe Schwester Lily.
      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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      • Frank K.
        Erfahrener Benutzer
        • 22.11.2009
        • 1318

        #93
        Dokument 81: Fragment, Ende 1908:
        *** Der Anfang des Briefes fehlt ***
        ... Das ist nur ein Beispiel von vielen. Dorothy und Harry spielen jetzt so gut miteinander und sind niemals ruhig. Wenn man sie aber alleine läßt, dann passiert sofort etwas Unvorhersehbares. Heute ging Frieda in die Küche, um sich einige Orangen zu holen und ich kam wegen etwas Anderem hinterher. Im selben Augenblick hörte man ein ungeheures Geheul. Rudolf kam vom Büro herein gerannt und wir aus der Küche. Wir sahen, daß Harry seinen Finger eingeklemmt hatte. Dorothy schrie aus vollem Herzen aus Mitleid. Manchmal streiten sie natürlich. Wenn es dann am schönsten ist, fängt Dorothy meistens zu schreien an, weil - so denke ich - ihre Gefühle irgendwie verletzt wurden. Das arme Kind ist erst ein (4 1/2 Jahre altes) Baby. Aber weil sie die älteste ist, erwarten wir von ihr, daß sie auch klug ist. Sie ist aber so sensibel und altmodisch, daß ich es oftmals vergesse und denke, daß sie aus ihrem Babyalter herausgewachsen ist. Und sie ist solch ein Liebling, daß ich es bedauere, daß Du und Jennie sie nicht vor kurzer Zeit gesehen habt, als sie so süß war. Harry ist so geheimnisvoll, wie es auch James war und verschwendet keine Worte. Er sagt nur das nötigste und sonst nichts.Ich hoffe, daß bald jemand von Euch schreiben und erzählen wird, wie alles weiter geht.
        Liebe Grüße an Euch alle. Deine liebe Schwester Lily
        Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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        • Frank K.
          Erfahrener Benutzer
          • 22.11.2009
          • 1318

          #94
          1909

          Dokument 82: Riga, Freitag im Januar 1909.
          Lieber Arthur,
          die Bescheinigung ist beigefügt. Ich habe nicht viel Zeit, weil Harry und Dorothy mit Grippe im Bett liegen und Frieda auch krank ist. Dem Baby geht es soweit gut und es schläft, welch ein Segen, die meiste Zeit. Dorothy ist es im Herbst sehr gut gegangen und wurde plötzlich Montagnacht krank. Bei ihr ging es (nachdem es ihr vorher gut ging) in Richtung Krupp. Um 11Uhr abends mußten wir den Doktor rufen. Mittwochabend fing es mit Harry an und er war sehr matt und hilflos.
          Am Neujahrstag (gestern) gingen wir von einem Kranken zum anderen und waren ab und zu beim Baby. Dorothy ist heute wieder auf und Harrys Fieber scheint vergangen zu sein, aber er ist sehr schwach und hat keinen Appetit. Dorothy hat Schnupfen, hustet und sieht, im Vergleich zu sonst, wie ein Geist aus. Vielen Dank für das Buch. Es ist sehr gut, aber nicht das, was wir wollten. Rudolf wollte das richtige, das von Kuropatkin selbst geschrieben wurde. Man bekommt es in Deutschland und wir dachten, daß man es auch in England bekommen kann. Dieses erscheint ziemlich belanglos und für den Inhalt, den es bietet, zu teuer zu sein. Gebundene Bücher scheinen auch wieder erlaubt zu sein, auch wenn Deutschland noch immer dagegen ist.
          Es tut mir leid von Jennies Auge zu hören und hoffe, daß es schon besser geworden ist. Auf Wiedersehen. Ich bin jetzt sehr fleißig und bin auch zu müde, um mehr zu schreiben. Es ist jetzt Zeit, das Baby zu füttern und das Abendessen ist auch fertig. Es gibt noch 150 andere Sachen, um die ich mich kümmern muß.
          Liebe Grüße an alle von Deiner lieben Schwester Lily K -
          P.S. Kannst Du das beigefügte einlösen, weil es hier nicht verrechnet werden kann.
          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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          • Frank K.
            Erfahrener Benutzer
            • 22.11.2009
            • 1318

            #95
            Dokument 83: Riga, Montag im Frühjahr 1909:
            Lieber Arthur,
            Vielen Dank für den Brief und den Scheck, den ich gestern bekommen habe. Du hast mir einen Vorrat von Briefmarken geschickt, der mir für Jahre reichen wird. Es tut mir so leid wegen Jennies Auge, weil es für sie lästig sein muß. Hat sie es schon einmal sie in Essigwasser zu Baden versucht, weil es sie stärken soll. Außer von Deinem B´g´ham Mann gibt es noch ein anderes Buch von Kuropatkin. Mr. Schultz besitzt es auf deutsch und ich glaube, daß es auch ins englische übersetzt wurde. Den Kindern geht es wieder gut und sie gehen wieder heraus.
            Nur das arme Baby hat einen rauhen Hals und ist erkältet (das hat sie von uns bekommen) und sogar der Kanarienvogel war krank! Rudolf sagte plötzlich zum Frühstück, daß er sterben würde. Ich wußte nicht, wie ich einem Vogel helfen könnte und hatte solches Mitleid mit ihm, weil er doch so klein ist. Ich dachte, daß er kalt bekommen hat, brachte ihn an einen warmen Platz und gab ihm ein Stück fetten Schinken und etwas Vogelfutter zu essen. Zwei Tage lang hat er keinen Laut von sich gegeben und erholte sich dann wieder. Jetzt scheint es ihm wieder gut zu gehen.
            Es ist sehr ermüdend, jede Stunde mit dem Baby aufzustehen, aber sie wird mit der Zeit auch noch lernen, durchzuschlafen. Mit aller Ehrfurcht für Mr. Stead denke ich doch, daß es für Rußland besser wäre, wenn man dort den Menschen, die noch leben, helfen würde, anstatt die Bevölkerung anwachsen zu lassen. Es ist doch ein schreckliches Land, um Kinder aufzuziehen, wenn man selbst manchmal Heimweh hat. Es wäre jetzt besser, wenn die Kinder aufwachsen würden. Das wäre wichtiger. Es wird eine Freude sein, wenn Minnie zu Ostern kommt. Wenn man dann wirklich jemand hat, mit dem man sich unterhalten kann und den man kennt. Und das nach sechs Jahren hier allein in diesem Land. Natürlich wird ihr Mann eine Plage sein. Er wird schrecklich im Weg sein, aber ich denke, daß sie nicht ohne ihn kommen kann. Du verstehst was ich meine. Das soll nicht heißen, daß er hier nicht willkommen ist. Wenn aber zwei Frauen miteinander richtig plaudern wollen, ist ein Mann immer im Weg, weil sie immer nur herumsitzen, Stickarbeiten usw. machen und "plaudern" wollen, wie man es hier nennt.
            Kannst Du, wenn "The World & His Wife" durchgelesen ist, mir zur Abwechslung einmal etwas anderes schicken. "Longmans" oder "The Novel" oder etwas ähnliches Gutes, das klein ist, leicht aufzuschlagen ist und kein glänzendes Papier hat. Ich dachte, jetzt ein deutsches Magazin zu nehmen und bekam am Sonnabend eine Ausgabe der "Garten Laube", die mir aber nicht so gefällt. Ich werde mich nach einer anderen Zeitschrift umsehen müssen. Ich denke, daß Florrie so eine fröhliche Zeit haben wird, daß sie keine Zeit haben wird, Briefe zu schrieben. Ich freue mich, daß Eure Kinder solch eine schöne Jugend haben. Es wird etwas sein, woran sie sich ihr ganzes Leben erinnern können. Es ist auch schon lange her, seitdem Du etwas von James geschrieben hast. Weißt Du, daß Harry (ich meine Alfs Harry) mit Ursula Marshall verlobt ist? Ich erinnere mich nur daran, daß sie ein kleines Mädchen war. Ihre älteren Schwestern waren sehr hübsch, aber schreckliche Pussiererinnen. Eine war mit Arthur Clarke zusammen, bevor er Una Addy heiratete.
            Du solltest Dorothy und Harry sehen. Sie spielen wirklich schön miteinander und sind niemals ruhig, außer wenn sie schlafen. Es liegt überall Schnee, aber die Luft ist heute richtig mild. Frieda prophezeit uns schon, daß wir keinen Winter mehr haben werden, aber Rudolf lacht über diesen Gedanken. Ich bin in dieser Hinsicht auch nicht so zuversichtlich und bin von dem Klima in Riga sehr beeindruckt. Das Schlimmste ist, daß es hier so unheimlich friert und wir einen sehr späten Frühling haben.
            Liebe Grüße an Euch alle. Ich muß jetzt aufhören, da auf mich noch einige Stopfarbeit wartet.
            Deine liebe Schwester Lily.
            P.S. Mach Dir bitte keine Gedanken mehr wegen dem Buch. Wir werden es hier bestimmt irgendwann irgendwo entdecken. Er würde es jetzt auch nicht mehr zurücknehmen, wo der Einband schon abgerissen ist.Kannst Du das Buch von Kuropatkin für Rudolf über den Russisch-Japanischen Krieg besorgen? Günstig! Wenn Du es bekommen kannst ungebunden, sonst mußt Du den Einband wegmachen. Gibt es so etwas nicht bei Smith, Elder oder Mundie gebraucht, oder vielleicht bei Boot oder einer anderen Leihbibliothek? Vielleicht gibt es aber jetzt auch schon eine günstige, ungebundene Ausgabe.
            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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            • Frank K.
              Erfahrener Benutzer
              • 22.11.2009
              • 1318

              #96
              Dokument 84: Riga, Sonnabend vor Ostern März 1909

              Liebe Florrie,
              Dein Packen und der Brief kamen heute an. Es war wirklich eine große Überraschung. Du kleines unartiges Mädchen hast mir nichts erzählt. Jetzt hast Du also ein eigenes Haus und bist eine "Gnädige Frau". Ich muß Dich jetzt aber ausschimpfen. Es ist schon komisch, nicht darüber zu berichten, wo wir Euch beiden doch ein Gratulationstelegramm schicken wollten. Ich hoffe doch, daß Du mir einen schönen langen Brief schreiben wirst, um mir alle Einzelheiten zu berichten, da ich doch genau wissen möchte, was Ihr getragen habt, wie Ihr ausgesehen habt und wo Ihr gewesen seid. Was fühlt Mutter jetzt, wo ihr erstes Kücken das Nest verlassen hat. Ich habe schon so lange darauf gewartet, daß ich einmal zu Euch kommen könnte. Ich beneide Euch wirklich, da Ihr so nah bei Euren Verwandten seid. Zu mir ist niemals jemand gekommen. Weißt Du, daß ich alle Babies nächstes Jahr nach Blackpool bringen will, wenn es möglich ist? Ich habe alles schon geplant und kann gar nicht mehr so lange warten, aber Onkel Rudolf sagt, daß es keinen Sinn hat, diesen Sommer herüber zufahren, weil das Baby noch so klein ist, ich keine große Freude dabei hätte und ich nicht so weit weg könnte. Natürlich kann ich mit drei Babies nicht so herumfahren und Besuche machen. Ich dachte, daß es das Beste wäre, ein möbliertes Haus in South Shore im Juni und Juli zu mieten und dort zu wohnen. Dann könntet Ihr alle kommen und uns dort besuchen. Wenn Pauline dann noch bei uns ist, möchte ich sie gerne mitnehmen, weil ein fremder Diener die Kinder, unsere Gewohnheiten und unsere Essgewohnheiten nicht so verstehen würde. Sie ist für uns doch solch eine Wohltat. Ich denke nicht, daß es teurer wäre, ihr Passage zu bezahlen, als dort solange ein englisches Mädchen zu nehmen. Es wäre vor allem für uns auch angenehmer. Es ist so furchtbar lange zu warten. Ich wünsche, daß der nächste Sommer und der nächste Winter schon vorbei wären! Ich finde diesen alten Strand so langweilig. Er ist so eintönig und langweilig. Man kann sich dort mit niemandem unterhalten. Zu Ostern wollen wir nach Libau fahren, wenn das Wetter schön ist. Jetzt scheint unser langer Winter wirklich vorbei zu sein und ich hoffe, daß er nicht mehr zurück kommt. Letzte Woche waren wir zu einem großen Konzert im Russischen Theater und danach im Deutschen Theater, wo wir auch am folgenden Dienstag wieder hingingen, um "Carmen" anzusehen, weil nach der Oper ein gefeierter Tänzer auftrat. Der Gouverneur und der Bürgermeister waren auch da und das Haus war bis auf den letzten Platz besetzt. Ich habe gerade Deinen neuen Namen mit der neuen Anschrift in mein Adreßbuch geschrieben. War in Eurer Zeitung auch eine Hochzeitsanzeige? Wenn ja, dann schicke sie mir und erzähle mir von Deinen Kleidern, da mich alles interessiert. Manchmal denke ich, daß das Leben so langsam verläuft, wie es an dem Ort war, an dem Dornröschen lebte, wenn man in einem fremden Land lebt und keine Freunde in der Nähe hat. Ich fühle mich manchmal so, daß ich mein Leben an dem Punkt wieder fortsetzten könnte, wo ich weggegangen bin, wenn ich England wieder sehe. Ich werde mich aber so fremd fühlen, wenn ich alle viel älter vorfinden werde. Ihr Mädchen werdet alle denken, daß ich eine alte Frau geworden bin, obwohl ich mich jünger fühle, als je zuvor.
              Ich amüsiere mich bei dem Gedanken, wieder auf das Pier zu gehen und die Kinder zum Strand bringen, damit sie auf dem Esel reiten können, oder sie in den Tower mitzunehmen usw. Wenn ich dann meine Augen zumache, stelle ich mir vor, daß ich wieder die gute alte Blackpool-Luft rieche. Es ist sicher, wie Du sagst, Leute um sich herum zu haben. Vermißt Du nicht Euren Garten zu Hause, oder hast Du einen hinter dem Haus? Wenn Du einen hast, wirst Du ihn bestimmt für den Sommer schön machen.
              Sonntag: Gestern nachmittag schien die Sonne und es kam einem in den Anlagen so vor, als wäre der Frühling gekommen. Heute ist es wieder trübe und kälter geworden.
              Du hast mir noch nichts von Jacks Familie erzählt. Hat er Brüder und Schwestern, mit denen Du dann verschwägert bist, oder ist er ein Einzelkind? Lebt seine Familie in der Nähe? Berichte mir doch über die Geschenke und wie Dein Haus aussieht, wie es möbliert ist - einfach alles. Ich habe gerade eben wieder einmal fünf Minuten Ruhe, weil die Kinder mit ihrer Modelliermasse spielen und Baby noch immer müde ist. Sie ist ein lustiges kleines Wesen, aber man sieht, daß sie mit der Zeit kein Baby mehr sein möchte, sondern lieber ein kleines Mädchen, das ihre lieben Babygewohnheiten abgelegt hat. Sie bringt mich schon ganz durcheinander, weil sie auch schreiben will. Wo ich mich auch aufhalte, dort wollen sie alle auch sein. So ist es dann auch, daß mir eine ganze Prozession zu dritt folgt, wenn ich irgendwo hingehe. Wenn ich mich dann zu schnell umdrehe, dann stoße ich mit einem von ihnen zusammen. Daran kannst Du erkennen, daß sie niemand anderen haben, mit dem sie spielen oder sprechen können. Jetzt habe ich ein Fräulein entlassen, aber sie sind doch etwas klein, um sich selbst beschäftigen zu können (wenn sie nicht wieder etwas anstellen!). Jetzt beende ich den Brief wieder mit dem Baby auf den Knien und denke, daß es genug ist.
              Liebe Grüße an Dich und deinen Mann und alles Gute von uns beiden. Deine liebe Tante Lily.
              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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              • Frank K.
                Erfahrener Benutzer
                • 22.11.2009
                • 1318

                #97
                Dokument 85: Riga, Sonntag 9Uhr abends, April 1909:
                Lieber Arthur,
                es ist schon lange her, daß ich Dir und Jennie geschrieben habe, aber es wird jeden Tag schwieriger einen Brief zu schreiben, weil die Kinder immer Hilfe brauchen. "Grand & Weldon´s" kamen heute abend und ich habe mich so gefreut, es zu sehen, weil ich schon einige Zeit nichts mehr zu lesen hatte, außer vier "H.Chats", die ich von Mrs Whittle ausgeliehen habe. Ich habe zum Lesen keine Zeit, außer nach dem Mittagessen und (wenn ich nicht zu müde bin) 10 Minuten, wenn ich ins Bett gehe und es nicht liebe, wenn ich dann nichts habe. Die Kinder sind im Bett, aber wollen überhaupt nicht schlafen und sind in der Nacht so lebhaft. Dorothy singt für sich. Harry marschiert mit einem Bären unter einem Arm und einer Katze unter dem anderen Arm um sein Bett. Die Katze hat ein graues Fell. Er hat sie von Dorothy geerbt und liebt sie sehr. Beatrice geht es ganz gut, nachdem sie mir Freitag und Sonnabend zwei Nächte lang sorgen machte. Sie war hungrig und mußte in beiden Nächten um 3 Uhr morgens gefüttert werden. Sonst ist es immer erst um 5 oder 6 Uhr so weit. Sie sieht wie ein kluges Baby aus, hat graublaue Augen und lacht wenn man sie ansieht. Sie ist bis jetzt noch nicht draußen gewesen, da bei uns noch immer tiefer Winter ist. Rudolf und ich waren heute wieder am Strand, um eine Villa zu suchen. Dort liegt noch so viel Schnee, daß man denken könnte, am Nordpol zu sein. Der Schnee liegt überall knöcheltief. Für kleine Häuschen mit vier oder fünf Zimmerchen verlangen sie £35-40. All diese Häuser sind wie Hühnerställe gebaut. Die Fahrpreise für die Eisenbahn sind auch wieder teurer geworden. Wenn es möglich ist, wollen wir wieder die eine Villa in Bilderlingshof haben (Habe ich Dir den Plan vom Strand geschickt?). Es ist die erste Station am Strand und der Wald ist herrlich, nur ist es dort teurer. Majorenhof ist drei Stationen weiter, hat auch mehr Geschäfte, ist mehr ausgebaut und es ist kein Wald in der Nähe. Für Erwachsene ist es dort wunderbar, aber wenn man drei Babies hat, kann man nicht weit weggehen und ich möchte gerne in der Nähe vom Meer und vom Wald sein. Wegen Rudolf dürfen wir auch nicht weit weg vom Bahnhof sein. Für ihn ist der Sommer die schlechteste Zeit, weil er dann immer dünn und müde wird, bevor der Herbst kommt. Florrie hat mich schon ganz vergessen. Ich frage mich oft wie es ihr geht. Du solltest sie etwas mit Minnie Mitchell heraus schicken, wenn sie kommt. Ich bekomme schon so eine matronenhafte Figur, daß ich einen Schock bekomme, wenn ich in den Spiegel sehe. Besonders dann, wenn ich ein helles Kleid trage. Ältere Frauen tragen hier helle Farben. Ich denke immer an "mutton dressed lamb fashion." Rudolf ging gestern mit mir einen Frühlingshut einkaufen - mein Sommerhut ist für dieses Jahr noch gut genug, aber man braucht im Jahr drei Hüte. Im Winter eine Pelzmütze, im Frühling einen Stoffhut und im Sommer einen sehr leichten. Natürlich trägt man im Wald keinen. Ich habe einen schönen silbergrauen Umhang mit einer weißen Federn darauf bekommen. Als wir ihn gerade aussuchten kam Mrs Smith aus Sassenhof herein. Sie erzählte uns, daß sie sich dazu entschlossen hat, ihre Schwiegermutter nach Ostern in Südrußland zu besuchen und ihre zwei kleinen sechs- und vierjährigen Jungen mitnehmen will. Man muß sich vorstellen: Sie muß dazu vier Tage lang mit ihren Kindern im Zug sitzen! Das ist doch furchtbar! Mich ermüdet dabei schon die 8 1/2 Stunden dauernde Fahrt nach Libau.
                Dorothy fiel vor einer Woche, schlug ihre Oberlippe auf und verlor dabei einen Zahn. Es ist alles sehr gut verheilt, aber ich bin nicht sicher, ob eine Narbe zurückbleiben wird. Wir hoffen, daß alles schnell verheilen wird, aber die Lippe ist noch immer etwas geschwollen. Ich mache ihr eine neue Kinderschürze, habe aber wenig Zeit zum Nähen, weil alle fünf Minuten jemand wegen irgend etwas stört. Harry ist schon so groß, daß er in Knickers gut aussehen würde, aber er ist erst ein Jahr und zehn Monate alt und kann im Sommer damit herumgehen. Bevor der Sommer kommt, muß er sie haben. Er spricht schon gut, kann alles sagen und ist sehr aufmerksam. Ich muß morgen fertig schreiben, weil jetzt das Baby nach der Flasche schreit.
                Jetzt ist es Montag und 9Uhr abends. Mrs Schultz und ihre zwei Kinder waren zum Tee hier. Sie lebt in der nächsten Straße bei uns und ist unser regelmäßigster Besucher. Sie ist lebhaft und wißbegierig, aber ich kümmere mich nicht sehr um sie. Aber man muß jemand haben, mit dem man sich unterhalten kann. Ich denke, daß sie andere nur (oder hauptsächlich) wegen ihrem Reichtum schätzt und das verabscheue ich. Ihre erste Frage über andere ist immer: "Sind sie reich?" Edith ist 3 Monate älter als Dorothy und Yvonne ist drei Monate älter als Harry. Sie hat sehr großes Glück, daß sie kein drittes hat, das zu unserem paßt.
                Letzte Woche habe ich einen Brief von Mrs. Drapper bekommen. Sie ist wieder nach Australien gefahren, um dort in einem Konvent ein Jahr lang zu wirtschaften, damit sie diese Reise machen kann. Habe ich Dir eigentlich berichtet, daß sie vorher schon einmal dort war und einen lange vermißten Bruder mit einer großen Familie und verheirateten Söhnen und Töchtern gefunden hat, die sich sehr um sie gekümmert haben? Sie scheint sich nirgends niederlassen zu wollen und ich denke, daß sie von ihrem Wanderleben schon so müde geworden sein muß, daß sie sich heimatlos fühlen müßte. Hast Du zufällig einmal etwas von Annie Hughlins gehört? Sallie schrieb in einem Brief, daß Alf sie letztes Jahr in Harrogate getroffen hat, aber mehr hörte ich nicht. Nellie und Willie Kays Verlobung scheint lange zu halten. Hast Du gewußt, daß Geoffrey im Irrenhaus war? Wie haben so viel von ihm gehalten, als er Euch besucht hat, daß ich ganz überrascht war, als ich hörte, daß sein Verstand schwach geworden ist. Ich bin jetzt auch zu müde, um noch mehr zu schreiben.
                Liebe Grüße an Euch alle und ich hoffe, daß Jennie wieder gesund ist. Deine liebe Schwester Lily K.
                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

                Kommentar

                • Frank K.
                  Erfahrener Benutzer
                  • 22.11.2009
                  • 1318

                  #98
                  Dokument 86: Riga, Sonntag (vor Ostern) April 1909:
                  Lieber Arthur,
                  es war eine Freude, von Dir und Florrie drei solch lange Briefe zu bekommen. Es tut mir so leid, daß Florrie so krank war. Laßt sie nicht herausgehen, bis der Ostwind vorbei ist. Es ist erstaunlich, wie es Jennie mit der zusätzlichen Pflegearbeit und dem vielen Treppensteigen besser geht. Wir dachten eigentlich, heute Beatrice taufen zu lassen, weil am Donnerstag ein richtiger Frühlingstag war. Jetzt ist es aber wieder richtig Winter geworden und wir hielten es für besser, die Taufe abzublasen, da sie bis jetzt noch nie draußen gewesen ist. Sie ist nachts ein schrecklich lebhaftes Baby. Vergangene Nacht hielt sie mich fast die ganze Nacht wach und schlief dann friedlich von 8 Uhr morgens bis 1.30Uhr mittags. Sie nörgelt und brummt jetzt herum und will betreut werden. Daher kann ich jetzt nicht weiter schreiben. Alice Robinson hat mir versprochen, ihre Taufpatin zu sein. Deshalb werden wir sie "Beatrice Alice" nennen, und nicht "B. Vera". Schließlich ist Vera auch zu schön, um für einen zweiten Namen verschwendet zu werden. Bei Euch muß es jetzt sehr lebhaft sein, wo alle bei Euch erwachsen sind. Welchen Geschmack haben Ernie und Percy entwickelt? Schick mir doch ein Photo von James in seiner Uniform. Wie werden ihn die anderen doch beneiden, daß er ein Pferd hat, das er reiten darf! Es ist furchtbar, was Du von Ted erzählst! Was würde Vater dazu gesagt haben, wenn er gewußt hätte, daß einer von uns so herunterkommen würde. Ich kann daran gar nicht denken. Hast Du einmal etwas von Syd und Vivian und Reggie, den armen Jungen gehört? Weißt Du, ob Tante Bennet und Onkel Pile noch leben?
                  Harry hat gerade die Freude kennengelernt, draußen herumzugehen. Bis vor zwei Wochen ist er noch im Kinderwagen gewesen, weil er erst ein Jahr und 10 Monate alt ist (er sieht aber schon aus, als wäre er drei Jahre alt), aber ich denke, wir werden ihn dort nicht mehr hinein bekommen. Er kann schon über eine Stunde gehen, ohne müde zu werden und es gibt Aufruhr, wenn er hereinkommt. Sobald er gefrühstückt hat (manchmal schon davor), bettelt er darum, herauszugehen. Wenn er seinen Mantel und seine Schuhe ergreifen kann, nimmt er sie und bittet jemand, sie ihm anzuziehen. Man wünscht sich dann einen Kindergarten! Dorothys Lippe ist wunderbar verheilt und sie ist wieder so lebhaft, wie sie immer war. Sie spielen jetzt sehr gut, aber wenn sie anfangen zu streiten, dann fangen sie beide auf einmal an zu heulen. Sie haben beide solch gewaltige Stimmen, die ohrenbetäubend sind. Es muß den Besuchern im Büro schon komisch vorkommen, da man alles bis dort hin hören kann, und das Büro liegt direkt neben dem Eßzimmer. Am Sonntag dürfen sie bis zum Abendessen sitzen bleiben. Dorothy fragt die ganze Woche, wenn sie aufwacht: "Ist heute Sonntag?" Sie sitzt wieder bei mir und schreibt. Ich höre, wie sie sagt: "Lieber Onkel Arthur;" Ihr englisch erscheint manchmal etwas komisch, da sie auch deutsch und lettisch spricht. Harry hat jetzt einen ausgeprägten Cockney-Akzent, aber kann noch nicht richtig sprechen. Er sitzt auf meinem Knie und schreibt auch und verlangt nach der Tintenflasche. Kannst Du, wenn mein Geld kommt, bitte Ada Wood £1.10.0 schicken. Sie hat wieder keine Arbeit und ich habe ihr geschrieben, daß ich ihr nicht wieder helfen kann. Es ist jetzt das dritte Mal und sie hat uns noch nie etwas zurückgezahlt, wo es doch Rudolf sehr schwer mit seinem Geld hat. Das Leben hier ist auch sehr teuer. Es hört sich sehr großartig an, jeden Sommer so viel Geld für eine Villa am Strand auszugeben, aber man muß es für die Kinder und ihre Gesundheit machen, da man sie nicht in diesen engen, stickigen Straßen während der heißen Zeit halten kann. Es ist immer noch stickig genug, wenn man im September zurückkommt. Wenn Du von einer freien Stelle hören solltest, dann laß es sie bitte wissen. Sie kann französisch und italienisch und etwas deutsch. Sie war bei einem Marmorhändler, aber seine Geschäfte gingen zurück und er entließ sie.
                  Sie tut mir so leid, weil sie immer so behütet war. Ihre Mutter hat sich immer Angst gehabt, daß sie sich zu wenig um sich selbst sorgt. Ich kann ihr aber jetzt auch nicht mehr helfen. Es sind doch lange Stunden in der Bibliothek, aber es ist eine angenehme Arbeit, die Du Dir für eines Deiner Mädchen wünschen würdest, wie ich weiß.
                  Mittwoch: Dorothy hat wieder eine fiebrige Erkältung, die heute Nacht angefangen plötzlich mit einem rauhen Hals angefangen hat. Pauline, unser Mädchen, hat seit Sonntag schreckliche Zahnschmerzen und ist zum ersten Mal dieses Jahr mit einem dünnen Hut herausgegangen. Ich weiß nicht warum sie sich so beeilte, da draußen ein furchtbarer kalter Wind war und sie sonst in ihrem Pelz gut aussieht.
                  Ich habe einen schönen, grauen Umhang mit einer Feder darauf für den Frühling bekommen, fürchte aber, daß ich ihn wieder gegen den Pelz tauschen muß. Es ist jetzt eine furchtbar heimtückische Zeit.
                  Mr. Smith und Mrs. Jones aus Sassenhof brachten ihre Kinder gestern in die Stadt zum Schaufensterbummel (Sie sind jetzt voll von Osterhasen, Eiern usw.) vor Ostern mit und kamen zum Tee her. Wir hatten einige Stunden lang eine schöne Zeit. Mrs. Jones ist ziemlich klein und hat einen Jungen, der zwei Jahre und drei Monate alt ist (er ist etwas kleiner als Harry). Er wollte alle fremden Spielsachen natürlich sofort haben, aber Harry weigerte sich und es wurde unruhig. Als seine Mutter eingriff und schimpfte, versuchte er Harry zu küssen und sich mit ihm anzufreunden. Aber das ärgerte unseren Jungen noch mehr. Er haßt es, wenn er gehalten und geküßt wird. Das kleine Mädchen von Mrs. Schultz neckt ihn immer, indem sie es macht. Wenn er denn geneckt wird, brüllt er und er hat eine Stimme wie ein Löwe. Heute ist ein Feiertag. Da ich aber nicht herausgehen konnte, weil Dorothy krank ist, fuhr Rudolf mit dem Dampfer nach Bolderaa. Er sagt, daß es noch immer furchtbar kalt und der Fluß noch voll Eis ist. Frieda ist fleißig und adressiert Osterkarten. Ich warte darauf, Baby ihre letzte Flasche zu geben, bevor ich ins Bett gehe, weil ich sehr müde bin. Letzte Nacht hatte ich nur wenig Schlaf und Frieda nahm das Baby. Aber Dorothy hatte solches Fieber, daß sie sich die ganze Nacht herum wälzte. Ich habe immer solche Angst, wenn eines der Kinder einen rauhen Hals hat. Ich denke immer sofort daran, daß sie an Diphtherie sterben könnten, was hier natürlich sehr verbreitet ist.
                  Vielen Dank für das Magazin, das gestern abend kam. Ich danke immer noch, daß es schöner als "The W. & His Wife" ist. Es ist sicher besser zu bekommen, aber ich hatte weiter keine Zeit, es anzusehen.
                  Die besten Wünsche zum Osterfest an Euch von uns beiden von Deiner lieben Schwester Lily -
                  Ich kann nicht mehr mitschicken, da es sonst zu viel Gewicht hat - denke ich. Bitte behalte Geld für das Magazin für ein Jahr zurück, sowie für das Abonnement des Guardian.
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                  • Frank K.
                    Erfahrener Benutzer
                    • 22.11.2009
                    • 1318

                    #99
                    Dokument 87: Majorenhof, 26.06.1909 (alter Stil)
                    Lieber Arthur,
                    Rudolf brachte mir gestern abend Deine Briefe mit heraus und schickt morgen das Formular mit einer Erklärung zum Konsul, daß ich am Strand bin. Er ist sehr anständig und wird wahrscheinlich ohne den Unsinn meines "persönlichen Erscheinens" unterschreiben. Wir hatten hier in den letzten zwei Wochen vier Tage Hitze und seitdem schreckliches Wetter mit kaltem Nordostwind (wir hatten seit Weihnachten mehr oder weniger immer Wind aus nördlichen Richtungen). Ich lege Dir eine Karte bei, auf der Du sehen kannst, was für uns der Nordwind bedeutet. Wenn Du sie behältst, kannst Du die Orte sehen, die ich manchmal erwähne. Sie liegen alle etwas außerhalb und liegen sehr schön. Majorenhof liegt sehr nahe zwischen der Aa und dem Golf. Wir waren heute alle zwischendurch zum Tee bei Mrs Schultz, die eine Villa in Bilderlingshof hat. Dort ist mehr Wald und ich denke, daß wir im nächsten Jahr dorthin gehen werden, obwohl wir letztes Jahr im September in Edinburg II. waren, wo es am schönsten ist.
                    Ich habe viermal gebadet und mußte dann einige Zeit aufhören, weil es so kalt wurde. Beide Kinder lieben das Wasser sehr. Harry ließ sich hineinfallen und planscht und spritzt freudig darin herum. Er ist ein schöner Junge, aber nur ein Hänfling. Dorothy ist noch immer mein Schatten und nur zufrieden, wenn ich in ihrer Nähe bin. Kannst Du mir noch einmal "Weldon´s Children´s Journal" für ein Jahr bestellen. Ich denke, daß es nur etwas 2/6 kostet. Die Schnittmuster darin sind sehr gut. Schicke mir bitte auch etwas Literatur, wenn Du einige alte Paperback Novellen hast, die Du nicht behalten willst.
                    Rudolfs jüngste Schwester Wilma und ihre älteste Tochter Gerda (15 Jahre alt) haben uns 8 oder 9 Tage lang besucht. Leider wurde das Wetter schlecht als sie kamen, so daß es für sie hier nicht schön war. Gestern und heute wurde es wieder besser. In der Sonne ist es heiß, aber im Wind eiskalt. Alle unsere Mahlzeiten nehmen wir in der offenen Veranda oder im Garten ein. Das ist schöner, als in der Stadt.
                    Es freut mich, daß es Euch so gut geht. Der einzige Wunsch, den ich habe, ist, daß Ihr etwas näher bei uns wärt. Ich freue mich schon auf Florries langen Brief. Es ist jetzt 10.30Uhr. Ich werde hier jetzt langsam schläfrig.
                    Gute Nacht und liebe Grüße auch an Jennie und Euch alle. Deine liebe Schwester Lily -
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                    • Frank K.
                      Erfahrener Benutzer
                      • 22.11.2009
                      • 1318

                      Dokument 88: Majorenhof, Donnerstag im August 1909:
                      Liebe Florrie,
                      Weldons kam mit Deinen Briefen darin an. Du sagtest, daß Du auf einen Brief von mir gewartet hast, aber mir ging es genau so und frage mich, ob ein Brief irgendwo verloren gegangen ist. Ihr Mädchen scheint eine schöne Zeit zu haben. Ihr habt miteinander immer Spaß. Wir scheinen hier genau das gleiche Wetter zu haben, wie es bei Euch ist und hatten dieses Jahr wirklich keinen richtigen Sommer, außer an einigen Tagen. Die vergangenen zwei Wochen war es herrlich, aber gestern wurde es auf einmal kalt und windig. Ich wünsche mir schon fast, wieder in die Stadt zurückzukehren. Wir wollen wegen der Kinder noch weitere 10 Tage bleiben. Wenn es aber so bleibt, dann nicht. Am Nachmittag bekamen wir unerwarteten Besuch. Eine Miss Mc´Laughlin (die Schwester von Mrs. Schultz) und ihr Lebensgefährte. Er ist ein Berliner. Seinen Namen kann ich nicht behalten. Sie wird, wenn sie geheiratet hat, in Berlin leben (nächste Ostern wollen sie heiraten). Sie ist Engländerin, hat aber die ganze Zeit in Paris gelebt und gibt hier Unterricht. Es ist hier so ein schöner Ort, um Unterricht zu geben. Englische Gouvernanten bekommen gute Gehälter. Die Schwester von Mrs. Jones, Mrs. Haddon, hat gerade eine gute Anstellung gefunden, obwohl sie vorher nirgends angestellt war. Ich denke nicht, daß sie eine besondere Ausbildung oder irgendwelche Prüfungen abgelegt hat. Sie war in England Hutverkäuferin und kam dann hierher. Ich sah die Anzeige in der Zeitung und habe es Mrs. Jones erzählt. Sie hat es geschafft. Ich hoffe, daß es so schön wird wie es klingt, weil sie solch ein nettes kleines Ding ist. Es ist ein ganzes Stück weit weg in Rußland, etwa 10 Stunden weiter als Moskau. Die Frau ist Deutsche und wohnt den Sommer über mit ihren Kindern in Majorenhof, spricht aber englisch. Ihr Mann ist Russe. Sie haben Kinder von 13 bis 7 Jahren und haben 4 Gouvernanten: eine Engländerin, eine Französin, eine Deutsche und eine Russin, sowie einen Musiklehrer, der zu ihnen nach Hause kommt. Sie soll jeden Tag zwei Stunden frei haben und kann immer einen Wagen bekommen, um in die Stadt (10 Minuten weit weg) zu fahren, wenn sie es wünscht. Die letzte englische Gouvernante bekam 60 Rubel pro Monat. Aber sie hatte vorher noch keine Anstellung und kann zum Anfang ihr Lernen nicht so überprüfen. Sie soll mit 50 Rubeln beginnen und nach sechs Monaten 55 Rubel und später 60 Rubel bekommen. Das ist ausgezeichnet, da sie keine Ausgaben haben wird. In England, sagte sie, ist das Meiste, das sie in einem Geschäft verdienen könnte 18/- pro Woche. Hier in Riga zahlen sie keine so hohen Gehälter, aber englische Gouvernanten bekommen bestimmt 30 oder 40 Rubel pro Monat. Im letzten Winter waren mehr Stellen offen, als es Bewerberinnen gab. Ich denke, daß sie sehr mutig ist, wenn sie mit Fremden so weit weg geht, besonders, weil sie keine Russen und auch keine Deutschen kennt. Sie sagt aber, daß die Lady und die Kinder sehr nett sein sollen. Ich dachte immer, daß jemand von Euch herüberkommen würde, um deutsch und dann das Fröbel-System (Kindergärten) zu lernen, damit ihr zu Hause eine Schule aufmachen und dann etwas Gutes anfangen könntet. Ich denke, daß in den richtigen Kindergarten Schulen in England übertrieben wird. Hier sind sie sehr verbreitet und die Leute schätzen sie sehr. Sie wollen ihre Kinder mindestens ein halbes Jahr hinschicken. Es hilft ihnen, leichter in die andere Schule zu kommen. Rudolfs Nichte Irma in Libau war dort auch eine Zeit lang und Mrs. Schultz will ihre Tochter Edith nach Weihnachten auch dort hinschicken. Sie ist aber drei Monate älter als Dorothy und ein großes, grobes Kind. Dorothy ist noch nicht so weit, die Fittiche ihrer Mutter zu verlassen.
                      Wir haben gerade in der Veranda zu Abend gegessen (und furchtbar gefroren!), zugeschlossen und sind jetzt ins Zimmer gegangen. Dort ist es nett, heimelig mit einer Lampe erleuchtet und der Ofen brennt. Dorothy schläft schon in ihrem (unserem) Schlafzimmer mit weit geöffneter Tür. Harry und das Baby liegen im anderen (Friedas) Zimmer. Ich kann Pauline durch das Glas der Türe sehen, wie sie hinter der Veranda abwäscht. Sie hat alle Arbeit auf dem großen Tisch fertig gemacht und kocht jetzt in der Küche. Sie schläft oben, wo wir drei Zimmer und einen Balkon haben, den wir nicht brauchen. Wenn wir solch ein Haus in der Stadt hätten, wären wir froh. Ich trauere schon, weil ich meine Enten und Hühner schlachten muß, da sie sehr zahm sind und ich mich mit ihnen angefreundet habe. Es ist aber unmöglich, sie in der Stadt zu halten. Hier hatten sie ein gutes Leben werden ein besseres Ende haben, als wenn sie in die Hände dieser Leute fallen, da sie sehr grausam zu Tieren sind.
                      Vielleicht kannst Du einmal in ein Magazin oder einen Brief die englischen Maß- und Gewichtstabellen (so wie sie üblicherweise auf den Rücken von Übungsbüchern abgedruckt sind), sowie die englischen Postgebühren schicken. Ich wäre froh, wenn ich sie hätte. Das Baby nimmt jede Woche 1/2 Pfund zu und ist solch ein süßes Mädchen, daß ich denke, daß sie Mutter behalten würde, wenn sie sie in die Hände bekommen würde. Sie hat außergewöhnlich blaue Augen, blonde Haare, rosige Backen und lächelt immer. Sie ist jetzt 9 Monate alt, wiegt 18 1/2 Pfund (russisches Gewicht. Das ist etwas weniger - ich denke 1/10 - als das englische Gewicht) und hat erst zwei Zähne.
                      Ich warte täglich auf "Nash´s" und denke, daß Mrs. Whittle schon ängstlich auf die letzte Ausgabe wartet, die ich ihr noch nicht gegeben habe. Sie und Mr. Whittle freuen sich sehr darüber. Man kann sie hier bekommen, aber sie kosten 10 Pence. Wir haben gerade den Guardian für ein weiteres Jahr bestellt. Ich denke, daß sie Euch ein paar Tage früher Bescheid geben sollten, bevor das Abonnement abläuft, da es zu einer anderen Zeit der Fall ist, als es hier üblich ist.
                      Jetzt ist Zeit um ins Bett gehen und ich muß jetzt Schluß machen. Liebe Grüße an Euch alle. ich hoffe wieder auf einen langen Brief, der bald kommt. Ich muß Mabel auch noch einen Brief schreiben, aber habe jetzt kaum Zeit dafür, getrennte Briefe zu schreiben. Das Baby macht nicht viel Ärger und man hat mit Dreien mehr zu tun, als mit zwei von ihnen. Sobald ich nach Hause komme, will ich für eine Woche einen Schneider herholen. Ich habe zum Nähen so wenig Zeit und Frieda kann es auch nicht besonders. Ich kenne einen, der auch Unterwäsche macht.
                      Deine liebe Tante Lily.
                      Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                      • Frank K.
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                        • 22.11.2009
                        • 1318

                        Dokument 89: Riga, Mittwoch, Weihnachten 1909:
                        Liebe Florrie,
                        Ich werde Deinen Brief sofort anfangen und ihn fertig schreiben, wenn ich kann. Heute ist wieder Badeabend, so daß ich sonst zu nichts komme. Heute nachmittag waren wir mit den Kindern mit ihren Schlitten draußen. Du hättest lachen können, wenn Du alle drei zusammen im Park gesehen hättest. Rudolf gab Harry ein Dreirad, das er sich schon seit einem Jahr gewünscht hat. Er und Dorothy können schon fahren und es gut um den Weihnachtsbaum lenken. Sie haben beide für uns Geschenke gemacht und sagten uns am Weihnachtstag Gedichte auf. Harry machte Rudolf einen Aschenbecher, eine Glasplatte mit Briefmarken darauf und mir machte er eine kleine Blumenvase aus einer vergoldeten Eierschale, die auf eine Karte geklebt, mit Reis bedeckt und grün angemalt ist. Dorothy machte Rudolf einen Federreiniger und mir ein Nadelbuch und einen kleinen geflochtenen Korb. Sie bekamen viele Geschenke, zwar nur Kleinigkeiten, aber sehr gut auf dem Tisch unter dem Baum angeordnet. Es hat einige Zeit gedauert, bis Dorothy das Dreirad mit ihrem scharfen Blick unter den Ästen entdeckt hat. Dann war die Aufregung groß! Harry sagte: "ich denke nicht, daß ich gut genug war, daß mir der Weihnachtsmann so etwas bringt!" Edith Schultz freute sich auch darüber, als sie kam und wünschte, daß sie ein Junge wäre, um auch so etwas bekommen zu können. Das Baby streitet schon mit Harry darum. Sie hat es gern, darauf gehoben und damit herumgefahren zu werden und ist sehr vorsichtig dabei. Wenn sie glücklich ist, dann geht sie herum und singt, so wie gerade jetzt, alle Weihnachtslieder. Die deutschen Weihnachtslieder sind so hübsch. Wenn Du willst, dann schicke ich Dir die Noten von einigen Stücken. Sie sind sehr einfach. Man kann die Akkorde dazu setzen, wenn man sie spielen will. Dorothys Taufmutter schickte ihr ein hübsches Neues Testament mit Bildern. Alice und Mrs. Drapper schickten ihnen ein Buch und Mrs. Smith, die Frau vom unitarischen Pastor schickte ihnen ein "Children´s Companion", so daß sie genügend englische Bücher bekommen haben. Ich kaufte auch noch ein deutsches Buch. Sie sind hier sehr teuer, aber die Bilder und die Reime sind so hübsch, niedlich und kindisch.
                        Sonnabend ist Neujahrstag und dann sind zum Glück die Feiertage vorbei. Wenn die Kinder so klein sind, dann sind Feiertage ein Durcheinander und bedeuten für einen selbst und die Bediensteten mehr Arbeit. Und diese Leute wollen dann noch ausgehen und erwarten zudem große Geschenke. Irgendwie fühlt man sich hier nicht so weihnachtlich wie zu Hause. Es gibt hier einmal keine "holly & mistletoe" und auch keine Feuer. Dorothys Taufmutter, Flora Smith schickte mit einen Zweig von "holly & mistletoe" in einem Magazin, aber ich fand ihn erst nach zwei Tagen, weil ich so viel zu tun hatte und er war vertrocknet. Ich würde gerne einen von dem haben, der am Tor von unserem alten Haus war. Ich denke, daß ich Tante Min bitten muß, mir einmal einen zu pflücken. Ich denke, daß Ihr, Du und Jack und die anderen eine schöne Zeit habt. Ihr scheint alle Freuden miterleben zu dürfen, die in Eurem Teil der Welt passieren. ... (Rest fehlt)
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                          • 22.11.2009
                          • 1318

                          1910
                          Dokument 90: Riga, Sonntag im Januar 1910

                          Lieber Arthur, liebe Jennie,
                          zu Weihnachten und zu Neujahr hatte ich keine Zeit zu schreiben, weil Harry so krank war und ich nicht eine Zeile von meiner englischen Verwandtschaft zu Weihnachten bekommen habe. Nur unser Bürofräulein hat daran gedacht und uns einen kleinen Weihnachtsbaum gebracht. Als ich am Weihnachtstag aufstand, war er angezündet und stand auf dem Frühstückstisch. Sallie schrieb mir auch einen langen Brief zu Neujahr. Alf ist drei Wochen lang krank zu Hause gewesen und Nellie liegt mit Muskelrheumatismus im Bett. Schließlich war Sallie auch noch krank.
                          Letzten Freitag war unser Weihnachtstag und Harry was zum ersten Mal seit letzten Montag wieder aufgestanden, aber ist noch immer sehr schwach. Gestern ging er das erste Mal wieder wie gewohnt allein, hat aber noch immer Fieber und die Drüsen in seinem Hals sind noch immer nicht ganz in Ordnung. So hatten wir sehr ruhige Weihnachten ohne Aufregung von Besuchern usw. Wenn Du nur unseren Weihnachtsbaum sehen könntest. Er ist, denke ich, der schönste, den wir jemals hatten. Er reicht wie immer bis zur Zimmerdecke und war so riesig, daß Rudolf einiges wegschneiden mußte, bevor wir ihn hereinbringen konnten, obwohl unsere Zimmer hoch sind. Er ist gut gewachsen und rund. Es ist immer schade, so viele Bäume abzusägen, da hunderte nicht verkauft werden und weggeschmissen werden. Die Kinder freuen sich auch sehr über ihre Geschenke. Jeder bekam eine Kiste Bausteine und vier oder fünf Bücher. Ich malte und lackierte für jedes Kind eine stabile Kartonschachtel. Für Dorothy ein Haus und für Harry eine Kaserne. Rudolf schnitt Fenster hinein. In Dorothys habe ich Möbel und eine Puppe hereingelegt und in Harrys Soldaten, Pferde und ein Auto. Harry bekam noch ein Gewehr und einen Helm (Er hat sich schon seit Monaten ein Gewehr gewünscht, obwohl er erst 2 1/2 Jahre alt ist) und Dorothy eine Packung farbige Bleistifte, Bilder (sie malt gern), ein Sprungseil, ein Federballspiel, zwei Rackets, einen roten Gurt und einen Engel, den sie über ihr Bett hängen kann. Und unser kostbares Baby bekam eine Jacke, ein Schaf (von dem sie nicht viel hält), einige Pyramiden Bausteine (hohle Würfel die ineinander passen) und drei von "Dean´s rag books". Sie liebt es, vom Weihnachtsbaum die Sachen herunter zu reißen und sie zu untersuchen. Du hast noch nie so ein prächtiges Baby gesehen. Ich bin sicher, daß Du sie stehlen würdest, wenn Du sie kennen würdest.
                          Dorothy machte uns allen in der Schule schöne Geschenke. Für Rudolf einen Aschenbecher und eine Hülle für Postkarten, für mich einen Strohkorb für Stricksachen und für Frieda einen Kartenständer. Sie hat alles selbst gemacht, aber die Lehrer haben es fertig gemacht. Sie hat auch für Rudolf einen Federreiniger gemacht, den sie aber irgendwo verlegt hat. Frieda ist heute ausgegangen, um "Puss-in-Books" anzusehen. Wir wollten eigentlich auch gehen, aber konnten nicht drei Sachen auf einmal tun. Wir blieben wie üblich mit den Babies zu Hause. Er ist mit Dorothy gerade zur Post gegangen. Wenn sie zurückkommen, werden wir den Baum wieder anzünden. Es müssen furchtbar viele Kerzen angezündet werden. Ich habe fünf Dutzend Halter darauf und es sind nicht zu viel. Ich habe auch 150 Kerzen gekauft, werde aber zu Neujahr noch einmal welche kaufen müssen da wir den Baum über die Feiertage behalten werden, weil ihn die Kinder so lieben.
                          8Uhr abends: Wir warteten und warteten bis 3.30Uhr, aber R. und D. kamen einfach nicht. Ich bekam langsam Angst, da es schon seit über einer Stunde gräßlich, diesig und dunkel ist.
                          Frieda, Pauline und ich waren zusammen im Büro mit Harry und dem Baby (Es ist unser großes Zimmer: 26 x 20 ft. und liegt zum Hinterhof hin). Ich schickte Pauline wegen etwas ins Kinderzimmer, wo sie am Fenster ein Klopfen hörte. Rudolf und Dorothy standen auf der Straße. Der Dvornik vom Nachbarhaus stand auf einer Leiter und klopfte mit einer Peitsche an unser Fenster. Es stellte sich heraus, daß Rudolf schon seit über einer Stunde herein zu kommen versuchte und Dorothy schon vor Kälte zu heulen anfing. Ich vermute, daß unser Dvornik über den Feiertag weggegangen ist und um 4 Uhr nachmittags schon die Eingangstür zugeschlossen hatte! Auf der Straßenseite ist keine Glocke und es gibt keine Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Wenn jemand zu Besuch kommen wollte, könnte er auch nicht hereinkommen. Was würdest Du dazu sagen, wenn Du £80 dafür ausgeben müßtest, daß Du in solch einem Haus leben darfst! Und jetzt verlangt er dafür £96!
                          Montag: Es ist jetzt 11 Uhr morgens und so dunkel, daß wir im Eßzimmer Licht machen müssen. Ich bin heute ganz faul und liebe den Montagvormittag schon gar nicht. Mr. Smith hat gerade angerufen und uns eingeladen, morgen die Kinder mitzubringen, um ihren Weihnachtsbaum anzusehen. Natürlich kann der arme Harry schon seit Wochen nicht mehr herausgehen, aber ich denke, daß Frieda und ich es schaffen werden, das Baby und Dorothy mitzunehmen, weil es schon eine große Reise nach Sassenhof ist. Es bedeutet, daß eine Droschke, ein Boot und danach noch eine Droschke oder die Straßenbahn statt des Bootes genommen wird. Wir können aber auch mit dem Zug fahren, aber die Züge sind so unbequem und es ist so heiß in ihnen, daß man sich fast erkältet, wenn man wieder aussteigt.
                          Ich habe jetzt schon so viele Anläufe bei diesem Brief gemacht, daß es jetzt 5 Uhr geworden ist und ich darauf warte, daß Rudolf mitkommt und für das Baby ein Bett kauft. Oh! Diese Babies kosten sehr viel! Der Doktor war heute hier und kommt Sonnabend noch einmal. Harry ist noch immer sehr schwach und es geht ihm nur langsam besser. Seine Schulter und sein Hals sind noch immer geschwollen. Er muß zweimal am Tag mit Salbe eingeschmiert werden. Dr. Berg meint, daß er eine schwere Grippe und dazu alle möglichen Komplikationen hatte.
                          Alf schickte mir vier Weihnachtsausgaben, aber ich kann noch immer keine Ruhe finden, um sie zu lesen, obwohl sie so schön aussehen.
                          Frieda hat vor, zu Neujahr nach Libau zu fahren. Ich weiß nicht, ob wir dann mit einem Paar Händen weniger zurecht kommen werden, wo es Harry doch so schlecht geht, wenn sie nicht in seiner Nähe ist. Wenn sie wegfährt, muß er damit fertig werden. Ich befürchte nur, daß es ihm dann wieder schlechter gehen wird. Ich muß aber sagen, daß sie auch einmal eine Abwechslung nötig hat. Ich weiß, daß ich es auch gebrauchen könnte und wünschte, sie würde im Sommer gehen, weil es dann für mich viel leichter wäre, wenn wir in einer Villa sind.
                          In aller Eile wünsche ich Euch alles Liebe und vielen Dank an Florrie für ihren Brief. Deine Liebe Schwester Lily .
                          Wieviele von den Mädchen sind jetzt verlobt? Florrie gibt die ganze Zeit geheimnisvolle Hinweise von "Gentlemen friends," läßt mir aber keine Ruhe und erzählt mir nichts Genaues, wo ich doch auch Deine Meinung zu Jack hören möchte.
                          Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                            • 22.11.2009
                            • 1318

                            Dokument 91: Riga, Sonntag, im Februar 1910:
                            Lieber Arthur,
                            Ich nehme an, daß Ihr alle denkt, nie mehr von mir zu hören, aber es ist immer die selbe alte Geschichte: keine Zeit! Vielen Dank für die "S. Gazette." Ich hoffe, daß Ihr alle Ausgaben, die Ihr habt, zu meinen Lasten zurückhalten werdet und sie von meinem Scheck abziehen werdet. Es ist für Euch doch schon genügend Aufregung, die ich Euch bereite, ohne Euch richtig entschädigen zu können. Hast Du schon "Nash´s" geschickt? Ich hoffe, daß es nicht verloren gegangen ist. H. Smith hat mir ein Magazin geschickt, das vom Zensor verwechselt wurde. Ich bekam ein seltsames Männermagazin. Es ist doch immer sicherer, meinen Namen auf das Buch selbst zu schreiben, so wie Du es immer machst. Whittles und Smiths warten beide darauf, daß ich es ausgelesen habe. Wir freuen uns alle schon auf das Pole Konto. Hast Du schon einmal etwas über das Buch "Liza of Lambeth" gehört? Es wurde im Guardian so gepriesen, daß ich dachte, es gerne haben zu wollen, wenn es sich lohnt.
                            Weißt Du, daß wir morgen sieben Jahre verheiratet sind? Scheint es nicht schon ewig her zu sein, daß ich von allen weg bin, wie ich weiß? Einerseits scheint es nicht lange her zu sein, aber andererseits doch. Wir wollen ein Fest - im kleinen Rahmen - machen und haben dazu den Eßtisch ins Büro gebracht, damit wir mehr Platz haben, da ich denke, daß wir die meiste Zeit am Tisch sitzen werden, weil hier das Essen am wichtigsten ist. Feste zu Hause sind viel lustiger und wir hatten viel öfter Gäste, wenn sie hier nicht so große Erwartungen hätten. Wenn Mrs. Whittle Freunde eingeladen hat, dann bleibt sie den nächsten Tag im Bett, um sich zu erholen. Ich hörte das von einer Dame - sie ist keine wirkliche Dame (ich muß leider sagen, daß es hier nur wenige gibt), die letzthin ein Fest mit Abendessen gab. Zuerst gab es, wie Du weißt, verschiedenste kalte Sachen, dann Sachen in Konserven (ohne sie gibt es hier kein Abendessen), dann Suppe, Fisch, Fleisch, Süßigkeiten, Obst, Tee und Kaffee. Sie hat nur ein Baby und einen Diener. Ihr Mann ist Ingenieur in einer Baumwollfabrik, aber auch kein höherer.
                            Ich werde es nicht in einem solchem Stil machen und ihnen zuerst Sardinen, Hummer mit Mayonnaise (heute frisch gemacht), russische Würste, kalten Wildbraten, Käse, Pickels und Bier anbieten. Danach gebackene Schweinshaxe, Apfelsoße, Kartoffeln und dann Baisé. Das ist Schlagsahne mit einer Hülle aus Eiweiß und Schokoladenstreuseln darauf. Ich erinnere mich, daß wir sie bei uns in England "Meringue" nennen. Diese habe ich Backen lassen. Und dann noch Rheinwein und Champagner. Danach gibt es dann Tee und Kaffee, Weihnachtskuchen und süße Kekse usw. Oh! Ich wünschte, Ihr würdet alle auch kommen! Ich erwarte Whittles, Balls, Smiths, Sewells und Meckeths. Das sind alles, außer den letzten, englische Paare. Mr. Sewell ist Direktor einer Baumwollfabrik in Sassenhof und seine Frau ist auch sehr nett. Ihr Haus ist auch sehr schön. Ich konnte sie nur schwer hierher einladen, aber wir können auch nichts für unsere Wohnung und fürchte, daß sie nicht kommen können, da sie zur Zeit in der Fabrik zu viel Arbeit haben und er auch Neuralgie hat. Wir werden auch weiter hier bleiben. Der Vermieter hat £5 bei der Miete nachgelassen und wird einiges für uns neu streichen und tapezieren.
                            Hast Du schon einmal von "Gotischen" Stühlen gehört? Wir haben uns für unser Wohnzimmer ein Dutzend gekauft und sie werden wie folgt beschrieben: Sie sind aus Eichenholz und haben braune Sitze. Die Rückenlehnen sind hoch mit Stegen, die mit furchtbar viel Schnitzereien verziert sind. Ich kann sie nicht beschreiben, aber Rudolf sagte: "komm und sieh selbst, dann weißt Du wie sie aussehen!" Rudolf hat mir auch einige herrliche Rheinwein Gläser (sie sehen aus wie Seifenblasen) und ein Dutzend silberne Teelöffel geschenkt. Die Griffe sind matt und das Monogramm L.K. ist schön eingraviert. Sie sehen schön aus, daß ich mit allen meinen neuen Sachen am liebsten angeben würde. Ich würde aber 50 mal lieber einige alte Freunde zu einem kalten Abendessen einladen, und mich nett mit ihnen unterhalten. Warte nur bis ich nach England komme. Dann werde ich zuerst einmal eine Woche lang nur "Fish & Chips" essen, worauf ich hier so Appetit habe. Ich denke, daß hier Möbel teurer sind, als in England. Jeder unserer Stühle hat £1 gekostet und sie haben nicht einmal Sitzfedern. Das Leder ist so wie bei den amerikanischen Holzsachen und im Holzrahmen festgemacht. Die Holzschnitzereien sind hier sehr schön, aber die Holzarbeiten sind grob und ungenau. Es ist hier üblich, daß Verzierungen einfach aufgeklebt sind. Sie sind sehr repräsentativ, aber nicht sehr haltbar. Ich muß mich jetzt beeilen, weil Dorothy schon ins Bett gehen will. Harry und das Baby sind schon im Bett. Harry ist wie immer in seiner ausgelassenen Stimmung. Ich habe einen Schneider hier, der ihre Kleider für den Frühling und den Sommer richtet, aber das wird mir jetzt auch zu viel.
                            Harry ist noch nicht 2 3/4 Jahre alt und sieht so blendend in seinem Hemd und den Knickers aus, daß man ihn schon für einen großen vierjährigen Jungen halten könnte. Wir haben aus Libau schlechte Nachrichten bekommen und werden dort einige Tagen hinfahren müssen, weil Rudolfs Mutter sehr krank ist und schwere Herzanfälle hatte. Cousin John wird telegraphieren, wenn es notwendig wird. Wenn sie sich erholt, dann wird Johns erstes Baby am 21. getauft und wir wollen hinfahren. Ich konnte nicht zu der Hochzeit fahren, da sie in der Woche nach der Geburt vom Baby war. Hoffentlich schreibt bald mal wieder jemand von Euch, da Ihr jetzt an der Reihe seid.
                            Liebe Grüße von Deiner lieben Schwester Lily -
                            Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                            • Frank K.
                              Erfahrener Benutzer
                              • 22.11.2009
                              • 1318

                              Dokument 92: Bona Ventura, Jägel See, 20.08./03.09.1910
                              Lieber Arthur,
                              Das ist jetzt mein letzter Brief an Dich von hier, weil wir am 1. wieder in die Stadt zurückkehren. Die meisten sind schon zurückgefahren, weil am Montag die Schule beginnt. Wir essen jetzt nicht mehr in der Veranda und haben einen Raum zu unserem Eßzimmer gemacht, weil es zum Abendessen schon zu kühl wurde. Erinnerst Du Dich, wie einmal an Mrs Whittle in Apply Bridge geschrieben wurde, daß sie kommen sollte, um Euch zu besuchen? Sie ist jetzt wieder in England und ich wollte ihr etwas für die Zwillinge mitschicken, aber sie segelte ohne es mir zu erzählen, so daß ich es nicht konnte. Das hat mich furchtbar geärgert. Die Leute hier sind nicht sehr freundlich und haben - denke ich - Angst davor, um einen Gefallen gebeten zu werden. Da siehst Du, daß immer jemand etwas nach England mitgeben will. In Libau ist es genau das Gleiche und weiß der Himmel, wann wir Frieda wieder erwarten dürfen. Die Kinder haben auch schon die Hoffnung aufgegeben, daß sie zurückkommen wird. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als daß wir für sie einen Fremden nehmen müssen, auch wenn ich das hasse. Ich würde Dorothy lieber in einen Kindergarten schicken und einen Verwandten bei uns haben. Dieses Mal werde ich versuchen, ein Mädchen zu bekommen, das schon einen Kindergartenkurs absolviert hat. Mrs. Mann hatte vergangenes Jahr eine für ihre drei Kinder (7, 5 und 2 1/2) und war zufrieden. Sie flicken auch ihre Wäsche selbst.
                              Baby ist das fröhlichste kleine Ding, das man jemals gesehen hat und ist genauso, wie Vera war. Sie hat einen Lieblingsstuhl, auf dem niemand außer ihr sitzen darf und den stellt sie ganz nah zu mir. Wenn ich aufstehe, folgt sie mir wie ein Schatten. Sie hat jetzt eine unangenehme Angewohnheit angenommen und steht um 6Uhr morgens auf. Solange ich ein zweites Mädchen habe, macht es mir nichts aus, aber ich möchte in der Stadt keine zwei behalten, solange ich ein Fräulein und eine Putzfrau habe. Aber es wird dann ärgerlich sein, weil ich dann in der Nacht alle drei Kinder habe und oft gestört werde, so daß ich dann nicht so früh aufstehen kann. Natürlich wird ein Fräulein das Beste sein. Sie wollen immer, daß man ihnen vorliest und sie etwas unterrichtet, aber ich konnte es bis jetzt nicht so gut machen, weil ich auch keine Zeit dafür gehabt habe. Das jetzige Mädchen kann nicht einmal kochen und ich kann ihr die Sachen nicht erklären, weil sie nicht deutsch sprechen kann. In der Stadt muß ich dann die ganze Zeit in der Küche sein. Ich weiß dann nicht, wie die Kinder es schaffen werden, an die frische Luft zu kommen. Ich beneide alle, die einen Garten haben. Es ist so scheußlich, in einer Wohnung leben zu müssen, wenn man Kinder hat.
                              Dieser Platz hier gefällt uns am besten. Wir haben uns entschlossen, nächsten Sommer wieder hierher zu kommen. Ich will es selbst und daher ist es beschlossen! Wenn wir uns jetzt entschließen, können wir unsere Sachen hier lassen, die wie nicht in der Stadt benötigen und sie werden dann nächstes Jahr für uns schon bereit liegen.
                              Ein Neffe von Rudolf will bis Montag zu uns kommen. Er ist 18 Jahre alt, hat in Libau die Schule beendet und will jetzt in Riga an der Universität studieren. Harry ist sehr aufgeregt.
                              Er liebt und bewundert große Jungen.
                              Der blöde alte "Guardian" hat wieder aufgehört. Das passiert immer wenn irgend etwas Interessantes darin ist. Ich denke, daß der Fall Crippen vorbei sein wird, bevor Rudolf einen Weg finden wird oder Zeit hat, einen kleinen Scheck zu schicken. Ich denke, daß sie ihn noch eine Zeit lang weiter schicken würden, nachdem sie bemerkt haben, daß "Nash´s" auch abgelaufen ist, aber ich werde dieses Blatt nicht weiter beziehen. Ich denke nicht, daß es das Wert ist. Ich würde lieber einige 6 Pence Ausgaben haben wollen, da ich Kurzgeschichten nicht mag. Ich nehme an, daß Du vergessen hast, mir einige zu schicken, um die ich gebeten habe. Das macht aber nichts aus, da meine faule Zeit jetzt vorbei ist (nicht daß ich dieses Jahr viel davon gehabt hätte). Ich möchte aber gerne eine Sache von Dir zugeschickt bekommen (oder sag es Deiner Buchhandlung), wenn Du Zeit hast. Es ist die "Children´s Encyclopedia" (das ist die, die Du nur einmal hast), da die Kinder doch alles und über alles Bescheid wissen wollen. Es wird auch später einmal für sie nützlich sein, wenn sie in der Schule sind. Ich weiß noch ganz genau, wie mir die Encyclopedia in der Schule geholfen hat. Ich frage mich immer, was Ted damit gemacht hat. Weißt Du, daß ich oft Sehnsucht nach den alten Möbeln habe. Ich frage mich immer, ob ich sie noch einmal zu sehen bekomme. Ich bin noch immer so furchtbar froh, daß Du den Ohrensessel bekommen hast. Ich habe meine glücklichste Zeit in ihm verbracht. Laß es nicht zu, daß er die Familie verläßt. Ich frage mich auch immer wieder, ob ich mich noch einmal auf den Schaukelstuhl setzen kann, auf dem Mutter und Harry immer saßen. Rose Deakin wollte ihn für mich aufheben. Wenn ich nur in England leben gekonnt hätte. Ich könnte dann auch etwas von dem behalten haben, was Pa gemacht hat. Ich frage mich auch, ob Sidney noch immer den Bücherschrank hat.
                              Das Leben ist schon gut und sehr komfortabel, aber es ist nicht so, wenn man nicht in England mit den eigenen Menschen leben kann. Hier, wo ich allein sein kann, habe ich nicht solches Heimweh wie in der Stadt, weil ich immer denke, daß auch Rudolf Engländer ist. Es ist aber nicht gut, weiter sentimental zu sein. Das Baby ist aufgewacht und Harry schreit, weil er mich verloren hat. Jetzt ist außerdem Kaffeezeit.
                              Auf Wiedersehen und liebe Grüße an Dich und Jennie und alle anderen. Deine sehr liebe Schwester Lily.
                              Montag: P.S. Rudolf brachte mir Deinen lieben langen Brief am Sonnabend abend. Ich habe auch einen von Alice und von Minnie Mitchell und auch zwei Karten aus Libau bekommen, da am Sonntag mein Geburtstag war. Rudolf schenkte mir ein Kochbuch und einige Hähne. Außerdem ein Kleid mit Spitzen, das ich aber noch nicht habe, weil ich es mir selbst aussuchen soll. Fritz brachte mir eine große Schachtel Pralinen von seiner Mutter mit. Die Kinder hatten mit Fritz eine schöne Zeit, da sie dieses Jahr auch sehr wenig Besucher hatten. Heute früh verließ er uns. Sein Eintrittsexamen fängt heute an und er hofft es zu schaffen. Die Universität ist so überfüllt, daß sie jetzt schon Eintrittsexamen machen. Ich habe mich so gefreut, von Veras Erfolg zu hören. Ich weiß aber nicht, ob ich ihr gratulieren soll.
                              Ich vergesse oft Sachen zu sagen, die ich sagen will, komme auch nicht dazu zu schreiben und die Kinder sprechen auch die ganze Zeit. Ich schreibe gerade auf dem Kindertisch und sitze im Garten auf der obersten Stufe zur Veranda.
                              Dorothy "unterrichtet (!)" darauf (und stößt ihn die ganze Zeit mit den Füßen), Harry wartet darauf, daß ich ihm "Struwel Peter" vorlese und das Baby schläft. Die letzte Familie verließ uns heute und wir sind jetzt allein. Ich werde traurig sein, wenn unsere Zeit kommt und wir gehen müssen. Du weißt nicht, was es bedeutet, in diesen alten Städten und besonders in der Nähe der König Straße zu leben, die man mit der Bridge Street in Manchester vergleichen kann. Sie ist doppelt so breit, aber weil hier jeder Holz verbrennt, ist die Luft sauberer. Das sind die Straßen aber nicht, weil sie niemals richtig gewaschen werden und hier jeder einfach darauf ausspuckt. Wie würde es eigentlich Euch gefallen, in einer solchen Stadt neun Monate lang leben zu müssen. Aber ich hoffe, daß ich es nicht so lange muß, weil Rudolf in seinem Geschäft allein arbeitet. Es ist auch besser für ihn, weil er immer am gleichen Ort ist. So wie Mrs. Brigham. Ich hoffe, daß es Jennie dieses Jahr gut gegangen ist.
                              Liebe Grüße usw. Lily -
                              Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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                                • 22.11.2009
                                • 1318

                                Dokument 92 a Riga, Mittwoch 14.09.1910

                                Lieber Arthur und liebe Jennie,
                                ich schreibe in Eile, um zu fragen, ob eines Eurer Mädchen nicht herüberkommen will, um mir bei den Babies zu helfen. Wenn eine kommen will, würden wir ihr die Überfahrt hin und zurück, sowie Deutschstunden oder Musikstunden zahlen, wenn sie hier ist. Frieda mußte wieder nach Hause fahren und ihre Mutter versorgen und ich kann nicht alles allein machen. Wir haben eine Anzeige wegen einer Hilfe aufgegeben und jetzt kommen sie in Massen, aber ich hasse Fremde. Ich denke aber, daß sie es langweilig finden wird, wo es bei Euch doch so lebhaft zugeht und wir nur mit den Babies ausgehen. Wir lassen sie niemals mit einer Bedienung allein. Frieda war zufrieden, daß sie zu Hause sitzen konnte, da sie schon älter war, aber für ein junges Mädchen wäre das schon anders. Ich dachte nur, daß vielleicht jemand von Euch kommen wollte. Es wäre eine gute Gelegenheit und wir würden uns sehr darüber freuen. Ich danke, daß das Baby spätestens in zwei Monaten allein gehen wird. Dann wird es einfacher werden. Natürlich werden wir im Sommer wieder an den Strand gehen und sie könnte dann etwas vom fremden Leben sehen. Ich habe gerade ein furchtbar schönes Mädchen gesehen, das aber dorthin gehen will, wo die Kinder schon größer sind, die sie dann auch unterrichten kann. Eine Dame erzählte mir, daß sie keine eigenen Kinder hat und sie Kinder deshalb nicht versteht. Denke gut darüber nach, bevor Du Dich entscheidest, da ich nicht will, daß eine kommt und dann enttäuscht ist. Ich möchte gerne wieder jemand von Euch sehen, aber ich denke, daß Ihr sie nicht kommen laßt, weil sie dann wahrscheinlich Heimweh bekommen würden. Entschuldige bitte die Kleckse. Ich hebe eine neue Füllfeder und nur einen Fleck zum Schreiben. Die Kinder warten auch darauf, ins Bett gebracht zu werden. Unser Fest war ein großer Erfolg. Alle kamen. Die Männer rauchten nach dem Mittagessen und wir Damen zogen uns zurück, schwätzten, tranken Tee und Kaffee und dann fing jemand an zu spielen und wir tanzten bis nach 2 Uhr mittags. Mein Tisch sah hübsch aus. Rudolf brachte mir Teerosen und rote Nelken für £1 (zusammen drei Dutzend). Wir nahmen eine Teerose für eine Dame und eine Nelke für einen Herrn, so daß jeder wußte, wo er sitzen mußte. Die Blumen waren in Vasen und ebenso auch die Kerzen mit schönen Manschetten.
                                Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Schickt mir doch bald einmal eine Ansichtskarte und teilt mir mit, was Ihr beschlossen habt.
                                Liebe Grüße an alle von Eurer lieben Schwester Lily -
                                Ihr dürft natürlich nicht denken, daß wir sie nur für ein Jahr haben wollen, wenn sie länger bleiben wollen. Ich dachte nur, daß es keinen Sinn hätte, kürzer zu kommen. Sie könnte dann einen Sommer und einen Winter in der Fremde erleben.
                                Gegenwart ist die Verarbeitung der Vergangenheit zur Erarbeitung der Zukunft

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