Aus dem Tagebuch meines Großvaters - 27 Jahre später

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  • Helen
    Erfahrener Benutzer
    • 04.02.2010
    • 164

    #16
    Hallo Dorsch, das hast du aber schön gesagt und ich danke dir dafür! Du hast meinen Großvater gut beschrieben, so war er. Als er starb, war ich 13 Jahre und ich habe ihn als stillen Mann erlebt, der in unserer Familie sehr zurückgezogen, aber nicht weltfremd lebte. Er bewirtschaftete in der Nähe einen Garten und brachte gute Ernten nach Hause, von Bohnen bis zu Spargel. Regelmäßig spielte er mit seinem Bruder Franz Damerius aus Detmold Schach.

    Hier stelle ich mal einige Fotos vor, die Qualität ist leider nicht die beste:

    von oben li nach unten re:
    Opa - Opa neben seiner Tochter Margarete, hinten links seine 1. Tochter Helga aus Petersburg, neben ihr Sohn Klaus-Wolfgang, li von ihm Sohn Arwed - Helga Bulla mit ihren beiden Kindern aus Frankfurt - Tochter Margarete mit Sohn Peter - Peter mit ? (Haushaltshilfe Milintina Iwlewa - unten die Familie seines Bruders Franz Damerius, dem die Gärtnerei im Foto daneben gehörte - schlesische Landschaft - Rest ist beschriftet

    LG Helen
    Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #17
      Samurai wurde in Trakehnen gezüchtet, lief einige Jahre als Sieger über die Rennbahnen Deutschlands und als ihn seine Nachkommen ablösten, wurde er in Trakehnen als Zuchthengst verwendet. Er ist ein Tier mit außergewöhnlichem Temperament, der in der Nähe von Stuten nur schwer zu bändigen ist. Um seiner Herr zu werden, mußte er von seinen Pflegern öfters durch einen Kunstgriff mittels Leinen zur Erde geworfen werden, dann war er einige Tage lang ruhiger. Er war der Schrecken aller Gestütspfleger, bei denen er zu Gast war.

      Als die Russen gegen Ostpreußen vorrückten, wurde das wertvolle Tier ins Gestüt Rastenberg gebracht. Als dies bedroht wurde, schaffte man den Hengst ins Gestüt Fürstenstein und als es auch dort nicht sicher stand, brachte man ihn zu Mattern in der Hoffnung, daß er auf dessen unauffälligem Hof gesichert sei. Von Fürstenstein nach Rudelsdorf wurde er von einer Frau geritten, eine hervorragende reiterliche Leistung.

      „Und nun hatte ich die Bestie hier – und wußte nichts mit ihr anzufangen“, schloß Mattern seinen Bericht.

      Am Tage bevor wir zu Mattern kamen, war ein Russe auf den Hof gekommen und hatte ein Reitpferd verlangt. Mattern bot ihm ein engl. Vollblut an, aber dem Russen stach der Hengst in die Augen. Mattern machte ihn darauf aufmerksam, daß dies ein äußerst schwieriges Pferd sei, ohne natürlich zu verraten, welch wertvolles Tier er vor sich habe. Der Russe lachte nur, ließ satteln und schwang sich hinauf. Nach russischer Art hieb er sofort auf den Hengst ein, der wie der Blitz mit seinem Reiter absauste. Als der Russe ihn noch weiter mit der Peitsche bearbeitete, warf ihn der Hengst ab, im Stacheldraht einer Koppel blieb er hängen, ein zerfetztes, blutendendes Reiterlein ohne Pferd.

      In Tuntschendorf wurde das Tier wieder eingefangen. Wieder versuchte sich ein Russe auf ihm, den Erfolg habe ich bereits beschrieben.

      Und nun hatte ihn ein Bauer aus dem Nachbardorf, wo er wieder eingefangen worden war, zu Mattern zurückgebracht. Hier im äußersten Winkel des Reiches hatte sich der Hengst aus eigener Kraft seiner Häscher entledigt. Freilich, hätte man gewußt, welch edles Tier man in Händen hatte, wäre man wohl anders verfahren und hätte diesen wertvollen Besitz besser gehütet. – Das ist die Geschichte von „Samurai“, der Bestie, dem Wunderhengst, einem der besten Pferde Deutschlands.

      Eine Woche habe ich versucht, mich auf dem Hofe nützlich zu machen. Außer den genannten Arbeiten habe ich noch so manches andere gemacht. Ich habe den Kuhstall ausgemistet, habe die Sämaschine umgestellt, die Kutschgeschirre auf dem Schnitt unter einem Schnitzelberg vergraben, die Koppeln ausgebessert und das Rindvieh sowie die Hengst in den Koppeln kontrolliert.

      Oft kamen alarmierende Nachrichten aus dem Nachbardorfe Tuntschendorf. Die Russen hatten Spiritus gefunden, sich sinnlos betrunken und Frauen und Mädchen vergewaltigt. Eines abends kam die Schreckensnachricht, die Russen seien unterwegs zu uns. Alles flüchtete Hals über Kopf in den nahen Wald, auch Mattern mit Frau und Kindern und dem Hauspersonal. Nur Hanfler, ich und der deutsche Arbeiter blieben auf dem Hofe und warteten der Dinge die kommen sollten. Es kamen keine, die Nachricht war falsch. Die scheußlichen Vorkommnisse in Tuntschendorf hatten die Frauen nervös gemacht und es war auch durchaus damit zu rechnen, daß plötzlich ein Trupp dieser Bestien bei uns auftauchte. Wie uns telefonisch mitgeteilt worden war, sollte in den Städten bereits Ordnung herrschen und Vorkommnisse, wie sie noch in Tuntschendorf paßierten, dort nicht mehr möglich sein.

      Meine Unruhe mehrte sich von Tag zu Tag, ich wollte nachhaus und wußte nicht, wie. Mich peinigte fortwährend die Vorstellung, Klaus-Wolfgang käme nachhaus und fände eine verschlossene Tür. Wo sollte er dann hin? Ich fürchtete auch, daß sich die Russen in der verlassenen Wohnung einquartiert hätten, und da vieles darin auf die politische Richtung der Bewohner hinwies, alles darin demoliert worden sei. Ich mußte unbedingt heim.

      Da hörte ich, daß bis Birgwitz die Eisenbahn fahre. Ich ging zum Bahnhof und erkundigte mich, ob dies zutreffe. Es stimmte, und von Glatz aus sollte auch ein Zug in Richtung Kamenz fahren. Auch ab Kamenz sollten Züge verkehren. Ich bat Hanfler, er solle meinen Koffer und Mantel dem nach Stein zurückfahrenden Treck mitgeben. Der Treckführer sollte die Sachen in Reichenbach im Gasthof „Drei Kronen“ abgeben, wo er vorbeifahren mußte.

      Montag, den 14. Mai fuhr ich in Tuntschendorf ab. Der Zug fuhr nur bis Birgwitz, da vor Glatz eine Brücke gesprengt war. Dort erfuhr ich, daß ab Glatz keine Züge gehen, weil das Tunnel bei Wartha ebenfalls gesprengt war.

      Ich beschloß also, nicht erst bis Glatz zu gehen, sondern gleich rückwärts in Richtung Kamenz loszumarschieren. Die Frau eines Arztes aus Ottendorf, deren Mann in Breslau im Allerheiligen-Hospital tätig war und die zu ihm fahren wollte, schloß sich mir an. In den Dörfern wurden wir mehrmals von Russen angehalten, da die Frau aber gut und sehr viel tschechisch sprach, kamen wir immer ungeschoren durch.

      Totmüde kamen wir abends in Kamenz an um dort zu erfahren, daß dort jeder Zugverkehr ruhe. Das war für mich eine arge Enttäuschung, für die Frau aber ein schwerer Schlag. Was sollte sie nun tun?

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      • Helen
        Erfahrener Benutzer
        • 04.02.2010
        • 164

        #18
        Allein zurückkehren – oder allein nach Breslau laufen? Während sie sich verzweifelt ein Quartier suchte und in der Nähe des Bahnhofs auch fand, ging ich auf den Bahnhof zurück und schlich mich in einen Wagen I. Klasse , den ich mir als Nachtquartier wählte und auf dessen Polstern ich sehr gut schlief. Da der Bahnhof wie ausgestorben dalag, bemerkte mich niemand.

        Am anderen Morgen holte ich die Frau ab, trank bei deren Wirtin Kaffee und um 8 Uhr machten wir uns wieder auf den Weg. Sie hatte sich zum weiteren Fußmarsch nach Breslau entschlossen, hoffend unterwegs irgendeine Fahrgelegenheit zu finden. Bald trennten sich unsere Wege, sie ging in Richtung Münsterberg, während mein Weg nach Frankenstein führte.

        Auf diesem Marsch kam mir immer noch der von meiner Tochter besorgte Proviant zugute. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und nur noch mich mühselig schleppend erreichte ich Reichenbach. Was würde ich wohl dort antreffen? Auf Seitenstraßen erreichte ich das Haus, scheu blickte ich zu den Fenstern hinauf. Nichts Ungewöhnliches war zu bemerken. Der Hausschlüssel paßte noch, die Türglocke schellte wie immer, es schien noch alles in Ordnung zu sein. Und es war alles in Ordnung, alles unberührt. Gott sei Dank – wieder zuhaus!

        Wo aber mochte meine Tochter sein? Wo mein liebes Peterle? Wo Klaus-Wolfgang? Um Helga machte ich mir weniger Sorge. In ihrem abgelegenen Dorfe würde nicht viel paßieren – und wenn doch, so wird ihre russische Sprachfertigkeit ihr und den Ihren sicher von großem Nutzen sein.

        In war noch nicht zwei Stunden zuhaus, als auch mein Hauswirt, Herr Schmidt und dessen Frau sowie Frau Schulte aus ihrem Zufluchtsorte Friedrichsgrund in ihrem Heim wieder eintrafen. Nun waren wir ganz zufällig alle gleichzeitig wieder heimgekehrt, es fehlten nur meine Tochter und Peter. Frau Langer, die Tochter Herrn Schmidts sollte am nächsten Tage nachkommen, ihre beiden Kinder hatten sich den Großeltern bereits angeschlossen.

        Daß ich nun nicht mehr allein im Haus war, gab mir ein gewisses Gefühl der Zuversicht und der Erleichterung und auch Gelegenheit mich mit jemandem, den gleiches Leid bedrückte, auszusprechen. Am nächsten Tage unternahm ich nichts, ich hatte nur das Bedürfnis mich gründlich auszuruhen.

        Am Donnerstag, den 17. Mai ging ich nach Faulbrück um zu sehen, ob Helene schon vom wahrscheinlichen Treck zurück sei und um sie evtl. wieder mit nach Reichenbach zu nehmen. Ich brauchte sie zum Waschen der noch verbliebenen Wäsche, die zum größten Teil in Peterswaldau zurückgeblieben war sowie zum Ausbessern derselben und Stopfen der Strümpfe. Da sich bei meiner Wohnung in Peterswaldau eine schöne Waschküche befand, hatte Helene eine Menge Wäsche aus Reichenbach nach dort gebracht, ebenso einen Posten sauberer Wäsche, da sie uns in Peterswaldau sicherer erschien als in Reichenbach. Helene arbeitete bereits auf dem Dominium. Die Mutter weigerte sich, dieselbe mit nach Reichenbach gehen zu lassen da sie befürchtete, es könnte ihr in Reichenbach von Seiten der Russen etwas zustoßen.

        Am nächsten Tage ging ich nach Peterswaldau, um die dort zurückgelassenen Sachen zu holen. Sie waren nicht mehr da, geraubt. Von Juden geplündert. Ich hatte bisher die meinem ältesten Sohn gehörenden Sachen sorgfältig gehütet, hatte sie stets mitgenommen, nun waren sie fort. Sein Bild, seine Auszeichnungen, sein Offiziersdolch, mir liebe unersetzliche Andenken von den freigelassenen Juden gestohlen. Den noch vorhandenen kümmerlichen Rest brachte ich in der Aktentasche unter, ein Beil, eine Säge und einen alten Mantel ließ ich vorläufig zur späteren Abholung zurück. Hätte ich nur alles gleich mitgenommen.

        Die Juden, das ist ein besonders düsteres, umstrittenes Kapitel.
        In Reichenbach bestand ein Konzentrationslager, in welchem 1700 männliche und über 2000 weibliche Juden untergebracht waren. Sie arbeiteten in den Rüstungswerken Reichenbachs und Peterswaldaus, ein großer Teil der männlichen Insassen wurde zum Bau der Panzersperren eingesetzt. Wenn ihre Kolonnen durch die Straßen geführt wurden, eskortiert von unsren Soldaten und man ihre haßerfüllten Augen auf sich gerichtet sah, da habe ich oft gedacht, wehe wenn diese einmal frei werden. Sie werden sich bitter rächen, uns ihre jahrelange Haft schwer vergelten. Und nun war es soweit, sie waren frei.

        Auf den Straßen Reichenbachs war erst etwa jeder vierte Passant ein Deutscher, die übrigen waren Juden. Alle gut gekleidet und wenn sie nicht besondere rassische Merkmale aufwiesen, erkannte man sie nur an der ausgeschorenen Scheitellinie, wenn sie nicht auch dies Erkennungszeichen durch Hüte oder Mützen verdeckt hatten. Mit Genehmigung der Russen hatten sie die verlassenen Villen und Wohnungen besetzt, sich dort die nötige Kleidung und Wäsche verschafft und hausten nun dort nach Herzenslust. Viele hätten ja Reichenbach verlassen, aber infolge der oft vorgenommenen unsinnigen Sprengungen der Eisenbahnbrücken war jeder Zugverkehr unterbrochen. Und so bevölkerten sie die Stadt und aßen uns die kärglichen Lebensmittel weg, zu deren Bezug sie vorberechtigt waren. Viele wurden als Hilfspolizisten eingestellt mit roter Armbinde und Gewehr auf dem Rücken durchstreiften oder durchfuhren sie auf beschlagnahmten Rädern den Ort. Das war für sie eine besondere Genugtuung.

        Genauso wie in Reichenbach war es in Peterswaldau, wo sie die von mir innegehabte Wohnung ausgeräumt hatten. Wenn man sich nun, wenn auch widerstrebend, zur gerechten Beurteilung dieser Zustände zwingt, kann man da ihr Handeln verurteilen? Tun sie nicht nur dasselbe was ihnen selbst widerfahren ist? Haben nicht auch sie einmal alles verloren und mußten sie nicht 5 Jahre lang Zwangsarbeit verrichten? Sicher sind unter ihnen viele anständige Menschen die weiter nichts verbrochen haben als der jüdischen Rasse anzugehören. 5 Jahre lang aufgespeicherter Gram ist zum Grimm und zum Verlangen nach Vergeltung geworden und ich muß ganz offen sagen, ich habe eine schlimmere Vergeltung erwartet als sie nun von ihnen ausgeübt wurde. Um leben zu können und um die nötige Kleidung zu erhalten waren sie einfach gezwungen, zu nehmen was und wo sie etwas fanden. Vor 5 Jahren hatten wir sie von ihrem Eigentum vertrieben, verschleppt und festgesetzt. War das nicht viel schlimmer? War unsere Politik richtig?
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        Ich wünsche allen ein schönes Wochenende!
        Helen

        Kommentar

        • Helen
          Erfahrener Benutzer
          • 04.02.2010
          • 164

          #19
          (Nun habe ich den Teil ausgelassen, in dem sich der Großvater über die politische Situation äußert, die durchaus Verständnis mancher Aktionen zeigt, andere verurteilt. Manche würden es vielleicht als braunes Gedankengut ansehen, ich selbst sehe das nicht so, denn ich lese es als die Meinung eines einzelnen, der in der damaligen Geschichte involviert war.)

          Anscheinend sollen wir Polen werden. Ich habe heute Plakate gelesen, auf diesen steht, daß die „urslawischen Gebiete Niederschlesien und Brandenburg dank der siegreichen Roten Armee und der mit ihr verbündeten polnischen Armee wieder mit dem großen polnischen Reiche vereinigt wurden.“

          Ich kann es nicht glauben, daß man der Ländergier Polens seitens der Westmächte nicht entgegentreten wird. Meiner Ansicht nach wird im schlimmsten Falle die Oder als Grenzlinie gelten. Wie könnte man in den feindlichen Sendern beständig das Wort von den befreiten Ländern im Munde führen und gleichzeitig zulassen, daß ein großer Teil unstreitig deutschen Landes unter Feindherrschaft gerät? Aber – ich habe so vieles nicht begriffen, grüble über so manches Unbegreifliche nach und komme zu keinem Ergebnis – warum sollten wir nicht Polen werden?

          (Darüber wurde in der Politik bis heute lange diskutiert und die Geschichte ist inzwischen abgeschlossen, von vielen vielleicht nicht vergessen.)

          Durch Herrn Raabe, der wieder beim Arbeitsamt beschäftigt ist, erfuhr ich, daß kein ehemaliger Pg (heißt Parteigenossen?) auf Wiedereinstellung rechnen darf. Der jetzige Leiter des Amtes ist Kommunist, früherer Metallarbeiter. Eingestellt wurden wieder Raabe, Wurm, Probst, Frl. Schirdewahn, Frl. Munser, Frau Lattke und Frl. Hellmann, obwohl letztere Pg war. Warum man diese Ausnahmen machte ist unerklärlich.

          Ich habe es unterlassen, mich beim Leiter zum Dienstantritt zu melden. Unter der derzeitigen Leitung stelle ich mich dem Amt nicht zur Verfügung, die Abfuhr die ich erhalten würde, will ich mir ersparen.

          Raabe sagte mir, daß für den Klinkenhof ein Inspektor gesucht wird und ich solle mich um den Posten bewerben. Daraufhin habe ich mir das Angebot an Ort und Stelle angesehen und – verzichtet. Auf dem Hofe befinden sich drei russische Soldaten, die den Betrieb leiten soweit es das Vieh, Hof, Ställe und Scheunen betrifft. Um die Feldbestellung kümmern sie sich nicht, die ist für sie ohne Interesse. Wenn er überhaupt geduldet wird, so ist der Inspektor von der Gnade der Russen abhängig. Angefordert hatte den Inspektor der Maschinist, ein Mensch zweifelhaften Leumunds. Sobald man erfahren hätte, daß ich Pg war, hätte ich sicher die größten Schwierigkeiten gehabt. Also Hände weg!


          Am Pfingstmontag ging ich über den Ring als mich ein Mann fragte, wohin ich gehe. „Nachhaus.“ erwiderte ich, worauf er sagte, er sei der Leiter des Arbeitsamtes und ich könne mal gleich mit arbeiten kommen. Nachdem er noch einige Paßanten angehalten hatte, führte er uns zu einem vor dem Landratsamt wartenden russischen Soldaten. Dieser verlangte die sofortige Stellung von 20 Mann, zu deren Einfang sich der Arbeitsamtsleiter wieder eiligst entfernte.

          „Ich warte nur noch 20 Minuten“ rief ihm der Soldat nach, was den Herrn Amtsleiter zu eiligen Sprüngen veranlaßte. Noch vor Ablauf der 10 Minuten war die Zahl voll. Der Soldat führte uns alle nach dem Sonnensaal. Dieser war von der Firma Raiffeisen als Lagerraum benutzt worden für Rübensamen, Grassamen, Erbsen, Peluschken(??), Mais usw. Die im Saal ringsherum lagernden Säcke mußten auf einer Seite hoch übereinander gestapelt werden.

          Gegen Mittag waren wir mit der Arbeit fertig, durften aber noch nicht nachhaus gehen sondern sollten die im Hofe stehenden Wagen waschen. Da ich hierzu nicht die paßende Kleidung anhatte, ich überhaupt wenig Neigung dazu verspürte, beschloß ich mich zu drücken. Das Hoftor war aber verschlossen und außerdem mit einem Posten besetzt. Ich ging zurück in den Garten, stieg über eine Mauer in den benachbarten alten Friedhof und von dort über eine zweite Mauer und gelangte von hier aus auf die „Gänsegurgel“ und auf weiteren Umwegen nachhaus, wo ich mir mit einigen Stunden Verspätung mein karges Mittagsgericht kochte.

          Am nächsten Tage, den 22. Mai, suchte ich das Arbeitsamt auf, wo sich die männlichen Personen zwischen 16 und 65 Jahren und die weiblichen zwischen 16 und 55 Jahren melden mußten, andernfalls ihnen keine Lebensmittelkarten zugeteilt wurden.

          Raabe nahm meine Meldung entgegen. Auf ein Karteiblatt wurden Name, Alter, Beruf, Parteizugehörigkeit, Eintrittsdatum in die Partei, ob SS oder SA und Funktionen in der Partei notiert. Mit diesem Karteiblatt wurde ich in ein anderes Zimmer geschickt. Nachdem ein dort sitzender junger Mann das Blatt gründlich studiert hatte, schrieb er einen Zettel aus, den er mir mit der Weisung übergab, mich sofort beim Abbau der Panzersperren zu melden. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß ich infolge überstandener schwerer Magenoperation derartige schwere körperliche Arbeiten nicht verrichten könne und ihn ersuchte, mir eine leichtere Arbeit zuzuweisen, sprach er die von tiefgründiger Weisheit zeugenden Worte: „Sie sagen, Sie haben eine schwere Operation durchgemacht. Warum sind Sie aber dann der Partei beigetreten?“ Ich sagte ihm, daß ich der Partei lange vor der Operation beigetreten bin, ich aber nicht verstehen kann, was die Operation mit der Parteizugehörigkeit zu schaffen hat.

          Nun hielt er mir vor, daß wir das braune Haus in die Luft gesprengt und mit den darunter begrabenen Menschen kein Mitleid gehabt hätten. Darauf erwiderte ich, daß dies eine falsche Anschuldigung sei, daß ich erstens mit der Sprengung nichts zu tun und zweitens niemand unter den Trümmern liege und ich auf jede weitere Verhandlung mit ihm verzichte und er solle nur die Zuweisung zu den Panzersperren hergeben.

          Mit dieser Zuweisung schickte er mich wieder zu Raabe zurück, um dort die Bescheinigung zum Empfang der Lebensmittelkarten zu erhalten. Raabe wußte, daß ich meines Magens wegen schonungsbedürftig bin. Er ging deshalb zu dem jungen Manne und erwirkte von diesem, daß ich vorläufig nachhause gehen und auf Zuweisung leichterer Arbeit warten solle.

          Abends erfuhr ich, daß Mikeleitis die Inspektorstelle auf dem Klinkenhof angenommen habe. Ich war neugierig, wie dies Experiment verlaufen würde.

          Am 23. Mai ging ich nach Peterswaldau, um den Rest meiner Sachen abzuholen. Dort erfuhr ich, daß Bürgermeister Zapke, sein Stellvertreter Höh und mein Arbeitskamerad Kunert verhaftet worden seien. Neuer Bürgermeister war Herr Naß, der Mann, der durch seine politische Einstellung und die Tatsache, daß er längere Zeit im Gefängnis gesessen hatte, die Vorbedingungen für diesen Posten besaß.

          Als ich auf dem Rückwege beim Rathaus vorbeiging, wurde ich von einem Polizeidienst verrichtenden Juden angehalten und nach einem Ausweis gefragt. Er fragte mich, ob ich Pg war und wo ich meinen Parteiausweis habe. Ich sagte ihm, daß ich einen solchen nicht mehr besitze und auf die Frage: „Warum nicht“, daß ich diesen vernichtet hätte. Nun wollte er wissen, warum ich ihn vernichtet habe, worauf ich ihm sagte, daß er sich diese Frage wohl selbst beantworten könne. Darauf mußte ich mich setzen und etwa 1 Stunde auf den „Kommandanten“ warten.

          Kommandant von Peterswaldau war ein bei der Firma Preschona beschäftigt gewesener ukrainischer Arbeiter. Als er erschien, legte ihm der Jude, der mich vernommen hatte, meine Ausweise vor. Doch auch diesem genügten sie nicht. Er sagte, daß wir jetzt in Rußland leben und einen Ausweis mit russischer Schrift besitzen müßen. Meine Einwendung, daß solche Ausweise niemand besitze und auch nicht ausgestellt werden, ließ er unbeachtet.

          Ich mußte nun sämtliche Sachen aus den Taschen nehmen und auf den Tisch legen. Alles wurde genau besichtigt, das Geld gezählt und zu den Sachen anderer Häftlinge in einen Schrank gelegt. Die Hosenträger mußte ich abknöpfen und ebenfalls abgeben und nun mußte ich wieder warten, die Hosen beständig vor dem Abrutschen bewahrend.

          Nach mir wurde ein Hilfspolizist aus Peterswaldau vernommen. Nachdem auch er die Sachen und Hosenträger abgegeben hatte, wurden wir zusammen in eine Zelle gesperrt. Ein jüdischer Posten hielt vor der Tür Wache.

          30 Stunden blieben wir eingesperrt, ohne etwas zu essen oder zu trinken zu erhalten. Nach Ablauf dieser Zeit wurden wir wieder aufs Rathaus geschafft, wo wir zunächst auf den Gängen herumstehend und die Hosen haltend 3 Stunden warten mußten. Außer mir warteten noch 13 Personen, darunter ein Mädchen. Endlich wurden wir einzeln in ein Zimmer gerufen, wo der russische Zivilist mit Hilfe eines Dolmetschers ein Protokoll aufnahm. Anzugeben war Name, Beruf, ob der Partei angehört, Dauer der Mitgliedschaft, ob bei SS oder SA, ob Söhne vorhanden und deren Aufenthaltsort.

          Als alle vernommen waren, erhielten wir die abgenommenen Sachen einschließlich des Geldes zurück. Nicht zurück erhielt ich ein Küchenbeil, eine kleine Säge, das Taschenmesser und die Taschenschere. Die Gegenstände wurden als „Waffen“ einbehalten. Leider waren meine Hosenträger nicht zu finden. Als Ersatz wurde mir eine Koppel gegeben.

          Vor dem Rathaus mußten wir antreten, und eskortiert von vier Gewehre tragenden Juden marschierten wir nach Reichenbach. Den Juden machte ihr Amt offensichtlich viel Spaß.

          In Reichenbach wurden wir dem russischen Kommandanten vorgeführt. Friedlich schnarchend lag dieser auf einem Sofa, während wir mit Hilfe einer sich die Nägel polierenden Dolmetscherin von einem Leutnant vernommen wurden. Bald erwachte auch der Kommandant und übernahm die Vernehmung. Mein Zellengenosse wurde von ihm als erster verhört. Nach einigen Fragen sagte er zu diesem: „I ditche domoi!“ (?) was ihm die Dolmetscherin mit „Gehen Sie nachhause“ übersetzte. Der damit Entlassene glaubte aber nicht recht verstanden zu haben und fragte noch einmal. Als es ihm wiederholt wurde, war er so überrascht, daß er in der Verwirrung die Hacken zusammenknallte und die Hand zum Deutschen Gruß emporwarf. Wir waren – und er selbst wohl auch, über diese spontane Freudenbezeugung nicht schlecht erschrocken und erwarteten unliebsame Folgen. Der Offizier tat jedoch so als hätte er es gar nicht bemerkt.

          Als Nächster kam ich an die Reihe. Der Kommandant las sich das in Peterswaldau aufgenommene Protokoll durch und stieß darin auf die Bemerkung, daß ich als Spion zu behandeln sei. Er fragte nach meinen Söhnen, wo und was sie seien, ob ich Parteimitglied gewesen sei und von wann ab und beriet mit der Dolmetscherin, warum wohl in dem Protokoll die Bemerkung aufgenommen worden sei. Ich verstand wohl was sie über mich verhandelten, hütete mich aber dies merken zu lassen, da auch ihnen der Verdacht hätte auftauchen können.

          Nachdem der Kommandant mich eine Weile scharf gemustert hatte, sagte er auch zu mir plötzlich: „I ditche domoi!“ Ich dankte und machte mich schleunigst davon, vorbei an den bewaffneten Juden, denen man die Enttäuschung über unsre Entlassung auf den Gesichtern ablesen konnte.

          Mein Hauswirt hatte sich bereits über mein Verschwinden Sorge gemacht. Bei einem mir vorgesetzten Glase Grog und einer guten Zigarette mußte ich ihm über meine jüngsten Erlebnisse berichten.

          Wieder einmal waren Zettel angeschlagen, daß sich alle Parteimitglieder, Mitglieder der SS, de SA, der Frauenschaft und des Frauenwerks beim Arbeitsamt melden sollen. Wieder wurden registriert: Tag des Eintritts, ob Amtswalter, welches Amt usw. Vor mir ließ sich ein Beamter des Landratsamtes eintragen, der mit erhobener Stimme als Eintrittsdatum den 1.10.1928 und das Amt Zellenleiter angab. Trotz und Stolz klang aus seinen Worten.

          Es gab aber auch solche, die ein falsches, späteres Eintrittsdatum angaben, die sich angeblich geweigert hatten, ein Amt anzunehmen und die überhaupt nur gezwungen worden waren in die Partei einzutreten. Feige Kreaturen, die entweder bisher nur nationalsozialistische Gesinnung geheuchelt hatten oder sich jetzt vor Angst die Hosen vollmachten.

          Nach der Eintragung mußten wir uns wieder bei dem Angestellten melden, der mich zu den Panzersperren geschickt hatte. Er schien eine besondere Vorliebe für mich zu empfinden, denn ich mußte mich setzen. Nachdem ich etwas 1 Std, gewartet hatte, gab er mir auf, mich jeden Morgen 8 Uhr bei ihm zu melden, vorläufig aber solle ich noch weiter warten, es würden wahrscheinlich gleich Transportarbeiter benötigt werden.

          Als dann einmal das dort wieder beschäftigte Frl. Munser hereinkam und mich sitzen sah, fragte sie, warum ich hier warte. Nachdem ich sie aufgeklärt hatte, sagte sie, sie werde meinen besonderen Freund gleich bearbeiten. Dies machte sie nun auf ganz eigenartige Weise. Sie legte ihm den Arm um den Hals, flüsterte ihm etwas ins Ohr und streichelte ihm dabei die Backen. Dann zwinkerte sie mir zu und ging wieder. Nach einer Weile sagte mein auf solch sonderbare Weise bearbeitete Freund, ich solle nachhaus gehen, wenn man mich brauche, würde ich Bescheid erhalten. Ich sah, beim Arbeitsamt hatte man merkwürdige Gebräuche eingeführt.

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          • Acanthurus
            Erfahrener Benutzer
            • 06.06.2013
            • 1657

            #20
            Hallo Helen, ich finde die Auslassung nicht gut. Grüße, A.

            Kommentar

            • dorsch
              Erfahrener Benutzer
              • 24.12.2011
              • 295

              #21
              Hallo, Helen,
              ich auch nicht. Wo dein Großvater ideologisch gestanden hat, ist doch sowieso klar, dass DU nur transkribierst, was er geschrieben hat, auch. Gerade seine Überlegungen, in denen manchmal ein Bemühen um gerechte Sicht bzw. ein Nachdenken über begangene Fehler sichtbar wird, manchmal auch eine Verachtung gegenüber dem Mangel an Charakter all derer, die opportunistisch "immer schon dagegen" gewesen sein wollten, sind doch interessant.

              Kannst du die Überlegungen nicht doch noch nachtragen? - Keine Sorge, ich glaube, niemand hier im Forum wird den altbekannten Fehler machen, den Boten (bzw. die Botin) zu köpfen , wissen wir doch alle, dass es sich hier um die Übertragung und Veröffentlichung eines historischen Dokuments handelt.

              Ich würde mich jedenfalls freuen, auch diese Passage lesen zu können. Gerade im Sinne einer authentischen Sicht erscheint mir das interessant.

              Lieben Gruß
              DorSch
              „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

              Suche nach FN Leidiger in Thüringen.

              Kommentar

              • Helen
                Erfahrener Benutzer
                • 04.02.2010
                • 164

                #22
                Gut, sollte Andi als Moderator anderer Meinung sein, wird er es mich wissen lassen.

                Nachtrag: War unsere Politik richtig?

                Jede Politik ist richtig, die zum Erfolge führt, ganz gleich ob sie vom Terror oder von Humanität diktiert wird. Der Bombenterror hat furchtbares Leid über die deutsche Bevölkerung gebracht, aber er war erfolgreich und die Geschichte wird ihn als richtig und erforderlich zur Erringung des Sieges bezeichnen. Wäre Deutschland Sieger geblieben, so würde er auch in den Feindländern als Mißgriff bezeichnet werden, die Judenverfolgung aber als kriegsbedingt und durchaus erforderlich angesehen werden. Jede mißlungene Politik wird verdammt. Wenn dies jetzt nach dem Zusammenbruch durch Personen geschieht, die nie mit dieser Politik einverstanden waren, so ist dies nur verständlich. Sie durften ihrer Meinung bisher nicht laut Ausdruck geben, ohne sich mehr oder weniger Schwierigkeiten auszusetzen. Feige aber und schimpflich ist das Gebaren derjenigen ehemaligen Pgs, die anscheinend mit größtem Eifer und Fanatismus der Bewegung angehört, alle Maßnahmen der Führung begeistert begrüßt und verteidigt haben, und nun nach dem Scheitern dieser Politik alle den Führer verdammen und ans Kreuz geschlagen wünschen. Das sind erbärmliche Kreaturen, aber deren gibt es leider viele.

                Ich lasse mir den Glauben an Adolf Hitler nicht rauben, daß er das Beste für das deutsche Volk gewollt hat. Vielleicht hätte er in der Wahl der Mittel weniger skrupellos sein können, aber wie ist z.B. England ein so mächtiges Weltreich geworden? Doch nicht durch Humanität. Den Grund dazu legte es durch Seeräuberei und rücksichtslose Unterdrückung fremder Völker. Aber der Erfolg war mit ihm und jede Kritik läßt es kalt. Wer die Macht hat, der hat das Recht. Da aber Hitler der vereinigten Macht mißgünstiger Nationen unterlegen ist, darum ist er im Unrecht, darum war seine Politik falsch, darum gilt er heute als der Verderber seines Volkes. Der viel Gelästerte Dr. Göbbels ist mit seiner Familie gestorben, kühn und unerschrocken wie er gelebt hat. Ihn heute noch in den Dreck zu ziehen ist Leichenschändung. Gleich ihm ist noch so manch anderer von der Weltbühne abgetreten und für seine Überzeugung gestorben. Wenn auch die überlebenden Führerpersönlichkeiten der Rache der Sieger zum Opfer fallen, einmal werden wir die Sieger sein und werden uns daran erinnern wie man gezeigt hat mit den wehrlosen Gegnern umzugehen. Die Idee Adolf Hitlers lebt und wird nicht untergehen, das beweist schon heute manche Einrichtung die bestehen bleibt, wenn auch unter einem anderen Namen.
                -------------
                Ich weise darauf hin, dass es allein die Einschätzung meines Großvaters war, die ich weder verteidigen noch kommentieren möchte, weil es Teil der Geschichte ist. Ich denke, jeder hat heute seine eigene Meinung, die nach späteren Erkenntnissen von der obigen abweicht.
                --------------

                Bei meinem Weggang von Rudelsdorf hatte ich Hanfler versprochen, nachzusehen, was aus seiner Wohnung in Güttmannsdorf geworden sei und ob es ratsam sei wieder zurückzukehren. Drei Wochen war ich bereits wieder in Reichenbach und noch immer hatte ich mein Versprechen nicht eingelöst. Seit meinem üblen Peterswaldauer Erlebnis scheute ich mich außerhalb der Stadt zu gehen und selbst in dieser verließ ich meine Wohnung nur um die unbedingt nötigen Wege zu machen, denn täglich kam es vor, daß man nach dem Ausweis gefragt wurde, daß man von der Straße weg zu irgendeiner unangenehmen Arbeit gepreßt oder gar verhaftet wurde. Immer mehr Polen tauchten auf, die sich gewaltsam Wohnungen verschafften indem sie die bisherigen Inhaber aus denselben verjagten oder in einen Raum zusammendrängten. Viele setzten sich in Geschäften fest, übernahmen dieselben, und die Deutschen durften wohl weiter in denselben arbeiten, mußten aber den Tageserlös abliefern und hatten über ihr Eigentum keinerlei Verfügungsrecht mehr.

                Ich machte mich nun doch einmal auf, um die Verhältnisse in Güttmannsdorf zu erkunden. Die Wohnung Hanflers war demoliert, was auch zu erwarten war, da Hanfler Ortsgruppenleiter gewesen war. Ich sprach mit einigen Nachbarn, darunter mit dem gewesenen Bürgermeister. Alle rieten von einer Rückkehr ab, da in den Nachbardörfern alle zurückgekehrten oder dagebliebenen Ortsgruppenleiter und auch Zellenleiter verhaftet worden waren.

                Ich entschloß mich, am nächsten Tage den 27 km langen Weg nach Rudelsdorf zu gehen um Hanfler den Erfolg meiner Erkundung zu berichten. Da ich soviel wie möglich immer einsame, meist Waldwege ging, kam ich auch unangefochten dort an. Zwei Tage lang blieb ich dort und erlebte ein Unwetter, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Dreistündiges Hagelwetter vernichtete die Feldfrüchte restlos. Ein kleiner Wassergraben wurde zum reißenden Strome, der Häuser wegriß und die Wege völlig unpaßierbar machte. Da die Koppeln jenseits des Wassergraben lagen, mußten die Pferde und Rinder sich selbst überlassen werden. Obwohl die Umfriedungen an vielen Stellen weggerissen waren, konnte nach dem Unwetter festgestellt werden, daß das Vieh noch vollzählig auf den Weiden vorhanden war.

                Dort erfuhr ich auch, daß mein Bruder Kreisbauernführer des Kreises Glatz geworden war. Unangefochten langte ich am dritten Tage wieder in Reichenbach an. Am nächsten Tage rief mich meine Frau aus Habelschwerdt an, ich solle mich sofort mit meinem Bruder in Verbindung setzen, er wolle mir die Verwaltung des herrenlos gewordenen Gutes Mügwitz bei Glatz übertragen. Das kam mir nicht unerwünscht, außerdem konnte ich das mir unangenehme Reichenbacher Pflaster verlassen.

                Ich fuhr also nach Rengersdorf und stellte mich meinem Bruder zur Verfügung. Von ihm erfuhr ich folgendes:

                Der Pächter des Gutes Mügwitz war mit seiner Frau beim Einzug der Russen am 7. Mai von diesen erschossen worden. Angeblich weil er gegen seine ausländischen Arbeiter zu streng gewesen war. Einer von ihnen hatte einige Russen geholt, die das Ehepaar niederschlugen und dann erschossen. Die im Elternhaus lebende verheiratete Tochter, welche die Ermordung ihrer Eltern mit ansehen mußte, war geflüchtet und hielt sich angeblich auf einem Gute bei Breslau auf, Die Erschossenen wurden im Garten notdürftig verscharrt. Die Möbel und das übrige Hausinventar wurden teils zerschlagen teils geraubt, das Vieh, 36 Kühe, 15 Stk. Jungvieh und 8 Pferde fortgetrieben, das Geflügel abgeschlachtet oder von den Arbeitern gestohlen. Vier Wochen hatte sich niemand um das Gut gekümmert, bis auf Veranlassung des Prälaten in Glatz sich die Kreuisbauernschaft desselben annahm. Eigentümer des Gutes war das Katholische Bürgerhospital in Glatz und darum auch das Interesse des Prälaten an demselben.
                Zuletzt geändert von Helen; 14.10.2013, 16:32. Grund: Versehentlich doppelte Einträge gelöscht

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                • dorsch
                  Erfahrener Benutzer
                  • 24.12.2011
                  • 295

                  #23
                  Zitat von Helen Beitrag anzeigen
                  Die Idee Adolf Hitlers lebt und wird nicht untergehen, [...]
                  -------------
                  Ich weise darauf hin, dass es allein die Einschätzung meines Großvaters war, die ich weder verteidigen noch kommentieren möchte, weil es Teil der Geschichte ist. Ich denke, jeder hat heute seine eigene Meinung, die nach späteren Erkenntnissen von der obigen abweicht.
                  --------------
                  Ohja, nun verstehe ich deinen Wunsch nach Auslassung bzw. deutlicher Distanzierung! Wär mir auch so gegangen.

                  Du hast den folgenden Text übrigens versehentlich doppelt eingestellt.

                  Herzlichen Dank für's Lesenlassen, auch der ...'heiklen'... Passage. Überhaupt herzlichen Dank für die viele Arbeit, das Tagebuch hier einzustellen!
                  Lieben Gruß
                  DorSch
                  „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

                  Suche nach FN Leidiger in Thüringen.

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                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #24
                    Danke für deinen Hinweis des doppelten Textes, DorSch, es wäre mir nicht aufgefallen.

                    Ich denke, jeder der die heiklen Passagen liest, versteht die Bedenken, die ich hatte, dies zu veröffentlichen.

                    LG
                    Helen

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                    • borste
                      Benutzer
                      • 27.12.2009
                      • 82

                      #25
                      Hallo,
                      auch ich fand es sehr interessant. So bekam man wirklich einen Einblick in das damalige Leben. Egal, wie dieser jemand dachte. Gibt es noch "Nachschlag"?
                      Liebe Grüße
                      borste


                      ________________________________

                      Meine Forschgebiete (einige)
                      Edler (Hannover, Geestemünde, Hohnhorst, Loccum, Münchehagen)
                      Wittkopp (Hannover, Dörpe, Hohnhorst, Coppenbrügge)
                      Wilke (Schnarsleben, Stendal)
                      Schmidt (Hannover, Duderstadt)
                      Meier (Hannover)

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                      • gudrun
                        Erfahrener Benutzer
                        • 30.01.2006
                        • 3277

                        #26
                        Hallo,

                        ich lese das Tagebuch auch sehr gern. Die Bedenken, die Du hattest, hätten viele Leute. Aber es trifft die damalige Sicht Deines Großvaters.
                        Das gehört zu dem Tagebuch dazu.

                        Viele Grüße
                        Gudrun

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #27
                          Danke für die Ermutigung, ich sehe es auch so, war aber sehr unsicher.
                          ----

                          Am nächsten Tage, am 5.6. fuhr ich mit meinem Bruder nach Mügwitz, wo ich die Verwaltung übernahm. Wie ich hier arbeiten sollte, war mir völlig unklar. Kein Pferd, keine Kuh waren vorhanden, als lebendes Inventar übernahm ich drei Tauben.

                          Sämtliche verschließbaren Räume wie Schüttboden und Keller standen offen, die Türen erbrochen. das Getreide und die Kartoffeln bis auf kleine Reste verschwunden. Auf den Feldern wucherte das Unkraut, Rüben und Kartoffeln lagen noch so da wie die Saat aufgegangen war, 14 Mrg. waren noch unbestellt, die darauf gedachten Kartoffeln waren nicht mehr gelegt worden.

                          Das Herrenhaus war vorläufig unbewohnbar, die Zimmer fußhoch mit zerschlagenen Möbeln, Scherben, zerfetzten Kleidungsstücken, Büchern und Papier bedeckt, die Läufer im Hausflur mit dem eingetrockneten Blute der Erschlagenen durchtränkt. Ein trostloser Anblick, mein Unterfangen ein hoffnungsloses Beginnen,

                          Um zunächst ein Unterkommen zu haben, logierte ich mich bei einer Arbeiterfrau im Dorfe ein. Auf dem Hofe wohnten der Melkmeister und 3 Frauen, deren Männer im Felde standen. Von den Frauen ließ ich mir 2 Zimmer im Herrenhaus säubern und stellte in diese einige noch halbwegs brauchbare Möbel. Beziehen konnte ich die Räume noch nicht, da mir die Wirtschafterin fehlte. Wie gut hätte ich jetzt meine Tochter gebrauchen können und wie schön hätte es Peter hier gehabt. Aber wo weilten sie?

                          Mit den 3 Frauen und etwas 10 Mädchen, die mir auf mein Anfordern die Kreisbauernschaft aus Glatz zugewiesen hatte, versuchte ich nun von den im Unkraut stehenden Rüben noch etwas zu retten. Nachdem 4 Mrg. gehackt und verzogen waren, gab ich es auf, der Rest von 70 Mrg. war nicht mehr zu retten.

                          Inzwischen hatte ich eine Wirtschafterin eingestellt und das Herrenhaus bezogen. Täglich kamen Russen, meist mit Wagen, sackten Getreide ein oder luden Kartoffeln auf und durchsuchten sämtliche Räume nach Sachen, die des Mitnehmens wert waren. Und wenn ich glaubte, nun gibt es wirklich nichts mehr was sie gebrauchen könnten, sie fanden immer noch etwas. Es war unmöglich, diesem Treiben wirksam entgegenzutreten. Mein oftmaliges Einschreiten beantworteten sie meistens mit einem nicht mißzuverstehenden Hinweis auf ihren Karabiner oder mit der Bemerkung, daß es das deutsche Militär bei ihnen noch viel schlimmer gemacht hätte. Ganz besonders taten sich in dieser Hinsicht die Flintenweiber hervor.

                          Im Hausgarten wuchs sehr viel Beerenobst. Bei den Erdbeeren rechnete ich mit einem Ertrage von etwa 3 ltr. Geerntet habe ich ca. 3 Pfd., der Rest wurde unreif, noch ganz grün abgerissen und auch gegessen. Dasselbe geschah mit den Johannis- und Himbeeren. Kirsch- und Pflaumenbäume wurden umgebrochen um die noch unreifen Früchte besser erreichen zu können, Vernichtung und Zerstörung wo man hinsah.

                          Um nicht die für den Haushalt nötige Milch im Dorfe kaufen zu müssen, erstand ich von einem Bauern eine Kuh. Auch 2 Pferde kaufte ich mir. Leider konnte ich sie nicht benutzen, da Geschirre nicht vorhanden und auch nicht zu beschaffen waren. Das Hanfgeld (?) legte ich aus in der Hoffnung, es von irgendeiner Stelle wieder zu erhalten. Auch zwei Zugochsen, dem Gute gehörig, holte ich aus einem Bauernstall heraus.

                          Langsam rückte die Erntezeit heran und mit ihr die Sorge, wie und mit was würde ich wohl das Getreide mähen und einfahren. Den Raps ließ ich mit der Sichel schneiden und mit den 2 Ochsen begann ich die Wintergerste zu mähen. Die Zugtiere jung, noch nicht eingefahren, der Kutscher ein junger Mann aus Glatz, der weder bereits eine Mähmaschine gesehen noch jemals etwas mit Ochsen zu tun gehabt hatte. Ein Nachbar, der unser verzweifeltes Beginnen mit ansah, borgte mir ein paar eingefahrene Ochsen, mit denen es nun etwas besser ging. Als Entgeld gab ich ihm eine Wiese zum Abernten. Mit anderen Nachbarn traf ich Vereinbarungen in der Art, wie ich es in Rußland gemacht hatte. Ich gab ihnen Wiesen mit der Weisung, 1/3 des geernteten Heues in die Scheuern des Dominiums zu fahren, 2/3 gehörten ihnen. Ich konnte mir das leisten, denn so erhielt ich mehr Heu als ich brauchte, und die Wiesen wurden abgemäht ohne daß es mich etwas kostete. Mit rationeller Bewirtschaftung hatte dies Verfahren allerdings nichts zu tun, aber die Not der Zeit mußte dies entschuldigen. Um Klee und Luzerne brauchte ich mich nicht zu sorgen.

                          Die in der Umgegend lagernden Russen nahmen mir die Arbeit ab, ihre Pferde brauchten auch Futter. Das zusammengeraubte Rindvieh weidete in den Koppeln des Gutes, durch die Getreidefelder wurden neue Wege angelegt, zum Mähen des Futters die Maschinen aus dem Hofe geholt und auf den Feldern stehen gelassen. Machtlos mußte ich all dem zusehen, Einsprüche meinerseits wurden mit Hohn zurückgewiesen.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #28
                            Eines Tages kamen 3 polnische Offiziere in den Hof gefahren. Sie sahen sich alle Räumlichkeiten an, besonders die Ställe und das Herrenhaus. Ich befand mich z.Z. auf dem Felde, von wo man mich holen ließ. Die Offiziere sagten mir, daß ich das Herrenhaus binnen ½ Std. räumen müsse, daß hier ein Pferdelazarett eingerichtet würde und Pferde und Mannschaften in ½ Std. eintreffen würden. Ich erhob hiergegen Einspruch und zeigte ein Schreiben vor, nach welchem das Gut vom Polnischen Staate beschlagnahmt sei und über die Räume selbst die polnische Wehrmacht ohne den Bevollmächtigten des Polnischen Staates in Glatz nicht verfügen könne. Einer der Offiziere sprach Deutsch und dieser erklärte mir, daß sie Tierärzte seien, daß sie das von mir vorgezeigte Schreiben bereits kennen und es an ihrem Verhalten nichts ändere. „Wir sind Soldaten“, sagte er, „und ich erwarte, daß Sie der polnischen Wehrmacht keine Hindernisse bereiten.“

                            Das war deutlich und dagegen nichts zu machen.

                            Nach einer knappen halben Std. fuhren die Soldaten in den Hof, etwas 40 kranke Pferde führten sie mit sich. Bei ihrem Anblick verlor meine Wirtschafterin den Kopf. Sie packte ihre Sachen, wobei sie ihre und meine Habe nicht mehr unterscheiden konnte und verschwand spurlos. Nun stand ich allein und das Haus sollte binnen kürzester Frist geräumt sein. Ich packte meine Sachen in Koffer und Säcke regellos durcheinander und schaffte sie in eine leer stehende Arbeiterwohnung. Zur Räumung der Küche, der Vorratskammer und des Kellers holte ich mir Kinder zuhilfe, die alles ebenfalls in diese Wohnung tragen sollten. Wie ich später feststellen mußte, waren viele Lebensmittel und Vorräte verschwunden, die Kinder hatten sie in die elterliche Wohnung geschafft. Auch Wäschestücke und Geschirr hatten diesen Weg genommen. Ich hatte ja bereits eine Menge Wirtschaftsgegenstände angeschafft, das Geld dazu hatten mir mein Bruder und die Bäuerliche Warengenossenschaft vorgetreckt, ebenso hatten sie die Löhnung für die Arbeiter vorschußweise gegeben, mit dem Ertrage der Ernte sollte die Verrechnung erfolgen.

                            Nachdem ich das Zimmer, in welchem nun die herüber geräumten Sachen wüst durcheinander lagen, verschlossen hatte, ging ich nach Glatz, um das Vorgefallene der Kreisbauernschaft zu melden. Mein Bruder suchte sofort den polnischen Landrat auf und legte dort gegen meine Exmittierung Einspruch ein mit dem Hinweis, daß ich ohne die Wohnung und Küche nicht in der Lage sei, das Gut zu bewirtschaften, da auch die aus Glatz täglich kommenden Arbeiter mittags beköstigt werden müßten. Es wurden ihm jedoch keinerlei Zusagen gemacht.

                            Etwa eine Stunde später wurde ich bei der Kreisbauernschaft von Mügwitz aus angeläutet. In gebrochenem Deutsch wurde ich aufgefordert, sofort wieder nach Mügwitz zu kommen und um der Aufforderung mehr Nachdruck zu verleihen wurde hinzugefügt, falls ich etwa die Absicht habe, meinen Posten zu verlassen, würde ich aufgehängt werden. () Ich entgegnete, daß ich gar nicht daran denke, fahnenflüchtig zu werden, daß ich aber eine angemessene Unterkunft fordere.

                            Kommentar

                            • Helen
                              Erfahrener Benutzer
                              • 04.02.2010
                              • 164

                              #29
                              Auf meinem Rückwege kamen mir in der Nähe des Dominiums 2 Herren entgegen gefahren. Bei mir angelangt, hielten sie und fragten, ob ich der Inspektor sei. Als ich dies bejahte, machte mir der eine die heftigsten Vorwürfe, daß ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, um gegen die Ankunft der Soldaten zu protestieren. Dies bestritt ich und erklärte, daß ich nur pflichtschuldigst von dem Geschehen meiner vorgesetzten Dienststelle Mitteilung gemacht habe, wobei ich natürlich gegen den Hinauswurf aus meiner Wohnung Verwahrung eingelegt habe.

                              Der zweite Herr machte mir darauf in polnischer Sprache heftige Vorwürfe, die mir der andere dahin übersetzte, daß im Hofe die größte Unordnung herrsche, indem die Maschinen mitten im Hof zerstreut herumständen. Ich erwiderte ihm daß, wenn er gestern gekommen wäre, er gesehen hätte, daß Maschinen und Geräte alle unter Dach und Fach stehen und daß sie erst heute von den Soldaten in den Hof gestellt wurden um Platz für ihre Wagen zu schaffen. Darauf wurde er freundlicher und entschuldigte sich sogar, daß er im Hofe in Gegenwart der Arbeiter auf mich geschimpft habe. Er teilte mir auch mit, daß ich wieder ins Herrenhaus einziehen könne, aber nur die Parterreräume benutzen dürfe. Auch die Küche dürfe ich wieder benutzen, jedoch würde in derselben auch für die Offiziere gekocht werden. Die Waschküche würde als Mannschaftsküche benutzt werden.

                              Ich fragte noch, mit wem ich eigentlich spreche, worauf er sich selbst als stellvertretender Bezirkslandwirt vorstellte und der Dolmetscher sich als Sekretär des Landratsamtes bezeichnete.

                              Also hatte der Einspruch meines Bruders beim Landrat doch dessen Intervention verursacht. Auf dem Gute angekommen, empfing mich der deutschsprachige Offizier. Ich erwartete eine scharfe Auseinandersetzung, hatte mich aber getäuscht. Er erklärte mir, daß er der Befehlshaber der Abteilung sei, daß ich das Herrenhaus wieder beziehen könne, daß wir hier jetzt nebeneinander leben müßten und daß wir auch gut miteinander auskommen würden, vorausgesetzt, daß von mir und meinen Leuten kein Anlaß zum Gegenteil gegeben werde. Er versprach mir auch zur Einbringung der Ernte Pferde zur Verfügung zu stellen.

                              Ich übersetzte mir seine Rede dahin, daß ich alle Wünsche der Soldaten zu erfüllen und Pferde und Mannschaften zu ernähren habe. Und so wurde es auch, nur in schlimmerem Maße als ich erwartet hatte. Das Lazarett beherbergte zeitweilig bis 140 Pferde, die sämtliche Koppeln kahl fraßen, für die der Klee und die Luzerne nicht nur des Dominiums sondern im Umkreis einiger km abgemäht wurde, für die 48 Mrg. Bohnenhafer geerntet und gedroschen wurde und die das gewonnene Heu restlos verbrauchten.

                              Die aus 30 Mann bestehende Besatzung lebte natürlich von den Kartoffeln des Gutes. Alle von ihnen benutzten Maschinen wie Grasmäher, Getreidemäher, Kartoffelschleuder u. a. wurden infolge unsachgemäßer Behandlung ruiniert, auf dem Felde stehen gelassen und eine andere Maschine vom Gutshofe oder von einem Bauern geholt. Hatten die Russen geplündert, gestohlen, vernichtet, so wurde durch die Anwesenheit der Polen dasselbe Resultat erreicht, nur hieß ihre Tüchtigkeit „Requirieren“ und spielte sich nach den üblichen Gesetzen der Besetzung feindlichen Gebietes ab.

                              Der Kommandant des Lazaretts, ein Tierarzt, war Pole. Die beiden anderen Offiziere waren Russen, hatten bisher in der Roten Armee gedient und waren nun der polnischen Wehrmacht zugeteilt worden. Einer von diesen, der die Funktion eines Apothekers ausübte, war aus Moskau. Mit ihm war ganz gut auszukommen. Er war freundlich und schützte uns öfters vor den Insulten der jetzt allerdings seltener auftauchenden Russen.

                              Der andere war ein mürrischer, fanatischer Vertreter der russischen Idee, der den polnischen Soldaten öfters die heftigsten Vorwürfe über den Mangel an Begeisterung für die russische Wehrmacht und ihre Ziele machte. Die Soldaten waren zum größten Teil Nationalpolen und haßten die Bolschewisten glühend. War doch ihre Heimat von diesen zerstört und ihre Angehörigen von Haus und Hof vertrieben worden. Bei ihrer in Aussicht gestellten Entlassung aus dem Wehrdienst wußten sie nicht, wohin sie sich wenden sollten, wo die Angehörigen weilten und was sie dann beginnen sollten.

                              Sämtlichen polnischen Wehrmachtsteilen waren russische Offiziere zugeteilt, da man die Stimmung der Soldaten kannte und ihnen nicht traute. So hatte auch bei der hier weilenden Abteilung ein Pole das Kommando, war aber in der Ausübung desselben durch die ihm beigegebenen Kameraden äußerst beschränkt, was ich oftmals beobachten konnte. Hatte er mir z. Bl. Pferde zur Arbeit versprochen, so hob der zweite Offizier oft diese Maßnahmen auf und verweigerte sie mir.

                              Meine Wirtschafterin war beim Einzug der Polen geflüchtet und vorübergehend führte mir die Frau eines aus der Wehrmacht bei der Kapitulation entkommenen und hier untergeschlüpften Bankbeamten die Wirtschaft. Dies war aber nur ein Notbehelf, denn sie eignete sich nicht dazu. Wieder wünschte ich mir meine Tochter herbei, von deren Schicksal ich immer noch nichts wußte. Ich bat nun meine bei der anderen Tochter in Habelschwerdt weilende Frau, die Leitung der Wirtschaft zu übernehmen, was sie mir auch zusagte. Sie mußte allerdings die zwei Kinder meiner Tochter mitbringen, da diese beim Bürgermeister als Dolmetscherin beschäftigt war.

                              Zu dieser Zeit erschien auch Frau Krempel, die geflohene Tochter des ermordeten Pächters und nahm hier Wohnung. Sie hatte geglaubt, nun die Leitung des Gutes wieder in die Hand nehmen zu können. Von meiner Anwesenheit wußte sie nichts und war wenig erbaut davon. Sie suchte das Grab ihrer Eltern im Garten auf und es berührte mich eigenartig, zu sehen, wie gleichmütig sie es betrachtete ohne eine Spur von Erschütterung zu zeigen. Sie hat sich in der Folgezeit nie um das Grab gekümmert, die Pflege überließ sie mir und ihrer sie öfters besuchenden Tante. Nie habe ich ein Zeichen von Trauer bei ihr bemerkt, was auch ihren Verwandten oft Anlaß zu bitterer Kritik gab.

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                              • Helen
                                Erfahrener Benutzer
                                • 04.02.2010
                                • 164

                                #30
                                Frau Krempel wollte als einfache Hofefrau arbeiten, da ihre mitgebrachten Absichten nicht durchführbar waren. In Anbetracht ihrer früheren Stellung als Tochter des Hauses hielt ich dies aber nicht für angebracht und bot ihr den Posten als Wirtschaftsgehilfin an. Sie hatte die Prüfung als solche abgelegt und war die rechte Hand ihres Vaters gewesen, also wohl in der Lage, diesen Posten auszufüllen. Sie führte jede Arbeit aus, und da es an Männern fehlte, leistete sie auch Gespannarbeiten.

                                Eines Tages erschien ein russischer Major, der sich als Kommandant von Glatz ausgab. Er forderte die Angabe der angebauten Feldfrüchte und der bereits gemähten und eingefahrenen Getreidearten. Sein Begleiter, ein junger Leutnant, schrieb alles auf. Als ich auf seine Frage nach der Dauer der Ernte 6 Wochen angab, sagte er: „Viel zu lange, viel zu lange, muß fertig sein in 2 Wochen.“ Auf meinen Einwand, daß dies bei der Zahl der zur Verfügung stehenden Gespanne unmöglich war, erwiderte er: „Werde ich sprechen mit polnischem Offizier, werden Sie haben Pferde so viel Sie wollen.“

                                Auf meine Frage, ob er beabsichtige, die Ernte zu beschlagnahmen, hatte er nur ein Lächeln und Achselzucken. Am nächsten Tage trafen 5 Zivilrussen, gewesene Landarbeiter mit Koffern, Harmonika und Guitarre ein. Sie sagten, sie hätten den Auftrag, die Einbringung der Ernte zu überwachen, verlangten ein eingerichtetes Zimmer und Beköstigung. Da sie einen schriftlichen Bescheid oder Ausweis nicht vorzeigen konnten, lehnte ich ihr Verlangen ab. Auch die polnischen Offiziere verboten ihnen den Aufenthalt im Hofe, worauf sie sich in einer Scheune niederließen und auch die nächsten drei Nächte dort schliefen. Einer von ihnen forderte mich auf, mit ihm auf das Feld zu gehen um ihm den Stand der Ernte zu zeigen. Ich weigerte mich und stellte ihm anheim, mich nachmittags auf das Feld zu begleiten, wo er alles Gewünschte sehen könne. Auf sein drohendes Verlangen, ich müsse sofort mit ihm gehen, reagierte ich nicht.

                                Nach dem Mittagessen stellte er sich sofort ein und schloß sich mir an. In ein Taschenbuch notierte er sich jede Fruchtart und die Größe der Felder. Da er kaum schreiben konnte, fiel ihm dies recht sauer. Er drohte mir mit der Ankunft des Kommandanten, der mich sicher aus der Wohnung werfen und ihnen dieselbe zur Verfügung stellen würde. Der Kommandant kam jedoch nicht, auch nicht am zweiten und dritten Tage. Als ich am Abend des dritten Tages vom Felde kam, hatte Frau Krempel den Russen ein leeres Zimmer im Arbeiterhaus zugewiesen und hatte auch einige Möbelstücke zusammengesucht, da ihr vor dem angedrohten Kommandanten bange geworden war. Ich wollte diese Maßnahme nicht rückgängig machen, und das war auch gut so.

                                Am nächsten Tage erschien wirklich der erwartete Kommandant. Es war aber nicht der aus Glatz sondern der Kommandant aus Schwedeldorf, dem auch Mügwitz unterstand, ein Unteroffizier, ein gefährlicher, wüst aussehender Patron, der, so oft ich mit ihm zu tun hatte, stets mit schrecklichen Drohungen um sich warf, wobei er beständig mit seinem Revolver spielte und zur Bekräftigung seiner Schimpfereien auch öfters einige Schüsse abgab.

                                Unter den Schikanen der vier russischen Banditen hatte besonders meine Frau zu leiden. Obwohl sie zu jeder Mahlzeit Fleisch hatten, waren sie nie zufrieden. Jeden Morgen verlangten sie Nudeln in Milch. Wenn sie im Dorfe Gänse oder Hühner gestohlen hatten, mußten diese schon zur nächsten Mahlzeit auf dem Tisch stehen. Als auch nachts gedroschen wurde, mußte für die Arbeiter und natürlich auch für sie um Mitternacht eine Mahlzeit bereitstehen. Besonders einer von ihnen zeichnete sich durch Frechheit und beständige Unzufriedenheit aus. Das Fleisch besorgten sie selbst, zu jeder Mahlzeit brauchten sie 4 bis 5 Pfd. Sie aßen viel besser als wir, bei denen Fleisch eine Seltenheit war, was sie aber nicht abhielt, sich beim Kommandanten über mangelhafte Beköstigung zu beschweren, was diesen zu wüsten Ausfällen gegen uns veranlaßte. Eine schriftliche Beschwerde meinerseits beim Kommandanten von Glatz zeigte keinerlei Ergebnis.

                                Der Anführer von ihnen, Andreas, teilte die Arbeiter und Gespanne ein und war seinem Vorgesetzten, das war der rabiate Unteroffizier, für die schnelle Erledigung der Einbringung der Ernte und den Drusch verantwortlich. Er mußte sich mancher Beschimpfung wegen angeblich zu langsamer Arbeit aussetzen, was ihn wiederum veranlaßte, die Arbeiter anzutreiben, wobei er auch vor Prügel nicht zurückschreckte.

                                So wurde denn gedroschen, Tag und Nacht, das Stroh einfach zur Scheune hinausgeworfen, wo dasselbe ungeordnet liegen blieb und infolge Regens verdarb. Auf sauberes Ausdreschen wurde kein Wert gelegt, nur schnell alles und so viel wie möglich durch die Mähmaschine gejagt. Ich schätze, daß 10 bis 15 % der Körner im Stroh verblieb, was auch die nach dem Regen ergrünenden Strohhaufen erwiesen.

                                Gerste, Roggen und Weizen wurden ausgedroschen, auf Hafer und Bohnen legten sie keinen Wert. Dafür schenkten sie aber den hier liegenden Polen 48 Mrg. noch auf dem Halm stehenden Bohnenhafer (?) zur Selbstwerbung als Entschädigung für das Leihen der Pferde. Als alles Getreide ausgedroschen war, begann man dasselbe einzusacken und abzufahren. Es hieß, 50 % werden beschlagnahmt, 50 % werden als Saatgut usw. belassen. Es gab aber Nachbarn, denen man 60 und 75 % fortgenommen hatte, aber auch solche, denen man nichts belassen hatte. Und so geschah es auch hier, nicht 1 ltr. Saatgut bzw. Brotgetreide blieb auf dem Boden. Meine Proteste lösten nur ein Achselzucken aus.

                                Zur Abfuhr des Getreides wurden Pferde- und Ochsengespanne aus Mügwitz und den benachbarten Dörfern requiriert, bis 20 Wagen standen oft im Hofe und harrten der Beladung. Als unsere Böden leer waren (es handelte sich um 1400 ltr. Roggen und 300 ltr. Gerste) mußten unsere sämtlichen Arbeiter mit auf das Dominium Coritan fahren, um dort das Getreide einzusacken, aufzuladen und in Glatz abzuladen. Vier Tage lang blieb das Gut von sämtlichen Arbeitern entblößt.

                                Endlich kam der Tag, an dem die vier Russen wieder abzogen. Sie hinterließen einen völlig ausgeplünderten Schüttboden auf dem Gute, ausgeraubte Geflügelställe im Dorfe und eine ihren anständigen Ruf verlorene Frau Krempel, den einer ihrer Banditen vernichtet hatte. Ihm war jedoch die geringere Schuld beizumessen, denn der allnächtliche Besuch in ihrer Kammer war ihm denkbar leicht gemacht worden. Sein Abgang hinterließ keine Lücke, ein polnischer Soldat übernahm sofort die Nachfolgeschaft, sich öfters mit einem Offiziere die gern gewährte Gunst teilend.

                                Hier offenbarte sich ein Rätsel der menschlichen Natur, das schwer zu verstehen ist, wenn man bedenkt, daß der begünstigte Russe Landarbeiter auf einem Nachbargute gewesen war, also zu den Menschen gehörte, die den Tod der Eltern verursacht hatten.

                                Auf den Wirtschaften der Bauern im Dorfe tauchten nun Polen einzeln oder in Gruppen oder auch familienweise auf, die sich einfach dort niederließen, die Besitzer aus ihren Räumen verdrängten, die Vorräte und täglichen Einnahmen beschlagnahmten und sich als die Herren und jetzigen Eigentümer aufspielten. Die Bauern durften resp. mußten ihre bisherige Tätigkeit weiter ausüben und bekamen die Beköstigung in meist unzureichendem Maße zugeteilt. Die Kleidungsstücke wurden, soweit die Polen dieselben nicht selbst benutzten, in Glatz auf dem schwarzen Markt verkauft, ebenso Milch, Butter, Fleisch, Eier usw. Eine furchtbare Leidenszeit für die Besitzer begann.

                                Auf den umliegenden Dominien wurden polnische Administratoren eingesetzt und auch in Mügwitz tauchten mehrmals Polen auf mit der Absicht, sich als Betriebsleiter auf dem Gute festzusetzen. Nachdem sie sich aber überzeugt hatten, daß hier für sie kein Geschäft zu machen sei, zogen sie wieder ab.

                                Eines Tages stellte sich bei mir ein junger Pole ein, der mich ersuchte, ihm die Felder zu zeigen. Auf meine Frage wer er sei und in wessen Auftrage er komme, sagte er, daß ihn der Kreislandwirt geschickt habe, der ihm die Verwaltung des Gutes Mügwitz oder Coritan angeboten habe. Er wolle sich nun die Felde ansehen und sich für eins dieser Güter entscheiden. Dies tat er dann so gründlich, daß ich vermutete, daß seine Wahl auf Mügwitz fallen würde. Er ging wieder, um sich auch Coritan anzusehen.
                                Zuletzt geändert von Helen; 21.10.2013, 18:05. Grund: Der 1. Buchstabe des "Ltr." ist eher ein C (von lat. centum „hundert“), also Zentner und nicht Liter - aber 3 Zentner Erdbeeren?

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