Aus dem Tagebuch meines Großvaters - 27 Jahre später

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  • Silke Schieske
    Erfahrener Benutzer
    • 02.11.2009
    • 4400

    #31
    Hallo Helen,

    Das ließt sich wie ein Roman und spiegelt die Erzählungen unserer Omi wieder.

    Sie selber musste beim polnischen Bauern zwangsarbeiten. Von der Frau des Bauern kamen immer die Worte "Wer nicht arbeitet braucht auch kein Essen" Dieses war auf unsere Mutti bezogen, die zu dieser Zeit gerade 2-3 Jahre alt war und noch garnicht arbeiten konnte. Das ohnehin wenige Essen was unsere Omi bekam, teilte sie sich dann mit ihrem Kind.

    LG Silke

    Wir haben alle was gemeinsam.
    WIrsind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.
    Wir haben alle was gemeinsam.
    Wir sind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.

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    • Helen
      Erfahrener Benutzer
      • 04.02.2010
      • 164

      #32
      Hallo Silke, so lese ich es auch. Während des Schreibens bin ich in die Situation vertieft und stelle mir natürlich Fragen. die ich dann aber auch beantworten kann. Warum hat er das alles mitgemacht anstatt in den Westen zu gehen? Der Grund war klar, seine Familie, wenn auch verstreut lebte noch dort. Was sollte er hier allein? Vielleicht gab er auch die Hoffnung nicht auf, wobei ich nicht weiß, wie weit sie reichte.

      Es war eine schwere Übergangzeit für die Deutschen, da haben viele gelitten.

      Silke, deine Omi ist später in den Westen geflohen? Ich bin gespannt, ob "Großpapa" so nannte ihn meine Mutter, noch schreibt, wann er wie geflohen ist. Vorlesen würde mir die Spannung nehmen.

      Herzliche Abendgrüße
      Helen

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      • Silke Schieske
        Erfahrener Benutzer
        • 02.11.2009
        • 4400

        #33
        Hallo Helen,

        Nein, sie kam über das Auffanglager Kirchmöser in den Osten. Sie war froh überhaupt irgendwo angekommen zu sein und blieb hier. So wie wir alle.
        Ursprünglich kam sie aus Elbing in Westpreußen.

        Meine väterlichen Vorfahren kamen aus Schlesien und sie leben alle im Westen.

        LG Silke

        Wir haben alle was gemeinsam.
        Wir sind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.
        Zuletzt geändert von Silke Schieske; 19.10.2013, 16:11.
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        • offer
          Erfahrener Benutzer
          • 20.08.2011
          • 1731

          #34
          Zitat von Silke Schieske Beitrag anzeigen
          ...
          Wir haben alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.
          Ist da was durcheinandergeraten?
          Das hieß doch mal:
          Zitat von Silke Schieske Beitrag anzeigen
          Wir haben alle was gemeinsam.
          Wir sind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.
          This is an offer you can't resist!

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          • Helen
            Erfahrener Benutzer
            • 04.02.2010
            • 164

            #35
            Das wird Silke sicher lesen und korrigieren.

            ---

            Am nächsten Tage inspizierte der polnische Divisionskommandant das hier liegende Pferdelazarett. In seiner Begleitung befand sich eine junge Frau, die anscheinend einen höheren militärischen Rang bekleidete. Beide waren äußerst erstaunt, daß das Herrenhaus außer den Offizieren auch von Deutschen bewohnt wurde. Unsere sofortige Exmittierung wurde angeordnet. Den Offizieren war es sichtlich peinlich, als sie uns den Befehl übermittelten. Da im Leutehaus keine Wohnung für meine Frau und die zwei Kinder vorhanden war, blieb ihr nichts weiter übrig als mit den Kindern wieder nach Habelschwerdt zurückzugehen. Auch für mich war kein Raum da und so hielt ich mich tagsüber im kleinen Zimmer des hier als Arbeiter tätigen Oberinspektors Klaß auf, während ich in der provisorisch eingerichteten Küche auf einem Sofa schlief. Nach einer Woche konnte ich einer Arbeiterin eine Wohnung im Dorfe verschaffen, worauf ich das von ihr verlassene kleine Zimmerchen bezog. Es war eine kümmerliche Unterkunft, aber ich hatte doch nun einen eigenen Raum. Doch solle auch dies nicht lange dauern.

            Kurz darauf kam der junge Mann, der sich die Felder so eingehend besichtigt hatte, und zeigte mir ein Schreiben des polnischen Kreislandwirts, laut welchem er als Administrator in Mügwitz eingesetzt wurde. Damit war meine bisherige selbständige Tätigkeit zu Ende, ich war nur noch ausführendes Organ, mein Posten war nur noch der eines Schaffers. Als 65jähriger alter Beamter mußte ich nun unter diesen 25 Jahre alten Polen arbeiten, oft recht unsinnige Anordnungen ausführen lassen und mich wie ein junger Assistent hin und her schicken lassen.

            Eingehend überlegte ich mir, ob ich unter diesen niederdrückenden Verhältnissen weiter aushalten oder Mügwitz verlassen sollte. Ich hatte aber die Hoffnung, daß der Zustand ein vorübergehender sei, daß die polnische Grenze nie und nimmer westlich von hier gezogen werden könne. Zwar gebärdeten sich die Polen in Stadt und Land vollkommen als die Herren und schienen sich dauerhaft hier niederlassen zu wollen. Die Bewohner ganzer Dörfer wurden vertrieben, ohne daß sie etwas von ihrer Habe mitnehmen durften. Meistens aber wurde dies von den Russen nach 2 oder 3 Tagen wieder rückgängig gemacht, die Bewohner kehrten zurück, aber ihr Eigentum war inzwischen geplündert worden.

            Glatz hatte ganz das Aussehen einer polnischen Stadt angenommen. Die deutschen Firmenschilder waren verschwunden und hatten solchen in polnischer Sprache Platz machen müssen. Die Straßen hatten neue, polnische Bezeichnungen erhalten, in den Geschäften waren polnische Treuhänder eingezogen, die Verkäufer und Verkäuferinnen waren Polen. Auf den Straßen hörte man nur polnisch sprechen, in den Büros der Behörden waren alle Deutschen entlassen worden.
            Die Preise lehnten sich an die in Polen geltenden an. Der Wert der Mark wurde auf ½ Zloti festgesetzt, wodurch die gemachten Ersparnisse wie Butter zerronnen. Ein Brot kostete 50 Zl. oder 100 RM, Milch 23 Zl., eine Schachtel Streichhölzer 4 - 6 Zl.= 8 - 12 RM, 1 Ltr. Weizen 500 Zl., 1 Lt. Rüböl 300 Zl., 1 Pfd. Butter 200 Zl. usw. Wer keine Zloti hatte, und das waren die meisten Deutschen, mußte mit Mark zahlen, also das Doppelte.

            Zur Hoffnung, daß dieser polnische Spuk eines Tages wieder verfliegen würde, gehörte allerdings ein starker Glaube. Aber den hatte ich, obwohl mir eine Begründung dafür schwer gefallen wäre.

            Der Administrator wohnte vorläufig im Dorfe, hielt sich aber tagsüber in meinem Zimmer auf. Bald besuchten ihn Kollegen und Geschäftsleute, die er stets bewirtete. Dies alles spielte sich in meinem Zimmer ab, ein höchst unerfreulicher und störender Zustand, der sich noch verschlimmerte, als seine Frau aus Warschau hier eintraf.

            Ich habe bereits gesagt, daß ich mir zu Anfang meiner Tätigkeit in Mügwitz eine Kuh gekauft hatte. Eine der ersten Maßnahmen des Administrators war, diese zu verkaufen, da sie angeblich zu fett war. Mein Einspruch dagegen wurde mit der Bemerkung abgetan, im demokratischen polnischen Staate gäbe es kein Eigentum. Sein ganzes Sinnen und Trachten war nur darauf gerichtet, wie mache ich Zloti? Durch Vermittlung der poln. Kreislandwirtschaft beschaffte er Saatgut. Als ausgesät schrieb er viel mehr auf als wirklich verbraucht worden war, die so ersparte Menge verkaufte er. In Neurode ließ er sich eine Ölpresse bauen. Mit Recht sagte er sich, daß mit Öl viel Geld zu machen sei. Aus Raps wurde nun Öl gepreßt, das für 300 Zl. Pro Ltr. reißenden Absatz fand.

            Eines Morgens waren die beiden von mir gekauften Pferde verschwunden, sie waren gestohlen worden. Da der Administrator am nächsten Tage nach Warschau fuhr, kam er in den Verdacht, die Pferde heimlich verkauft zu haben und den Erlös nun in Sicherheit gebracht zu haben. Ich selbst glaubte nicht daran, denn vieles sprach gegen eine solche Annahme.

            Wie bereits gesagt, war mein Bruder Kreisbauernführer geworden. Bei der Übernahme der behördlichen Tätigkeit war auch eine polnische Kreisbauernschaft eingerichtet worden. Wohl bestand die deutsche weiter, aber ihre Tätigkeit wurde durch das Bestehen der analogen polnischen Einrichtung illusorisch gemacht und wurde aufgegeben, als der Leiter derselben, mein Bruder nebst Frau, Tochter und Schwiegersohn von den Polen verhaftet wurden. Man warf ihm vor, mittels eines Senders mit Partisanen in Verbindung gestanden zu haben. So unsinnig diese Anklage auch war, mußte sie doch herhalten um ihn und seine Existenz zu vernichten. Nach 2 Monaten wurden seine Frau, Tochter und Schwiegersohn entlassen, während er, als ich 1 Jahr später Schlesien verließ, immer noch festgehalten wurde. Man hielt ihm ein Bild seines Sohnes vor, der Ritterkreuzträger war, und schlug unbarmherzig auf ihn ein. Alle Bemühungen maßgebender Persönlichkeiten um seine Befreiung scheiterten. Edle, polnische Nation!

            Als seine Frau wieder nachhaus kam, fand sie die Wohnung geplündert vor, die Gärtnerei war inzwischen von einem Polen übernommen, 30.000 RM bares Geld gestohlen worden. Jede Mitarbeit wurde ihr verboten, kaum daß sie und die Kinder den nötigen Essbedarf aus der Gärtnerei erhielt. In der Folgezeit benahm sich der Pole gegen sie derart rüpelhaft, daß sie es vorzog, mit den Ihren das Feld zu räumen und sich in Wölfelsgrund eine andere Unterkunft zu suchen. Damit war alles verloren, Haus und Hof, Vieh, ein gut gehendes Geschäft, eine sichere gewinnbringende Existenz vernichtet.

            Der zu seiner Entlastung von meinem Bruder eingestellte Obergärtner machte mit dem fremden Eindringling gemeinsame Sache und erklärte sich gegen meine Schwägerin, ein gemeiner verräterischer Schuft, dem seine Handlungsweise nicht vergessen werden wird und für den der Tag der Abrechnung kommen wird, kommen muß.

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            • Helen
              Erfahrener Benutzer
              • 04.02.2010
              • 164

              #36
              Jetzt kommt wieder ein Kapitel, in dem er seinen philosophischen Gedanken freien Lauf lässt. Ehrlich gesagt, hat mich das tief berührt.

              ---

              Wenn man mit den Polen über all diese Brutalitäten und Übergriffe sprach, so hörte man immer wieder das Wort: „Das haben wir von euch gelernt, das habt ihr uns in Polen vorgemacht, nur waret ihr noch viel grausamer, habt uns nach Deutschland in die Sklaverei verschleppt, habt unsere Angehörigen gemartert und oft ermordet.“

              Schon früher hatte ich solche Äußerungen aus deutschem Munde gehört, habe sie aber als Verleumdungen und Hetzereien nicht sozialsozialistischer Kreise bekämpft und scharf zurückgewiesen. Und heute frage ich mich, bin ich denn mit Scheuklappen herumgelaufen, habe ich nicht die Beweise dafür täglich vor Augen gehabt? Habe ich nicht täglich die halbverhungerten Gestalten im Hofe des Arbeitsamtes gesehen, die stumpfsinnig und teilnahmslos dort herumstanden und lagen, die ohne Rücksicht auf Familienzugehörigkeit weiter geschickt wurden?

              Habe ich die Erzählungen der nach dem Osten als Werber entsandten Kollegen von ihrer dortigen Arbeitsweise gedankenlos angehört ohne darüber nachzudenken? Hat mir nicht ein Kamerad, mit dem ich an einem Tisch gearbeitet habe erzählt, wie er als Werber arbeitet? Daß die Dörfer umstellt und alle arbeitsfähigen Bewohner, ganz gleich ob Mann oder Frau, Junge oder Mädchen, Besitzer oder Arbeiter zur nächsten Station getrieben, verladen und nach Deutschland geschickt wurden? Daß Widerspenstige erschossen wurden? Daß er dort Pferde, Kühe, Schweine und Geflügel besitze und diese von Polen betreut werden müssen, daß er wöchentlich große Pakete an seine Frau in Reichenbach schicke, daß er mir selbst Butter schenkte? War dies etwas anderes als die Polen jetzt hier bei uns machten?

              Und wie war es mit den zaghaften Andeutungen der eingezogenen und auf Urlaub kommenden Arbeitskameraden? Sagten sie nicht alle gleichlautend: „Vieles Furchtbare, das ich gesehen habe, will und darf ich nicht erzählen.“ Damals glaubte ich immer, sie meinen vom Feinde verübte Grausamkeiten. Heut weiß ich, und ist mir von glaubwürdigen Heimkehrern bestätigt worden, daß es sich um von uns verübte Scheußlichkeiten handelte.

              Ich las die von den Russen herausgegebene Zeitung „Deutsche Zeitung“ und verfolgte den Nürnberger Prozeß gegen die sog. Kriegsverbrecher. Da die Zeitung von Russen herausgegeben wurde, wußte ich wohl wie das Gelesene zu verstehen war. 90 % strich ich als übertrieben ab und betrachtete es als rachsüchtige Propaganda. Es wurden auch die Vorgänge im K.Z.Lager Dachau verhandelt. Der Administrator war in Dachau gewesen und von den Amerikanern befreit worden. Oft haben wir über seine dortigen Erlebnisse gesprochen, die er mir sachlich und ohne Haß schilderte. Nicht alle, aber viele der im Prozeß erhobenen Beschuldigungen stellte er als richtig hin, bestätigte auch die Existenz der berüchtigten Gaskammern und gab derartig sachliche Schilderungen derselben, daß ich unmöglich an erfundene Phantasien glauben konnte. Obwohl alles in mir sich sträubte an so etwas zu glauben, zu denken, daß wir solche Mittel zur Vernichtung unserer Feinde angewandt haben, waren die Beweise doch so überzeugend, daß ich mich vor ihm tief schämte. Waren solche Mitel nötig um den Sieg zu erringen? Und da wir ihn nicht errungen haben, muß sich dies alles nicht furchtbar rächen?

              Man kann wohl sagen, daß die Feinde ebensolch große Grausamkeiten verübt haben. Die durch den Bombenterror Umgekommenen zählen nach (?) Millionen. Aber das waren Kriegshandlungen, die auch wir angewendet haben soweit es unsere Mittel erlaubten. Und die Atombombe, deren Anwendung uns ein unerklärliches Geschick versagte, wäre deren Wirkung nicht um vieles furchtbarer gewesen als der schlimmste Bombenterror? Man kann nicht darüber nachdenken ohne irre zu werden über Recht oder Unrecht. Ist jedes Mittel erlaubt um einen Krieg zu gewinnen? Ich möchte „ja“ sagen, aber ein inneres Widerstreben sagt „nein“. Sind die Erschießungen wehrloser Menschen, die Vernichtung in Gaskammern, die Ausrottung der Bewohner des Warschauer Gettos, die Tötung der Frauen und Kinder in Dresden durch amerikanische Bomben entschuldbare Kriegshandlungen oder Verbrechen? Hier wird der Geist irre und ich hätte das große kulturelle deutsche Volk so gern frei von Schuld gewußt, aber die Tatsachen lassen dies nicht zu.

              Niemals war das Wort „Wer die Macht hat, hat das Recht“ zutreffender als jetzt. Der Sieger ist im Recht, der Unterlegene ist der Verbrecher, der auf die Nürnberger Anklagebank gesetzt wird. Die Richter triefen vor Moral und Menschlichkeit, haben niemals Grausamkeiten verübt, haben nur über Nagasaki die von uns erfundene Atombombe abgeworfen, aber das war ja nötig um die Friedensstörer zu bestrafen, um den Frieden herbeizuführen.

              Nach dem ersten Weltkrieg wurde der Mörder des oesterreichischen Thronfolgers, der Student Princip, als Held gefeiert, in Sarajewo wurde ihm ein Denkmal gesetzt. Nach dem Anschluß Oesterreichs ans Reich wurde der Mörder des oesterreichischen Landeskanzler Dollfuß aus der Ecke des Friedhofs, in die man die Gehenkten verscharrt hatte, ausgegraben und in feierlichem Begräbnis als heldenhaften Vorkämpfer des Anschlußgedankens beigesetzt. Waren dies nun Mörder oder waren es Helden? Was ist hier Recht und was Unrecht? Um diese Frage zu lösen muß man wieder zu dem Wort „Wer die Macht hat, hat das Recht“ greifen, ganz gleich, ob diese Lösung befriedigt oder nicht.

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              • Silke Schieske
                Erfahrener Benutzer
                • 02.11.2009
                • 4400

                #37
                Danke, das kommt davon wenn man zwischen Tür und Angel schreibt

                LG Silke

                Wir haben alle was gemeinsam.
                Wir sind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.

                Zitat von offer Beitrag anzeigen
                Ist da was durcheinandergeraten?
                Das hieß doch mal:

                Wir haben alle was gemeinsam.
                Wir sind hier alle auf der Suche, können nicht hellsehen und müssen zwischendurch auch mal Essen und Schlafen.

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                • Helen
                  Erfahrener Benutzer
                  • 04.02.2010
                  • 164

                  #38
                  Im September wurde das Pferdelazarett nach Hirschberg verlegt. Da das Herrenhaus nun wieder frei war, bezog der Administrator 3 Zimmer desselben. Auch Klaß und ich richteten uns je ein Zimmer ein. Endlich waren wir aus der erdrückenden Enge heraus, wenn auch die Einrichtung recht viel zu wünschen übrig ließ. Doch lange sollten wir uns dieses angenehmen Wohnens nicht erfreuen.

                  Wieder einmal war der Administrator mit Frau nach Warschau gefahren, diesmal um sein kleines Kind nachzuholen. Wir waren dabei, den letzten Schlag Weizen einzusäen, als ich in den Hof geholt wurde. Dort fand ich einige polnische Offiziere vor, welche die Ställe besichtigten und mir mitteilten, daß gleich 150 Stk. Kühe eintreffen würden, die hier untergebracht und verpflegt werden sollten. Meine Einwendungen, daß hier Wassermangel sei und außerdem die Maul- und Klauenseuche herrsche, wurden gar nicht angehört. Eine halbe Stunde später wurden zwar nicht 150, aber 58 Kühe angetrieben. Drei Soldaten blieben zur Beaufsichtigung der Betreuung der Tiere hier und schlugen ihr Quartier in einem großen Zimmer des Herrenhauses auf. Sie erzählten, daß die ganze Bewirtschaftung des Gutes nun von ihnen übernommen würde und sämtliche deutsche Personen das Gut verlassen müssen. Da schon so manche Androhung nicht eingetroffen war, hielt ich auch dies für Redereien der Soldaten um uns zu schrecken.

                  Anderntags, an einem Sonntag, erschienen sie mit dem Bürgermeister in meinem Zimmer und dieser forderte mich auf, das Gut bis nachmittags 4 Uhr zu verlassen. Ich könnte mir im Dorfe, in Glatz oder auch in Breslau eine Wohnung suchen, die Betten hätte ich dazulassen. Ebenso hätten sämtliche deutsche Arbeiter das Gut sofort zu verlassen. Die Schlüssel wurden mir abgenommen.

                  Während nun die Arbeiter ihre Sachen auf Wagen verluden um im Dorfe irgendwo unterzukommen, packte auch ich meine mir noch verbliebene Habe, die ich in 2 Koffern unterbrachte. Noch lange vor Ablauf der mir gesetzten Frist drängten die Soldaten auf Beschleunigung. Als ich mit den Koffern das Haus verlassen wollte, zwang mich ein Soldat zur Hergabe des einen Koffers. Ich mußte den Inhalt ausschütten, den ich in einem Sack verstaute. Die Frage war nun, wohin mit den Sachen, und wohin mit mir selbst. Vor derselben Frage stand Klaß. Ich entschloß mich, die Sachen bei einem Besitzer auf der Halben Meile einzustellen, und ein Nachtquartier erbat ich auf Schloß Marly, dort, wo ich vor 35 Jahren meine erste Stelle als Inspektor inne hatte. Frau Kellner, die Tochter meines damaligen Chefs nahm mich gern auf und auch Klaß fand für diese Nacht dort eine Unterkunft.

                  Am anderen Morgen machte ich mich auf den 22 km langen Weg zu meiner Tochter in Habelschwerdt. Die Bahn mochte ich nicht benutzen, denn erstens war es ungewiß, ob der Zug überhaupt fuhr und zweitens war man auf den Bahnhöfen immer allerhand Belästigungen ausgesetzt. Meine Frau und meine Tochter hatten den größten Teil ihrer Wohnung mit allem was sich darin befand, dem Prokurator der Habelschwerdter Miliz abtreten müßen und hausten in einem kleinen Zimmer eng zusammengepfercht, und nun kam ich auch noch dazu und half, ihre kargen Vorräte mit aufzuzehren. Bisher hatte ich ihnen öfters mit Lebensmitteln aushelfen können, das fiel nun weg, stattdessen war jetzt ein Esser mehr.

                  Dieser Zustand war mir äußerst peinlich, weshalb ich mich nach einer Woche entschloß, wieder nach Mügwitz zu gehen, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse dort entwickelt hatten, denn an eine Bewirtschaftung des Gutes durch die Soldaten konnte ich nicht glauben. Außerdem besaß ich noch die Wirtschaftskassen und wenn es auch nur 111 Zloti, also wenige Pfennige waren, so mußte ich sie doch dem Administrator, der ja inzwischen wieder zurückgekehrt sein würde, abliefern.

                  Auf dem Gute fand ich alles so vor, wie es vordem gewesen war. Klaß wohnte wieder in seinem Zimmer im Herrenhaus und die Arbeiter hatten ihre Wohnungen wieder bezogen und arbeiteten wie früher. Der Administrator hatte die Leute zurückgeholt und leitete die Bewirtschaftung selbst und trotzte dem Protest der Soldaten die damit drohten, daß der russische Kapitän, dem sie unterstanden, in den nächsten Tagen kommen und das Gut von den Leuten samt dem Administrator säubern werde.

                  Für mich war weder ein Zimmer noch eine Schlafgelegenheit vorhanden und in Anbetracht der noch gänzlich ungeklärten Lage ging ich nach Habelschwerdt zurück.

                  Nach einer weiteren Woche war ich wieder in Mügwitz, traf aber noch dieselben Verhältnisse vor, und wieder kehrte ich nach Habelschwerdt zurück. Drei Wochen war ich nun bereits dort, als ich den Entschluß faßte, abermals nach Mügwitz zu gehen und unter Umständen dort zu bleiben.

                  Es hatte sich nichts geändert. Ich suchte mir eine zerfallene Bettstelle, nagelte sie zusammen und stellte sie in das von Klaß bewohnte Zimmer. Einen Strohsack fand ich auch. Einen Sack füllte ich mit Stroh, das war mein Kopfkissen. Nachts entkleidete ich mich nur halb, der Mantel diente als Decke. Unter den ironischen und hämischen Bemerkungen nahm ich meine Tätigkeit mit Zustimmung des Administrators wieder auf.

                  Die Wochen vergingen, es wurde Weihnachten, das Jahr 1946 begann.

                  Sieben Monate war ich nun schon hier. In diesen sieben Monaten hatte ich nichts verdient, hatte nur für die Beköstigung gearbeitet. Während der ersten Monate, als ich noch selbständig wirtschaftete und die Ausgaben von meinem Bruder, der Bäuerlichen Warengenossenschaft und von mir selbst bestritten wurden, hatte ich für die Arbeiter gesorgt und gedacht, aus den Einnahmen der Ernte würde ich mich schon schadlos halten. Es war anders gekommen, weder mein Bruder, noch die Warengenossenschaft, noch ich haben etwas erhalten.

                  Ich setzte mich mit dem Kuratorium des Bürgerhospitals als mit dem eigentlichen Besitzer des Gutes in Verbindung und erreichte einen Beschluß, nachdem ich für die Arbeiter wöchentlich 300 RM und monatlich 300 RM für mich erhalten sollte. Weil aber das Gut vom polnischen Staate beschlagnahmt und unter polnische Leitung kam, blieb es bei dem Beschluß, eine Zahlung erfolgte nicht. Der Geldmangel machte sich mir empfindlich bemerkbar. Wenn auch an größere Einkäufe nicht zu denken war, so mußten doch kleinere, tägliche Bedarfsartikel angeschafft werden. Ich war gezwungen, Mark gegen Zloti einzuwechseln. Ich wechselte noch günstig, 1 Mark gegen 1 Zloti, aber wenn zB. Ein Paar Schuhbänder 10 Zloti kosteten, so kann man sich einen Begriff davon machen, wie schnell die Zloti abnahmen.
                  Zuletzt geändert von Helen; 20.10.2013, 17:55. Grund: Text nachgetragen

                  Kommentar

                  • Helen
                    Erfahrener Benutzer
                    • 04.02.2010
                    • 164

                    #39
                    Im November war ich 65 Jahre alt geworden, ab 1. Dez. hätte ich unter normalen Verhältnissen Angestelltenrente erhalten. In den von Russen und Polen besetzten Gebieten gab es natürlich so etwas nicht. Wohl hörte man, daß im Westen bereits alles seinen geregelten Gang ginge, daß die Mark ihren Wert behalten habe, daß die Lebensmittelkarten regelmäßig beliefert werden und auch Renten gezahlt würden. Ob dies aber alles zutraf, wer wußte dies?

                    Zuviele Gerüchte waren im Umlauf, die sich zum größten Teil als falsch erwiesen. Wie oft wollte man durch Radio gehört haben, an diesem oder jenem Termin müßten die Polen Ndr. Schlesien räumen. Die Termine vergingen, und immer mehr Polen trafen ein. Trotzdem wurde jeder neue angesagte Termin geglaubt. In den Städten wurden die Wohnungen mit allem was sie bargen beschlagnahmt, die Bewohner auf die Straße gesetzt, als Bettler suchten sie irgendwo ein notdürftiges Unterkommen. Drei bis vier Familien hausten zusammengepfercht in einem Raume. In den umliegenden Dörfern suchten sie irgendetwas Eßbares zusammen, meist aber ergebnislos, denn in den Höfen und Wirtschaften saßen ja Polen. Um leben zu können, wurden Schmuckstücke, Kleider oder was man sonst gerettet hatte, verkauft und dafür Lebensmittel gekauft oder eingetauscht. In den Geschäften war alles zu haben, aber wer konnte die Phantasiepreise bezahlen? Die wenigen Menschen, die einer Arbeit nachgingen, erhielten dafür entweder nichts oder so wenig, daß dies zu den Lebensmittelpreisen in lächerlichem Gegensatz stand.

                    Meine Tochter erhielt für ihre Tätigkeit als Dolmetscherin monatlich 250 Zloti. Miete zahlte sie 120 Zloti, blieben für Beköstigung und Kleidung 130 Zloti. Ein Pfund Butter kostete aber 200 Zloti, 1 Brot 50 Zloti. Meine Frau mußte ins Krankenhaus, sie wurde operiert. Die Kosten betrugen pro Tag 40 Zloti, lächerlich wenig, aber woher sollten täglich 40 Zloti kommen?

                    Kurz nachdem ich die Verwaltung übernommen hatte, hatte ich mir ein Ferkel gekauft. Es war in einem gut versteckten Stall untergebracht und hatte alle bisherigen Plünderungen überstanden. Eine Entdeckung war aber nur eine Frage der Zeit, und ich entschloß mich daher, es zu Weihnachten zu schlachten und nach Habelschwerdt zu schaffen. Zwar wog es erst knapp 2 Ctr., aber ich dachte, besser ein kleines Schwein als vielleicht gar kein Schwein. Ich erbat mir vom Administrator die Schlachterlaubnis, der sie unter der Bedingung erteilte, daß ich die Hälfte des Schweines unter die Arbeiter des Gutes verteile, da ich als Deutscher die Berechtigung zur Haltung eines Schweines gar nicht habe. Notgedrungen willigte ich ein, und so fand die Schlachtung nachts in der Wohnung des Oberschweizers statt.

                    Als wir beim Wellfleisch saßen, klopfte es scharf an der Tür. Wir öffneten nicht gleich, da rief es schon auf polnisch: „Wenn nicht geöffnet wird, schlagen wir die Tür ein.“ Es blieb uns nichts weiter übrig als den ungebetenen Besuch hereinzulassen. Es waren zwei unserer polnischen Soldaten. Sie forderten den Schweizer auf, das geschlachtete Schwein in ihr Zimmer zu schaffen. Mein Einspruch blieb unbeachtet, der anwesende Administrator verhielt sich schweigend.

                    Hier war Verrat im Spiele, denn die Soldaten hatten von der Schlachtung nichts gewußt, kamen aber genau zur richtigen Zeit, um das Schwein in Empfang zu nehmen. Im Verdacht hatte ich den Oberschweizer Am nächsten Morgen sprach ich nochmals mit den Soldaten, die nun erklärten, das Fleisch nur gerecht verteilen zu wollen. Bei der nun folgenden Verteilung erhielten der polnische Arbeiter ein Viertel, der Schweizer etwa 10 kg, die Arbeiterfrauen je 1 kg und ich selbst 5 kg. Eine Hälfte des Schweines behielten die Spitzbuben für sich. Sie fuhren nach Glatz, angeblich in die Kaserne, ich nehme aber an, daß sie das Fleisch verkauft haben. Wenn ich nun auch nur 5 kg Fleisch nach Habelschwerdt schaffen konnte, so war dasselbe dort doch eine willkommene Bereicherung des so dürftigen Küchenzettels.

                    Am 8 Januar wurde Klaß nach Glatz geschickt um Getreide zu holen. In der Stadt erkannte ihn einer seiner früheren polnischen Arbeiter. Dieser lief zur Miliz und zeigte an, daß er von Klaß geschlagen worden sei, wovon die Spuren noch heute sichtbar seien. Klaß wurde nun in der Stadt aufgesucht, und vom Wagen herab verhaftet. Man zog ihm die Stiefel aus und führte ihn in Strümpfen ins Gefängnis.

                    Anderntags sprach der Administrator mit der Miliz und gab zu bedenken, daß auf die Aussage eines einzelnen Menschen doch wenig zu glauben sei. Ihm wurde erwidert, daß bereits 5 Zeugen zur Stelle seien.

                    Im Verlaufe der nächsten Tage nahm Frau Krempel durch Vermittlung einer Freundin mit dem Kommandanten der Miliz, einem Juden, Verhandlungen auf um Kloß loszubekommen. Sie ließ ihm Schmucksachen übergeben, sollte aber noch zwei Steppdecken nachliefern. Falls 2 oder 3 SS-Männer namhaft gemacht würden, sollte Klaß sofort ohne weitere Zahlungen freigelassen werden.

                    Als die Freundin wieder einmal beim Kommandanten vorsprach um die Verhandlungen fortzusetzen, wäre es ihr fast übel ergangen. Man hatte inzwischen festgestellt, daß Klaß selbst SS-Mann war und unter diesen Umständen war von einer Freilassung nicht mehr zu reden. Fast hätte man sie selbst festgesetzt, weil sie sich für einen SS-Mann eingesetzt hatte. Der bereits ausgehändigte Schmuck war verloren, und man dachte auch die Personen festzunehmen, die den Schmuck geliefert bzw. die Klaß bei sich aufgenommen hatten. Für beides kam Frau Krempel infrage, die deshalb den Gedanken erwog, für eine Zeitlang zu verschwinden.

                    Für Klaß war nun eine furchtbare Zeit angebrochen. Der Kommandant hatte angeblich selbst durch die SS schwer gelitten und war von einem furchtbaren Haß gegen dieselbe erfüllt. Wenn schon mein Bruder so schlimm behandelt wurde, dessen ablehnende Haltung gegenüber dem Nazismus doch bestimmt festgestellt worden war, wie wird es erst Kloß ergangen sein? Würde er überhaupt noch einmal lebend herauskommen?

                    Wie oft wurden aus Brettern zusammengeschlagene Kästen aus dem Gefängnis zum Friedhof geschafft und dort begraben. Niemand wußte, wen sie bargen, kein Angehöriger erfuhr jemals etwas über den Verbleib des verhafteten Mannes, des Bruders oder Sohnes, er war verschwunden, vergebens warteten die Frauen oder die Mutter auf die Freilassung und Heimkehr des schon so lange Erwarteten.

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                    • Helen
                      Erfahrener Benutzer
                      • 04.02.2010
                      • 164

                      #40
                      Der Januar brachte lang anhaltendes Frostwetter. Quälend war der Gedanke, daß meine Tochter und Peter keinerlei Wintersachen bei sich hatten. Sie hatten dieselben teils in Reichenbach teils in Volpersdorf zurückgelassen, von wo sie sich zuerst zu mir nach Mügwitz und später nach Habelschwerdt geschafft hatte. In der Eile hatten sie nur die nötigsten Sommersachen und wohl nur 1 Paar Schuhe zusammengerafft. Peters Sachen, besonders seine Schuhe fand ich fast vollzählig in Volpersdorf vor. Um den lieben kleinen Kerl hatte ich große Sorge. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, wo sie sich aufhielten, ob sie bei Bekannten Unterschlupf gefunden hatten und ob sie nicht Hunger leiden müssen. Zwar habe ich versucht, mich mit meiner Tochter brieflich in Verbindung zu setzen, habe durch die Caritas an die mutmaßlichen Stellen ihres Aufenthaltes geschrieben, aber ob die Briefe angekommen sind und ob sie sich überhaupt an einer dieser Stellen befand, das wußte ich nicht.

                      Ich konnte mir wünschen, daß es ihr und Peter besser ergehen möge als mir, daß es nicht nutzlos gewesen sei, daß sie mich in der Stunde der Not, die uns hätte zusammenschmieden müssen, verließ und ihr Schicksal mit dem mir fremder Menschen verband. Die Erkenntnis dessen war bitter für mich. Wenn sie aber dadurch sich und Peter ein erträgliches Los geschaffen hat, ein leichteres als sie hier erwartet hätte, so will ich mich damit gern abfinden und froh sein, daß sie so gehandelt hat. Sie stand unter dem Einfluß des Kreises in welchem sie arbeitete, der ihren Optimismus auf einen glücklichen Kriegsausgang stärkte, war innerlich von mir, der ich schon lange das Unglück kommen sah, abgerückt und hielt mich für einen Schwarzseher und Defätisten. Der plötzliche Zusammenbruch aller Hoffnung hat sie wohl auch kopflos gemacht. Hinzu kam, daß einer ihrer Mitarbeiter, den sie besonders schätzte, ihr die Gelegenheit zur Flucht in das amerikanische Gebiet bot und sie glaubte, daß auch ich mich noch würde aus den Russenklammern heraus retten können.

                      Wie schon gesagt, ich hoffte und wünschte nur, daß sie ihr Ziel erreicht und ein menschenwürdiges Dasein gefunden haben möge. Mir war dies nicht gelungen.

                      Selten verging ein Tag, der nicht neue Aufregung gebracht hätte. Sei es ein Zusammenstoß mit dem Administrator oder einem polnischen Soldaten oder eine neue uns Deutsche demütigende Anordnung der poln. Behörde oder eine im Dorfe vorgekommene Plünderung, die uns auch ständig drohte oder auch nur eins der täglichen wilden Gerüchte von nahendem Unheil. Die Sorge um meine letzte Habe hielt mich in beständiger Aufregung. Mein Geld und einige Wertsachen hatte ich an verschiedenen Stellen versteckt. Mehrmals wechselte ich die Verstecke, da immer wieder Bedenken gegen deren Sicherheit bei mir auftauchten. Selbst die Tagebuchblätter hatte ich hinter einem Balken in der Scheune versteckt, da mit Haussuchungen zu rechnen war.

                      Mit Hangen und Bangen verging ein Tag nach dem anderen und jeden Abend war ich froh, wenn der Tag ohne größere Unruhe vorbei war, aber die Sorge um das Geschehen des nächsten Tages begleitete mich beim Zubettgehen.

                      Anfang Februar erhielt ich von meiner Tochter aus Habelschwerdt einen Brief, in welchem sie mich aufforderte, sofort zu ihr zu kommen und sämtliche Ausweise, besonders die über meine Tätigkeit in Rußland mitzubringen.

                      Was sollte dies nun wieder bedeuten? Was wollte man von mir? Nichts Gutes ahnend fuhr ich zu ihr und fand sie in verzweifelter Stimmung vor. Sie war von der GPU (russ. Geheimpolizei, jetzt KGB) vorgeladen und stundenlang verhört worden. Es war aufgefallen, daß sie die russische Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrschte. Daraus folgerte man, daß sie russische Emigrantin sei. Daß sie 1931 auf ganz legalem Wege von Leningrad nach Deutschland zu mir gekommen war, glaubte man ihr nicht. Man sagte ihr, eine Ausreise aus Rußland sei verboten und nicht möglich gewesen. Sie sei Russin und müßte nach Rußland zurückkehren. Sie war auch über mich befragt worden wobei sie auch meine frühere Parteizugehörigkeit angeben mußte. Schließlich war sie entlassen worden mit der Weisung, sich zur Rückreise bereit zu halten und mich aufzufordern, sofort vor der GPU in Habelschwerdt zu erscheinen.

                      Ich kann wohl sagen, daß mir bei dieser Kunde nicht ganz wohl war, denn wen die russische GPU erst in ihren Krallen hat, der entgeht ihr so leicht nicht mehr. Da hilft auch kein gutes Gewissen. Zwar hatte ich mir nichts vorzuwerfen, aber ich hatte ja keine Ahnung, welcher Art die Schlinge war, in welcher man mich zu fangen gedachte. Einen Augenblick kam mir der Gedanke mich nicht zu stellen oder zu verschwinden. Das wäre aber ein Eingeständnis der mir zugedachten Schuld gewesen und meine Tochter hätte es mit dem Rücktransport nach Rußland büßen müssen.

                      Da ich nicht wußte, ob ich nach der Vernehmung noch ein freier Mann sein würde, entledigte ich mich meines Geldes und aller übrigen verfänglichen Sachen und begab mich mit der Tochter in das allgemein gefürchtete Lokal, das sich in einem beschlagnahmten Gasthaus befand. Sehr einladende war der Empfang nicht. Vor dem Eingang stand ein Posten mit aufgepflanztem Bajonett. Nachdem ihm meine Tochter unser Begehren mitgeteilt hatte, rief er einem im Flur stehenden Soldaten etwas zu. Eine Weile mußten wir warten, dann ließ uns der Posten paßieren und ein Soldat führte uns in ein Zimmer.

                      Ein überlanger, tückisch drein schauender Kapitain musterte mich und forderte uns zum Setzen auf. Er selbst verließ darauf das Zimmer. Nach einer Weile erschien ein freundlich aussehender Oberleutnant. Es war derselbe, der meine Tochter verhört hatte. Sehr erstaunt war er, daß ich der Vorladung so schnell gefolgt war. Mein schnelles Erscheinen schien auf ihn einen günstigen Eindruck zu machen. Auf seine Frage nach meinen Personalien gab ich ihm meinen dreisprachigen Ausweis. Ihn interessierte besonders mein Geburtsort, den er sogar kannte, da er unweit Habelschwerdt liegt. Zunächst mußte ich eingehend erklären, wie und warum ich seiner Zeit nach Rußland gekommen war. Mit den Händen in den Hosentaschen und zum Fenster hinausschauend hörte er sich meinen Bericht an. Obwohl er, wie meine Tochter erfahren hatte, die deutsche Sprache verstand, gab er dies nicht zu erkennen. Er wollte wohl kontrollieren, ob meine Tochter richtig übersetzte, da ich nur deutsch sprach und seine voran gegangene Frage, ob ich russisch verstehe, mit nur „ganz wenig“ beantwortet hatte.

                      Nach meinen Erklärungen sagte er eine ganze Weile gar nichts, es herrschte ein unangenehmes, drückendes Schweigen. Darauf wandt er sich vom Fenster ab und begann mit der Anfertigung eines Protokolls. Ich hatte das Gefühl, daß er den Verdacht, ich sei ein Emigrant, fallen gelassen habe, da er sich davon überzeugt hatte, daß ich in Deutschland geboren war. Ich atmete erleichtert auf, sollte jedoch bald merken, daß dies noch verfrüht war.
                      Zuletzt geändert von Helen; 25.10.2013, 08:41. Grund: lag in lang geändert

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                      • Helen
                        Erfahrener Benutzer
                        • 04.02.2010
                        • 164

                        #41
                        „Sie waren in Sibirien – und warum?“ fragte er plötzlich. Nachdem ich ihm darüber Auskunft gegeben hatte, fragte er, wann und wie ich aus Sibirien wieder herausgekommen sei. Meine Tochter hatte mir schon Andeutungen gemacht, daß evtl. der Verdacht besteht, ich habe in einer weißen Armee gegen die Roten gekämpft. Eingedenk dessen erzählte ich ihm, daß ich aus Sibirien beim Herannahen einer weißen Armee geflohen sei, um nicht in deren Reihen gepreßt zu werden, daß ich mit der Bahn mit Hilfe einiger roten Matrosen nach Petersburg gefahren sei, dort aber nicht weiter konnte, weil die Deutschen im Gegensatz zu den Russen niemanden durch die Front ließen, daß ich in Petersburg 4 Monate warten mußte, bis die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk abgeschlossen wurden und ich als Invalide dann in die Heimat entlassen wurde. Daß ich durch Bestechung mir ein Zeugnis der Invalidität verschafft hatte, verschwieg ich wohlweißlich.

                        Bei dem von mir gebrauchten Wort „Friedensverhandlungen“ schrie er plötzlich ohne die Übersetzung abzuwarten: „Das waren keine Friedensverhandlungen, das war eine schmähliche Erpressung!“ Das war der Beweis, daß er deutsch verstand.

                        Nun wollte er wissen, vor welcher weißen Armee ich geflohen sei. Ich sagte, daß ich das nicht wisse, worauf er entgegnete, ich müsse doch wissen, ob es Koltschak, Denikin, Budjenni oder Wrangel gewesen sei. Ich hielt es für ratsam, mich unwissend zu stellen um keinerlei Interesse für die damaligen politischen Ereignisse zu verraten, obwohl ich wußte, daß es die Armee Koltschaks war und daß die Armee Wrangels nie in Sibirien war. Durch verschiedene Kreuz- und Querfragen stellte er darauf fest, wann ich aus Sibirien ausgereist war.

                        Obwohl ich ihm schriftliche Beweise vorlegen wollte, wann ich auf der Heimreise in Petersburg und Riga war und wann ich in Deutschland wieder eine Stelle angetreten hatte, sah er sich dieselben nicht an, was ich als übles Anzeichen deutete. Meiner Ansicht nach wollte er meine Rechtfertigungsbeweise nicht zur Kenntnis nehmen, ich sollte schuldig sein.

                        Wieder entstand eine lange Pause, die stark an den Nerven zehrte. Ohne etwas zu sagen oder etwas zu tun, saß er vor mir auf seinem Stuhl, nur ab und zu streifte mich ein schneller Blick. Ich sah und wußte, daß sich in seinem Hirn nun mein Geschick entschied, ahnte, daß dasselbe auf des Messers Schneide stand. In derartiger Situation war ich schon öfters gewesen und wie immer in solchen kritischen Momenten überfiel mich plötzlich ein Gefühl der Gleichgültigkeit und der Ruhe. Plötzlich stand er auf, faltete das angefangene Protokoll zusammen und sagte: „Gehen Sie jetzt wieder nach Haus und arbeiten Sie treu weiter. Halten Sie sich aber bereit, wir werden Sie wahrscheinlich noch einmal vernehmen.“ Damit gab er mir die Hand, und ich war entlassen.

                        Aus der Tatsache, daß er nach langem Überlegen das Protokoll nicht beendete schloß ich, daß er von meiner Unschuld überzeugt war und er es für unnötig hielt, einen schriftlichen Vorgang anzulegen. Erleichtert verließ ich das unheimliche Haus, nicht jeder Besucher dürfte, wenn überhaupt, mit dem gleichen Gefühl dasselbe hinter sich gelassen haben.

                        Ende Februar begann die große Aussiedlung im Kreise Glatz. Die davon Betroffenen mußten Haus und Hof oder ihr Geschäft bzw. ihre Wohnung innerhalb kürzester Frist verlassen, ohne mehr mitzunehmen, als sie tragen konnten. In Glatz wurden ganze Straßenzüge von den Deutschen völlig geräumt, die Bewohner ganzer Dörfer wurden weggeführt. Als erste kamen Rengersdorf, Ndr.- und Oberhannsdorf und Ullersdorf dran. Besitzer, deren Hof seit Jahrhunderten deren Eigentum der Familie war, mußten ihn innerhalb Stunden verlassen und den Polen überlassen, die schon lange die Herren darauf gespielt hatten, die nun selbst die Arbeit verrichten mußten, die sie bisher noch die jetzt Vertriebenen verrichten ließen. Wie würden wohl die Höfe in einigen Monaten aussehen? Wer würde die Felder bestellen, das Vieh sachgemäß pflegen? Die neuen Besitzer waren ja in den seltensten Fällen Landwirte. verkommene Existenzen aus den größeren Städten, meist aus Warschau, die hier ein Unterkommen und Parasitendasein gefunden hatten. Armes Schlesien, arme schöne Grafschaft Glatz!

                        Ich rechnete nicht damit, daß Schlesien polnisch wird, ich rechnete mit einem Kriege, dem Krieg gegen den Bolschewismus, der nach der Niederwerfung des Faschismus das Gebot der Stunde war, bevor sich Rußland von den Wunden des Krieges erholt habe und solange den Westmächte deutsche Soldaten zur Verfügung standen, die nach stets geübten Verfahren für sie bluten konnten. Und weil ich fest auf den kommenden Krieg baute und die Rückdrängung der Polen, entschloß ich mich, mit allen Mitteln zu versuchen, der Aussiedlung zu entgehen. Der Administrator erwirkte mir auch die Genehmigung zum Verbleiben, ebenso den auf dem Gute beschäftigten Arbeitern.

                        Am 27.2.46 mußten die Einwohner von Mügwitz ihren Elendsweg antreten. Herzzerreißend war der Anblick der armen Menschen, die ihren Hof oder ihr Häuschen im Stick lassen mußten, die weinend von ihren Tieren Abschied nahmen und mit einem elenden Bündel beladen in Schnee und Frost den Marsch nach Glatz zum Bahnhof antraten.

                        Um zu sehen, ob auch für Habelschwerdt die Umsiedlung bereits angeordnet sei, versuchte ich am nächsten Sonntag dorthin zu fahren. Als ich am Schalter eine Fahrkarte lösen wollte, verweigerte man mir dieselbe. „Für Deutsche gibt es keine Karten.“ wurde mir gesagt. Was also tun? Mehrmals hatte ich den Weg hin und zurück zu Fuß zurückgelegt. Das ging aber diesmal nicht, da ich schwer zu tragen hatte und die Wege verschneit waren.

                        Der Administrator hatte mich zur Bahn gebracht, war aber gleich weiter gefahren. Er mußte helfen aber wo mochte er sein? Ich vermutete, daß er in die Kirche gegangen sei. Also ging ich in die nächste Kirche und suchte ihn dort. Ich hatte Glück, unweit des Altars sah ich ihn tief versunkenknien, entweder betete er inbrünstig oder er sann, wie er am besten zu Zloti kommen könne.

                        Ich drängte mich mit meinen Paketen durch die frommen Spitzbuben bis zu ihm durch und bat ihn, mir eine Fahrkarte zu lösen, da man mir keine verabfolgte. Mit einem Kreuzzeichen schloß er seine Andacht sofort ab und kam mit mir zum Bahnhof, wo er mir eine Fahrkarte kaufte. Obwohl ich durch die weiße Armbinde als Deutscher kenntlich war, gelangte ich unangefochten auf den Bahnsteig, wo der Zug eben, sogar planmäßig einfuhr. Der Zug war wie stets überfüllt, doch gewahrte ich unter den Passagieren nur 3 Deutsche.

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                        • Helen
                          Erfahrener Benutzer
                          • 04.02.2010
                          • 164

                          #42
                          Habelschwerdt lebte in Erwartung der Anweisung, eine Anordnung war jedoch noch nicht ergangen. Meine Frau und Tochter hatten für alle Fälle ihre Bündel bereits gepackt. Da meine Frau kurz nach der bestandenen Operation noch recht schwach und schonungsbedürftig war und die Tochter die zwei kleinen Kinder zu betreuen hatte, konnten sie außer dem Eßbedarf nur noch wenig mitnehmen. Das bedeutete den Verlust der letzten, bis jetzt noch geretteten Gegenstände, bettelarm würden auch sie nun einer ungewissen Zukunft entgegen gehen, und wie würde meine Frau die strapaziöse Reise überstehen, das gab zu schwerer Besorgnis Anlaß.

                          Meine Tochter hatte sich an das Rote Kreuz mit der Bitte um Nachforschungen nach ihrem Mann und nach ihrem Bruder Klaus-Wolfgang gewandt. Eben hatte sie Nachricht erhalten, daß ihr Mann sich in amerikanischer Gefangenschaft befinde und hatte auch zufällig gleichzeitig von ihm selbst eine dementsprechende Nachricht erhalten. Weiter schrieb das Rote Kreuz, daß es wegen Klaus-Wolfgang in Sorge sei, da über ihn nichts in Erfahrung zu bringen sei.

                          Hieß das nun, daß ich auch meinen zweiten Sohn in diesem verfluchten Krieg verloren habe? Wohl hatte ich das Gefühl, daß er lebe, aber die Gefühle hatten mich ja bei Arwed furchtbar betrogen, zu fest war ich davon überzeugt, daß er gesund heimkehrt, und doch wurde er mir entrissen. Wohl glaubte meine Frau immer noch nicht an seinen Tod, ich aber konnte mich zu einem solchen Glauben nicht aufraffen, zu überzeugend sind die Beweise seines Untergangs. Sollte dennoch das Unwahrscheinliche eintreffen, und Arwed wiederkehren, dann könnte ich vielleicht den Glauben an einen Gott wiederfinden, der mir restlos verloren gegangen ist. Noch lebte ich in der Hoffnung, daß mir wenigstens der zweite Sohn erhalten geblieben sei. So manche Illusion habe ich zu Grabe getragen, meine Kinder aber wollte ich behalten, ohne sie hätte ja das Leben den Sinn verloren.

                          Gern hätte ich an irgend etwas gebetet: „Gib mir meine Kinder wieder“, aber wohin, zu wem sollte ich mich wenden? Gott? Wo ist Gott? Vorsehung? Was ist Vorsehung? Auch an sie glaubte ich nicht mehr, denn der Glaube an sie hatte mich schmählich im Stich gelassen.

                          Einige Tage später wurde auch der Kreis Habelschwerdt von der Aussiedlung erfaßt. Am 20.3. rief mich meine Tochter an und teilte mit, daß sie in den nächsten Tagen abreisen müssen. Am 22.3.46 besuchte ich sie nochmal, und dort faßte ich den Entschluß mich meiner Familie anzuschließen und Mügwitz doch zu verlassen.

                          Gefördert wurde dieser Entschluß durch das unhaltbare Verhältnis, das sich dort zwischen dem Administrator und mir herausgebildet hatte. Infolge seiner unsachgemäßen, dilettantischen Anordnungen, die ich nicht unwidersprochen auszuführen vermochte, war es zwischen uns mehrmals zu Zusammenstößen gekommen, die sich jedesmal steigerten und die schließlich einmal den Bruch herbeiführen mußten. Und so entschloß ich mich selbst noch rechtzeitig dies unerträgliche Verhältnis zu beenden. Dabei spielte auch der Gedanke eine Rolle, in eine Gegend des Reiches zu kommen, in der voraussichtlich mein Rentenanspruch anerkannt würde.

                          Am 26.3.46 verließ ich Mügwitz, wo ich 10 Monate recht und schlecht gelebt hatte und begab mich nach Habelschwerdt, wo ich mit Frau und Tochter den Befehl der Ausreise erwartete. In Habelschwerdt bestand eine kommunistische Ortsgruppe. Der Leiter war ein ehemaliger K.Z.-Insasse, einige Mitglieder hatten vor kurzem noch das Nazi-Parteiabzeichen getragen. Die Tätigkeit des Leiters und einiger seiner Mitarbeiter erstreckte sich in der Hauptsache darauf, in Not geratenen Einwohnern, sei es durch Übergriffe der Polen, Plünderungen oder Verbrauch der Existenzmittel zu helfen, sie zu beschützen oder zu beraten. Auch ehemaligen Pgs standen sie öfters bei, sie sahen in dieser Notzeit in ihnen zunächst den deutschen Volksgenossen. Da sie öfters Verhandlungen mit der russischen Kommandantur zu führen hatten, kamen sie fast täglich, auch mehrmals nachts zu meiner Tochter, um deren Dolmetscherdienste in Anspruch zu nehmen.

                          Der Leiter der KPD hatte eine Eingabe gemacht um zu erreichen, daß die Kommunisten und Sozialdemokraten mit ihren Familien in einem besonderen Sonderzug evakuiert würden. Bei diesem Zuge sollte die gefürchtete Kontrolle beim Besteigen desselben fortfallen, durch eine russische Begleitmannschaft sollte die Plünderung des Gepäcks durch die Polen verhindert werden, und endlich sollten mehr Sachen mitgenommen werden dürfen, als dies bei den gewöhnlichen Transporten der Fall war. Da die Dienste meiner Tochter unterwegs gebraucht werden würden, sollte sie mit ihren Angehörigen ebenfalls diesen Zug, den man den „Antifaschistenzug“, kurz „Antifazug“ nannte, benutzen. Die mit der Benutzung dieses Zuges verbundenen Vorteile bestachen, so daß auch ich gegen die Benutzung desselben nichts einwandte, nachdem ich mich vorsorglich erkundigt hatte, ob mir infolge der früheren Zugehörigkeit zum ihnen feindlichen Verein nicht während der Fahrt Schwierigkeiten erwachsen würden. Der Zug wurde auch genehmigt mit dem Ziel in die russische Zone, im Gegensatz zu allen anderen Transporten, die in die englische Zone geleitet wurden. Obwohl die Meinen und besonders ich viel lieber in der englischen Zone gelandet wären, nahmen wir dies mit in Kauf in der Hoffnung, doch irgendwie in die engl. Zone gelangen zu können.

                          Am 5.4.46 kamen zwei Polen zu uns und forderten uns auf, Habelschwerdt mit dem am Nachmittag abgehenden Transport zu verlassen, Gepäck dürfe nur mitgenommen werden, so viel man tragen könne. Wir weigerten uns zu fahren mit dem Hinweis, daß wir dem „Antifazug“ zugeteilt seien, was man auch gelten ließ. Da meine Tochter viel mit der russischen Kommandantur zu tun hatte, waren die Polen ihr gegenüber meist etwas vorsichtig, denn vor den Russen hatten sie gewaltigen Respekt.

                          Am 13.4. erhielten wir vom Landrat die schriftliche Mitteilung, daß wir vom Tragen der weißen Binde befreit seien. Der Kommunistenführer hatte dies für die Mitglieder seiner Partei und für uns beantragt. Obwohl ich diese Bevorzugung ihm ungern verdanke, bedeutete sie doch eine große Erleichterung, da man sich nun auf der Straße zeigen konnte ohne befürchten zu müssen, zu irgend einer Arbeit gepreßt zu werden, zu welcher sich das polnische Gesindel zu gut dünkte.

                          Die Zeit verfloß mit dem Warten auf unseren „Antifazug“, der alle paar Tage angekündigt wurde, aber nicht kam.

                          Einer der z.Z. in der Stadt ansäßigen Kommunisten war ein Schneidermeister, der nur für die russischen Offiziere arbeitete, namens Langer. Er war angeblich der Sohn eines Arztes, war bis 1933 kommunistischer Redner gewesen, war im K.Z. gelandet aus dem er von den Russen befreit wurde. Er hatte sich der Roten Armee angeschlossen und eine Zeitlang in ihr gekämpft. Dabei hatte er ein Flintenweib kennengelernt und es auch geheiratet. In Habelschwerdt war er hängengeblieben und hatte sich dort seinem gelernten Handwerk wieder zugewandt. Er kleidete sich wie ein Russe, wozu er sich eine Phantasieuniform erdacht und angefertigt hatte. Soweit ich ihn kennengelernt habe, war er ein stets hilfsbereiter Mensch und glühender Kommunist. Um von vornherein unsere gegenseitige Stellung zu klären, teilte ich ihm meine politische Einstellung mit, was aber sein Verhalten mir gegenüber nicht änderte. Meine Tochter hatte ihre Stellung aufgegeben und war bei ihm eingetreten, da seine Bezahlung eine viel bessere war und er sie in der Hauptsache ebenfalls als Dolmetscherin benutzte. Frau Langer beherrschte die russische Sprache nur mangelhaft, da sie aus Oberschlesien stammte.
                          --
                          Bald kommt der letzte Teil, der leider ohne Erklärung abrupt abbricht.
                          Zuletzt geändert von Helen; 26.10.2013, 21:35.

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                          • Helen
                            Erfahrener Benutzer
                            • 04.02.2010
                            • 164

                            #43
                            Am Samstag den 21.4. waren wir von Langer zu Tisch geladen worden. Es waren noch 3 Kommunisten mit ihren Familien anwesend, von denen er erfahren hatte, daß sie am Ende ihrer Mittel angelangt seien. Das Essen war ausgezeichnet, hatte wohl einige Tausend Zloti gekostet. Der reichlich genossene Schnaps löste bald ihre Zungen, kommunistische Lieder, besonders die Internationale wurden dauernd gesungen, fanatische, politische Reden gehalten, so daß ich mich in dieser Gesellschaft äußerst unbehaglich fühlte und einen Zusammenstoß befürchtete, der jedoch unterblieb. Die Internationale habe ich an diesem Tage so oft gehört, daß auch mir nun dieselbe geläufig ist.

                            In der Nacht vom 24. zum 25.4. paßierte eine tragikomische Sache. Durch das Klirren einer Fensterscheibe wurde ich aus dem Schlaf geweckt. Ich glaubte, unser Zimmernachbar, der polnische Prokurator habe in seinem Suff wieder einmal eine Scheibe eingeschlagen und die Möbel umgekippt. Gleich darauf aber hörten wir seine bei ihm zu Besuch weilende Nichte rufen, daß das Radio gestohlen sei. Nun wurde auch seine Stimme vernehmlich sowie ein Schuß, den er anscheinend zum Fenster hinaus abgab. Es stellte sich heraus, daß jemand durch das eingeschlagene Fenster gestiegen war, einen Tisch umgestoßen hatte und mit dem Radio-Apparat durch das Fenster wieder verschwunden war. Das Ganze war ein mit maßloser Frechheit ausgeführter Diebstahl, der nur infolge der Feigheit des Polen, der im Nebenzimmer weilte und das Klirren der Scheibe wohl hörte aber nicht wagte, die Ursache zu erforschen, ausführbar war.

                            Über den Täter war ich mir nicht im Zweifel und auch der Pole vermutete ganz richtig, aber gegen diesen Spitzbuben war er machtlos. Am Nachmittag vor der Tat war der russische Kommandant mit einem anderen Offizier in unserer Wohnung, um meine Tochter zur Hilfe bei einer Vernehmung zu bestellen. Das Gespräch kam auch auf den Polen, der in den Nebenzimmern, die mit den Sachen meiner Frau und Tochter ausgestattet waren, wohnte. Da beide angetrunken waren, besuchten sie den Prokurator, meine Tochter begleitete sie. Dort wurde weiter getrunken, wobei sie die Zimmer eingehend besichtigten und besonders Interesse für das Radio zeigten.

                            Für mich gab es keinen Zweifel drüber, daß die beiden Offiziere die Anstifter des Diebstahls waren, mußte aber einige Tage später erfahren, daß sie es selbst getan hatten. Sie hatten es meiner Tochter erzählt und ihr versprochen, ihr auch noch die Nähmaschine auf demselben Weg herauszuholen. Ich riet aber dringend davon ab, denn wenn der Pole auch gegen die Russen nichts unternehmen konnte, so konnte er uns doch die allerschlimmsten Schwierigkeiten bereiten.

                            Einen Stadtkommandanten, einen Offizier, der nachts in Wohnungen einsteigt und sich als Einbrecher betätigt, dürfte wohl man wohl nur in der russischen Armee finden.

                            In diesen Tagen tauchten in Habelschwerdt die ersten Juden auf, welche die Russen irgendwo im Süden Rußlands ausgewiesen und nach Schlesien geschafft hatten, sehr zum Ärger der Polen, denen dadurch eine unerwünschte Konkurrenz entstand. Die Juden wurden hier von den Russen in jeder Beziehung begünstigt, sodaß die Polen es nicht wagten, feindlich gegen sie aufzutreten. Nach und nach wuchs ihre Zahl auf 4000. Ihr Verhalten der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung gegenüber gab zu Klagen keinen Anlaß.

                            Am 2. Mai traf unerwartet ein Brief von Klaus-Wolfgang ein, der uns endlich von der Ungewißheit über sein Schicksal befreite. Er lebte in Stollberg im Erzgebirge, also in der russischen Zone, was uns damit aussöhnte, daß unser Zug nicht in die englische Zone geleitet werden sollte. Nun hatten wir doch die Aussicht, ihn wieder in unserem Kreise aufnehmen zu können. Der Ärger über die Verzögerung unseres Abtransportes wich der Genugtuung darüber, daß wir infoge dieser Verzögerung noch in den Besitz der Nachricht gelangt waren.

                            Das Leben wurde für uns Deutsche immer unerträglicher infolge der beständig sich verschlimmernden Schikanen der Polen. Ab 3. Mai war es uns verboten, nach 8 Uhr abends die Wohnung zu verlassen. Sonntags wurden nach Schluß des Gottesdienstes die Kirchgänger vor der Kirche abgefangen und zu irgend einer Arbeit geschickt, die besser Gekleideten mußten die Straßen kehren, andere holte man in Gasthöfe und polnische Haushaltungen um dort Dienstbotenarbeiten zu verrichten. Bezahlung gab es natürlich nicht. Deutschen Passanten wurden auf der Straße Schuhe, Mäntel oder Pelze ausgezogen, einem jungen Manne wurde die Militärmütze vom Kopfe gerissen, zerrissen und er dann gezwungen, die Fetzen wieder aufzusetzen. Der Sohn eines Baumeisters wurde versehentlich eingesperrt und grausam geschlagen bis man bemerkte, daß ein Irrtum vorlag.

                            Unserem Hause gegenüber befand sich das Gebäude der Miliz. Aus den Kellerräumen hörten wir oft die Schreie der dort Gefangenen, die bestialisch mißhandelt wurden. Meistens stellte man ein Radio ein, um die auf die Straße hallenden Schreie zu übertönen. Jeder unreife Bursche besaß ein gestohlenes Fahrrad, mit dem er grundsätzlich nur auf den Bürgersteigen fuhr und die Passanten auf die Straße zwang.

                            Auf dem Florianberg, einem als Promenade hergerichteten Berge jenseits der Neiße, unweit der Stadt, hatte man dem in Habelschwerdt geborenen Dichter Hermann Stehr eine würdige Grabstätte errichtet. Auf einer einfachen Holztafel waren Name, Geburts- und Sterbetag angegeben. Selbst vor dieser Grabstätte machte die Zerstörungswut der Polen nicht Halt. Ein Teil der auf ihr gepflanzten Rosen war ausgegraben und gestohlen worden. Die Gedenktafel war herausgerissen und zerschlagen, der noch vorhandene Rest sah so aus:

                            (s. Foto 1)

                            Bei meinen täglichen Spaziergängen setzte ich die immer wieder herausgerissene Tafel auf ihren Platz, dreimal lag sie hinter dem Grabe, das vierte Mal war sie ganz verschwunden.

                            Sonntags waren die Kirchen voller inbrünstiger Beter, die Gottes Segen für das Gelingen der Gaunereien in der kommenden Woche herabflehten. Und der Pfarrer predigte: „Nachdem uns endlich das Land unserer Urväter zugesprochen worden ist, werden wir es nie mehr aufgeben sondern zu verteidigen wissen.“

                            Junge Mädchen spazierten durch die Straßen auf Stöckelschuhen, das Gesicht bemalt, die Zigarette im Munde. Ihre Kleidung wurde täglich eleganter aber die Deutschen immer ärmlicher, denn sie mußten gar die besten Kleidungsstücke und zwar zu Schleuderpreisen verkaufen um ihr Leben zu fristen.

                            Hier endet sein Tagebuch.

                            Das Buch kaufte er bei der auf dem letzten Foto angegebenen Adresse..

                            Später erfuhr ich von seiner Tochter Margarete, meiner Mutter, die mit 101 Jahren starb, daß der Opa mit einem Koffer nach Friedland gekommen sei, dort aber unter den Bergen anderer Koffer seinen nicht wiederfand. Über das Rote Kreuz erfuhr er den Aufenthaltsort meiner Mutter, die 1945 zunächst mit dem Auto des Begleiters, von dem Opa schrieb und ihrer Freundin, beide mit einem Kind, in den Westen nach Ostwestfalen kam. Hier fand sie Unterkunft bei einer Bauernfamilie, in der sie Wäsche und Kleidung instandsetzte. Der Großvater fuhr noch einmal nach Friedland (erst nach Marienberg?), wo er seinen Koffer fand und mit ihm zurückkehrte. Ihre Schwester landete in Frankfurt, sie starb in hohem Alter und war bis zuletzt geistig sehr fit.
                            Zuletzt geändert von Helen; 12.08.2017, 16:56.

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                            • dorsch
                              Erfahrener Benutzer
                              • 24.12.2011
                              • 295

                              #44
                              Abschließender Dank

                              Liebe Helen,
                              noch einmal ganz herzlichen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, über so viele Seiten und auf 3 Unterforen verteilt die Lebensgeschichte deines Großvaters hier einzustellen und sie uns verfügbar zu machen. Ich vermisse die regelmäßigen Fortsetzungen richtig! Dein Großvater hat mit seinem 'Tagebuch' (und du mit dessen Veröffentlichung) einer sehr bewegten Zeit ein persönliches Gesicht gegeben, die sonst gern - wie alles, wenn es erstmal "Geschichte" geworden ist - auf die politischen 'Highlights' einzelner Schlagworte und Daten reduziert und damit für uns Nachgeborene mit wachsender zeitlicher Entfernung immer unanschaulicher wird. Ich glaube, uns allen, die wir hier mitgelesen haben, ist er im Laufe des Lesens ans Herz gewachsen und wir haben viel dabei gelernt. Irgendwie haben wir nach der letzten Folge alle aufgehört zu lesen und keiner hat mehr was gesagt, das war nicht richtig: Du hast da ein nicht unerhebliches Maß an Arbeit hineingesteckt, dafür möchte ich mich noch einmal ausdrücklich bei dir bedanken!
                              Ganz lieben Gruß
                              DorSch
                              „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

                              Suche nach FN Leidiger in Thüringen.

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                              • dorsch
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                                • 24.12.2011
                                • 295

                                #45


                                Ach, Mennooo ...*schmoll* ... jetzt hab ich den 'Danke!'-Smiley vergessen einzufügen und über 'Edit' krieg ich ihn nicht nachträglich rein. Na, dann eben auf diesem Weg!
                                „Krönung der Alten sind die Enkel und der Stolz der Kinder sind ihre Ahnen“ (Sprüche, Kap.17, Vers 6)

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