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Gerrit 02.09.2018 11:24

Flucht aus Ostberlin / Geheimdienstunterlagen
 
Hallo,

meine Großeltern flüchteten im Mai 1959 von Ost- nach West-Berlin.

Die vollständigen Gründe sind derzeit noch nicht bekannt, aber es gibt Hinweise darauf, dass meinem Großvater als Dozent an der Hochschule die Habilitation verweigert werden sollte. Es liegen mir Dokumente vor, die belegen, dass man bereits die Dissertation einer "Schmutzkampagne" unterzog.

Gemäß der Aussage meines inzwischen verstorbenen Großvaters, wurde er nach der Flucht von verschiedenen alliierten Geheimdiensten befragt.
  • Kann mir jemand diese Praxis bestätigen?
  • An wen könnte ich mich dazu wenden?
  • Wer hat Ideen, wie man der Flucht und den Weg in den Westen noch auf den Grund gehen könnte?
Eine Stasi-Akte gibt es wohl nicht (Auskunft aus 2011). Erfahrungen mit dem Aufnahmelager in Berlin-Marienfelde habe ich nicht. Kann man dort Anfragen?

Vielen Dank und Grüße

Gerrit

Anna Sara Weingart 02.09.2018 12:43

Zitat:

Zitat von Gerrit (Beitrag 1116592)
... Wer hat Ideen, wie man der Flucht und den Weg in den Westen noch auf den Grund gehen könnte? ...

Hallo Gerrit,
eine "Flucht" bestand damals darin, dass man sich in Ost-Berlin in die S-Bahn gesetzt hat, und in West-Berlin ausstieg. War also nichts dramatisches vor dem Mauerbau. Man durfte natürlich nicht mit Sack und Pack dasitzen, sondern sollte besser den Anschein erwecken, dass man abends wieder zurück kommen würde.
Als meine Großeltern "rüber machten" (so nannten man das wohl), haben sie ihre Dokumente und verdächtigen Dinge vorher mit der Post nach Westen geschickt, und haben die Westfahrt getrennt angetreten, jeder mit Kind, natürlich ohne Koffer. Bei einer Kontrolle am Bhf. Friedrichstr. gab man dann an, dass man nach Potsdam möchte. Denn der einzige Weg mit der Bahn von Ost-Berlin nach Potsdam führte durch West-Berlin.


Die Befragung durch Aliierten würde ich darin begründet sehen, dass der Verdacht bestand, dass er DDR-Agent gewesen sein konnte, mit seiner Stellung in der DDR-Oberschicht. Jedenfalls hätte er eine DDR-treue Biografie haben müssen, wenn er Dozent in der DDR war, und dies machte ihn im Westen verdächtig.
Beziehungsweise wollte man ihn sicherlich auch als Informationsquelle abschöpfen über die Führungsstrukturen der DDR.
Gruss

Gerrit 02.09.2018 16:11

Hallo,

vielen Dank für die Zuschriften, die mich auch per PN erreicht haben. Ich hatte mich in meiner Anfrage kurz gefasst. Da ich hier Interesse vermute, jetzt etwas länger.

Ja, die Flucht fand per S-Bahn statt. Meine Großeltern hatten das wohl vorbereitet. Möbel zu der Schwägerin in Pankow, Spielzeug, Bücher, Wertsachen bei Freunden in West-Berlin. Und dann nur mit einem Täschchen für den Pfingstausflug in die Bahn.

Ich habe vorhin noch eine Email an das Notaufnahmelager Marienfelde geschickt und um Vorschlag zur Recherche gebeten. Wohne ja in Berlin, kann ich ja mal vorbeifahren.

Im Oktober 1958 ließ sich mein Großvater unter fadenscheinigen Gründen von Halle nach Berlin versetzen. Das Schreiben liegt mir vor (Danke, Uni-Archiv Halle). Er war seit 1949 SED-Mitglied, Mitglied in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, Mitglied im Gewerkschaftsbund und schrieb seine Doktorarbeit über die SPD-Bewegung während des Sozialistengesetzes 1871. Ob er sich politisch engagierte, um seine Karriere voranzubringen oder aus Überzeugung, lässt sich rückblickend schwer sagen. Vielleicht ein bisschen beides?

Seine Doktorarbeit, die übrigens Leo Stern (!) mit "sehr gut" auszeichnete, war aber dem Kollegium in Halle viel zu bürgerlich. Oder man witterte Konkurrenz? Mein Großvater war schon jemand, der sich einmischte und sagte, was ihn störte. Gerechtigkeit war ihm wichtig - die Kindheits- und Kriegserlebnisse waren wohl recht hart.

Zumindest kann man vordergründig von einer DDR-konformen Biographie ausgehen; danke @Anna, da wirst Du recht haben.

Ob man an diese Unterlagen noch herankommt? Ich werde das in Marienfelde mal nachfragen. Wenn Briten und US-Amerikaner befragten, sollten die Unterlagen doch noch vorhanden sein - da kommt doch nichts weg... :-)

Letztendlich wurde mein Opa nie Professor, er zog nach NRW um und leitete lange Zeit eine Landesbibliothek.

VG

Gerrit


Nachtrag: Unter den ca. 125.000 Personen, die die DDR im Jahr 1959 verlassen, befinden sich 124 Wissenschaftler. Das ist sicherlich auch ein berechtigter Grund für eine Befragung. (Quelle: https://www.stasi-mediathek.de/medie...1959/blatt/94/)

PetraNeu 02.09.2018 19:25

Hi Gerrit, ich war kürzlich in Marienfelde. Du musst da unbedingt mal selbst hin, es lohnt sich! Es wurden alle Ostflüchtlinge von allen Alliierten befragt, es ging neben der Frage nach Fluchtgründen i.d.R. darum, ob man Truppenbewegungen o.ä. beobachtet hatte. Die Parole unter den Flüchtlingen hiess: Sag nein, sonst musst du noch länger hier bleiben... Das MfS hat immer wieder versucht, Spione einzuschleusen.

LG Petra

Gerrit 06.09.2018 15:55

Vielen Dank! Das werde ich machen.

Ich habe eine Email geschrieben und um Mitteilung gebeten, ob und wo man die Unterlagen einsehen/recherchieren kann.

Mein lieber Arbeitgeber lässt mir im Jahr zwei Studientage, die ich frei verwenden darf, jetzt hätte ich da mal ein Idee...

VG

Gerrit 06.09.2018 16:01

Gerade meine Emails / Spamordner gecheckt:

Vielen Dank für Ihre Anfrage. Wir haben im Bestand der Erinnerungsstätte vor allem die Materialien der allgemeinen Lagerverwaltung, aber keine Namen, Informationen oder Individual-Dokumente von Flüchtlingen.
Die Unterlagen zu den ehemaligen Flüchtlingen sind als Bundesakten heute im Archiv des Bundesamts für Migration und Flüchtline in Gießen. Dort haben aber nur die damaligen Flüchtlinge oder direkte Verwandte Einsichtsrecht, das wäre für Sie ja problemlos.
Hier die Adresse für eine entsprechende Anfrage beim Bund:
http://www.bamf.de/DE/DasBAMF/Uebersiedler/uebersiedler-ehemalige-ddr-node.html

scheuck 06.09.2018 16:50

Hallo, Gerrit!

Freut mich, das hört sich doch mehr als gut an, also nix wie ran an die Sache!

Viel Erfolg!

Zetteltante 07.09.2018 14:22

Hallo Gerrit,


ich drücke Dir ganz feste die Daumen, daß Du fündig wirst.
Es wäre schön, wenn Du berichten könntest, was sich alles in so einer Akte finden lässt. Ich hätte da auch drei Kandidaten.


Viele Grüße


Zetteltante

Gerrit 13.09.2018 15:22

Hallo,


das BAMF kaspert noch so vor sich hin, aber die haben bestimmt auch gerade anderes zu tun, als sich mit ollen Kamellen zu beschäftigen.



Aber ich hatte heute einen Termin im Archiv der Akademie der Wissenschaften, was 1959 der letzte Arbeitgeber meines Großvaters war. In seiner Personalakte befanden sich zwei Meldungen aus seiner Zeit in Halle, dass er die Fahne zu einem Feiertag nicht gehisst habe und seine Frau dem Meldenden auch noch ein dumme Antwort gegeben hat und - darüber habe ich mich sehr gefreut - das Schreiben meines Großvaters an seinen Doktorvater, warum er sein Heil in der Flucht sucht. Dabei gibt er nicht nur Gründe an, sondern benennt jene, die im unterschiedliche Vergehen gegen den Staat vorwerfen.



Ich habe beauftragt, dass man Scans davon macht - leider braucht es 5 Wochen dafür.


Ich werde meinen Vater anspitzen, dass er doch noch einmal einen Antrag auf Einsicht in die Stasi-Unterlagen stellt. Hat jemand Erfahrungen mit den Landshauptarchiven, wo auch die SED-Mitgliedsunterlagen lagern sollen?


VG

Gerrit

Puselbär 13.09.2018 15:53

Hallo Gerrit,


ich hab zwar keine Erfahrung mit dem Thema, aber ich habe das hier gefunden https://www.bstu.de/akteneinsicht/privatpersonen/


LG
Michaela


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